Der erste Pullover, an den ich mich erinnern kann, ist dunkelgrün. Die Farbe ist aber egal. Viel wichtiger war, was hintendrauf stand: Benetton. Ich war zwölf Jahre alt und wollte Markenklamotten tragen wie alle anderen auch. Aber im Gegensatz zu allen anderen konnten meine Eltern sie mir nicht kaufen: „Das können wir uns nicht leisten.“ Irgendwann habe ich nicht mehr gefragt. Der Wunsch aber blieb.
Die Autorin
Meine Freundin Lea trug fast ausschließlich Anziehsachen, in oder auf denen Namen standen, die als cool galten. Schuhe von Dr. Martens, Shirts von Benetton. Leas Vater war Arzt. Leas Mutter hatte wohl Mitleid mit mir, und so gingen wir irgendwann in diesen einen Laden in unserer Kleinstadt, in den ich mich sonst nie getraut hätte, und Leas Mutter kaufte ihr einen Pullover und mir den gleichen, in Dunkelgrün. Hintendrauf, über dem Po, stand Benetton. Ich war megastolz.
Am nächsten Tag trug ich meinen Lieblingspullover in der Schule und am übernächsten Tag auch. Dann musste ich in einer Schulstunde etwas an die Tafel schreiben, und während ich das tat, sagte mein Lieblingslehrer aus dem Off: „Oh, Mareice trägt jetzt also auch Markenklamotten.“ Es war mir so peinlich. Ich trug den Pullover nie wieder. Das Gefühl, nicht das zu haben, was die anderen haben, blieb. Aber genau das Gleiche wie die anderen, das wollte ich ab diesem Moment auch nicht mehr haben.
Ich lernte: Ein Mensch ist etwas wert, wenn er hart arbeitet
Was ich ebenfalls nicht haben wollte, waren die ständigen Diskussionen über Geld in meiner Familie. Stand eine Klassenfahrt an, war immer die Frage: Können wir uns das leisten? War das Auto kaputt, ging die Welt unter. Ich komme aus einer Arbeitendenfamilie, einer Familie, in der die Eltern Arbeiter:innen sind. Meine Eltern haben beide einen Volksschulabschluss, ähnlich dem heutigen Hauptschulabschluss. Mein Vater ist gelernter Koch und arbeitete die meiste Zeit meines Lebens als Lkw-Fahrer. Meine Mutter hatte lange keine Berufsausbildung, leistete viele Jahre unbezahlte Care-Arbeit und holte eine Ausbildung als Altenpflegerin später nach. Geld war das Streitthema meiner Familie, ist es bis heute. Arbeit war das Diskussionsthema. Und Sicherheit, Absicherung – in den Augen meines Vaters war das eine Festanstellung.
Ein Mensch ist dann etwas wert, wenn er hart arbeiten kann, lernte ich. Die augenzwinkernde Drohung meiner Eltern, wenn meine Brüder oder ich keinen Bock auf Schule hatten: „Dann geht ihr im Steinbruch arbeiten.“ Harte körperliche Arbeit als Abschreckung. Bildung als Ausweg. Aber nur bis zu einem bestimmten Bildungsgrad. Denn studieren sollte ich nicht: „Das können wir uns nicht leisten.“
Damit bin ich keine Ausnahme. Kinder aus Arbeitendenfamilien sollen es zwar immer besser haben als ihre Eltern. Aber gleichzeitig sind Arbeitendeneltern sehr bedacht darauf, dass ihre Kinder „was Ordentliches“ machen. Ordentlich im Sinn von Ausbildung, Arbeitsvertrag, Bausparvertrag, Hausbau. Sicherheit eben.
Ich laufe bis heute vor Sicherheit davon. Arbeitsverträge unterschreibe ich immer mit Bauchweh. Die Sicherheit meiner Eltern ist nicht meine. Meine Sicherheit ist Wissen. Meine Sicherheit ist Bildung. Meine Sicherheit ist Freiheit. Im besten Fall: Entscheidungsfreiheit. Ich will entscheiden, wie ich meine Zeit verbringe. Dafür brauche ich Geld. Das anzunehmen, den Gedanken und das Geld dafür, fällt mir bis heute schwer.
In meiner Familie gab es Liebe und Neid
Ich war die Erste aus meiner Familie, die aufs Gymnasium gehen wollte (und sollte – ich hatte eine Empfehlung dafür bekommen). Meine Mutter fragte: Muss das denn sein? Denn aus ihrer Perspektive reichte doch die Realschule, meine Brüder waren da schließlich auch. Ja, ich weiß, aus der Sicht von weißen privilegierten Eltern, für die gar nichts anderes infrage kommt, als ihre gut frisierten und angezogenen Pauls und Ellas aufs Gymnasium zu schicken, ist das unvorstellbar. Aber für meine Eltern hatte das Gymnasium fast schon etwas Bedrohliches. Es war eine andere Welt. Für mich auch, deshalb wollte ich unbedingt hin. Schließlich überredete meine Klassenlehrerin meine Mutter, mich aufs Gymnasium zu schicken.
Urlaub war Luxus, und Luxus konnten wir uns nicht leisten. Luxus war für die anderen.
Mareice Kaiser
Bei uns zu Hause gab es nur wenige Bücher, sie zogen erst ein, als einer meiner älteren Brüder einen Bibliotheksausweis bekam. Bei uns gab es Kartoffeln und Soße und Fleisch. Bei uns gab es Diskussionen über Geld, weil es nicht da war. Bei uns gab es Diskussionen über Politik, weil sie Auswirkungen auf unser Leben hatte. Bei uns gab es Liebe und Neid. Bei uns gab es Werte und Streit.
Die Sommer verbrachten wir draußen, im Garten, auf den Feldern und im Freibad. Urlaub als Familie, das gab es bei uns nicht. Urlaub war Luxus, und Luxus konnten wir uns nicht leisten. Luxus war für die anderen.
Auf dem Gymnasium angekommen, ging ich mit Kindern zur Schule, deren Eltern Ärzt:innen oder Lehrende waren. Sie fuhren mit dem Fahrrad zur Schule und spielten nachmittags Handball. Ich stand um kurz vor sechs auf, um den Bus zu erwischen, der zwei Mal am Tag von unserem Dorf zur Schule fuhr. Und nachmittags fuhr ich wieder mit dem Bus zurück. Abends fuhr kein Bus mehr, deshalb kamen für mich auch keine Nachmittagsaktivitäten in der Stadt infrage.
Seitdem ich schreiben konnte, wollte ich Journalistin werden. Im Schulpraktikum mit 16 schrieb ich Filmkritiken für das Jugendmagazin der Kleinstadt, in der ich zur Schule ging. Aber ohne Studium kein Journalismus, das war mein Dilemma. Nach vielen Tränen und Schreien in Kissen fand ich mich damit ab, eine Ausbildung zu machen. Dann wenigstens irgendwas mit Medien, ich wurde Mediengestalterin.
„Der Stallgeruch kann über Karriere entscheiden“, lautet die Überschrift einer Pressemitteilung des Vereins Charta der Vielfalt. Bei Stallgeruch denke ich an meinen Vater, der den Sommerurlaub seines Über-Vollzeitjobs auf dem Feld bei der Ernte verbrachte statt mit seinen Kindern im Urlaub. Der mehrmals am Tag duschte, weil er entweder nach Schweiß oder nach Stall roch.
Ich selbst habe immer gearbeitet. Im Bürobedarfsladen, im Schmuckladen, putzen im Krankenhaus, kellnern im Café, Pakete packen in der Fabrik, Obst und Gemüse im Bioladen einräumen, privilegierte Leute abkassieren. Damit ich mir unbezahlte Praktika im Journalismus leisten konnte. Über meine anderen Jobs sprach ich dort nicht, ich schämte mich für sie. Dafür, dass ich sie brauchte.
„Hast du deinen Harvard-Hoodie noch?“
Irgendwann bei einem Bewerbungsgespräch als Bildungsredakteurin – ich wusste mittlerweile, dass meine Herkunft auch ein Vorteil für meine Arbeit als Journalistin sein konnte – erzählte ich von meinem Zugang zu Bildung. Davon, dass ich immer gearbeitet und nie studiert hatte. Der Leiter des Ressorts konnte es erst nicht fassen, dann sagte er lachend zu seinem Kollegen: „Das ist ja ganz anders als bei uns Professoren-Söhnen!“ Den Job bekam eine andere, studierte Person.
Während einer Hospitanz bei einer großen Wochenzeitung sollte ich in der Redaktionskonferenz vorgestellt werden. Kurz vor der Konferenz lehnte sich der Ressortleiter über den Tisch zu mir: „Wo hast du noch mal studiert?“ „Nirgendwo“, antwortete ich. Seine Vorstellung meiner Person fiel dann recht kurz aus. Einige Tage später während einer Ressortkonferenz scherzte der Ressortleiter mit dem anderen Hospitanten über ihre Zeit in Harvard: „Hast du deinen Harvard-Hoodie noch?“
Geld ist weiterhin ein Tabuthema – vor allem, weil es so ungerecht verteilt ist.
Mareice Kaiser
Von 100 Kindern aus nichtakademischen Familien beginnen nur 27 ein Studium, obwohl doppelt so viele das Abitur bestehen. Von 100 Kindern von Akademiker:innen studieren dagegen 79. Ich habe nie studiert, hatte keinen Harvard-Hoodie und den Benetton-Pullover nur geschenkt bekommen. Stattdessen kenne ich mich mit Kontopfändungen, Arbeitnehmer:innen-Rechten und wirklichem Stallgeruch aus. Viele Entscheidungen konnte ich nicht treffen, meine soziale Herkunft hat die Entscheidungen getroffen. Meine Herkunft hat entschieden, ob ich mir ein Studium leisten konnte oder nicht. Meine Herkunft hat entschieden, welche Bücher ich las und ob überhaupt, welche Türen sich mir öffneten und welche mir verschlossen blieben. Meine Herkunft hat entschieden, welche Pullover ich tragen kann – und welche nicht.
Dass ich dieses Buch schreiben kann, hat auch mit Geld zu tun. Und mit dem Status, der aus Geld entsteht. Nicht nur aus Geld, aber auch. Und mit den Dingen, die mit Geld zu tun haben. Die richtigen Klamotten, die richtigen Codes, die richtige Sprache. Mit einem bestimmten Status hören Menschen zu. Und ihnen wird anders zugehört.
Ich kenne das aus meiner Arbeit als Autorin und Journalistin. Menschen, die wenig Geld und einen geringen sozialen Status haben, werden oft infrage gestellt. Menschen mit Geld und Status eher nicht. Ich kann dieses Buch schreiben, weil ich mittlerweile einen bestimmten Status habe. Mir wird zugehört, das ist ein großes Privileg. Und es ist unfair, dass es anderen Menschen nicht zuteilwird. Den Menschen, denen wir mehr zuhören sollten. Auch deshalb schreibe ich in diesem Buch nicht nur meine Geldgeschichte auf, sondern auch die von anderen Menschen, die mir ihre Geschichten erzählt haben. Und ich bin dankbar, dass sie es getan haben. Das ist nicht selbstverständlich, Geld ist weiterhin ein Tabuthema – vor allem, weil es so ungerecht verteilt ist und ein Gefühl so eine große Rolle spielt: Scham. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber sprechen, denn nur das hilft gegen die Scham.
Der Pullover, den meine Eltern mir mitgegeben haben, besteht aus Stolz und Würde. Genäht wurde er mit der Überzeugung, dass es Dinge gibt, die man mit Geld nicht kaufen und auch nicht bewerten kann. Dass der Pullover mir oft zu klein war und manchmal gekratzt hat, ist nicht der Fehler meiner Eltern. Es ist der Fehler eines Systems, das vor allem Pullover sieht und nicht die Menschen darin und ihre Möglichkeiten.
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus Mareice Kaisers Buch „Wie viel? – Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“, das im Oktober 2022 bei Rowohlt erschienen ist. Darin zeigt die Autorin, wie Geld Menschen prägt und was das für unsere Gesellschaft bedeutet.
Redaktion: Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger