Neulich habe ich meine Mutter gefragt, warum wir unseren Vater nicht begraben haben. Sie überlegte nicht lange. Sie sagte: „Ich wollte ihn bei mir haben.“ Das verstand ich sofort.
Ich bin froh, dass ich auf keinen Friedhof gehen muss, um die Urne mit der Asche meines Vaters zu besuchen. Sie ist an einem besseren Ort. Die Urne thront im Haus meiner Kindheit, vor dem Schlafzimmer meiner Eltern, auf einer kleinen, sandfarbenen Steinplatte. Meine Mutter benutzt sie als eine Art Deko-Objekt. Im Moment steht eine Salzlampe darauf.
Es ist nicht so, dass ich meinen Vater nicht geliebt habe oder ihn nicht vermissen würde. Aber ich konnte ihn keinem Friedhof übergeben. Es war einfach nicht das Richtige für mich. Dem Rest meiner Familie ging es offenbar ähnlich. Jedenfalls hatte niemand etwas dagegen, dass meine Mutter die Urne nach der Einäscherung mit nach Hause nahm.
In Deutschland darf man seine Toten eigentlich nicht behalten. Solange wir noch leben, können wir uns aussuchen, wo wir wohnen wollen. Doch nach dem Tod packt uns der deutsche Staat und rückt uns nicht wieder raus. In Deutschland herrscht Friedhofszwang. Wir dürfen unsere Verstorbenen nur an genau festgelegten Orten in der Erde vergraben, also einem Friedhof oder einem Friedwald. Wenn wir sie eingeäschert haben, dürfen wir sie auch ins Meer werfen lassen, in Urnen aus wasserlöslichem Material.
Bestattungsgesetze sind Ländersache. In Bremen, wo meine Familie nie gewohnt hat, dürfen Angehörige seit 2015 die Asche auch auf privaten Grundstücken verstreuen, in ihrem Garten zum Beispiel. Das Verfahren dafür ist ein bisschen kompliziert: Vorher müssen die Angehörigen – auf Bürokratisch heißen sie „Totenfürsorgeberechtigte“ – sich eine Genehmigung zum Verstreuen holen, und die Verstorbenen müssen vor ihrem Tod erklären, dass sie damit einverstanden sind. Überall in Deutschland, auch in Bremen, gilt aber weiter: Wir dürfen die Asche unserer Toten nicht zu Hause aufbewahren.
Wie man eine Urne schmuggelt
Mein Vater war ein ruhiger, freundlicher Mann, in dem ein Kampfgeist steckte, den er selten zeigte. Einmal hat die Gemeinde versucht, den Weg in den Wald in der Nähe unseres Hauses abzusperren. Ein Stück Wald, über das der Weg führte, war nämlich in Privatbesitz. Jeden Abend nahm mein Vater eine Säge und sagte: „Liebling, ich gehe jetzt zivilen Ungehorsam leisten.“ Dann sägte er die Absperrung nieder. Zwei Tage später war sie wieder da, diesmal verstärkt. Mein Vater sägte weiter. Irgendwann wurde es der Gemeinde zu blöd. Sie kaufte ein Stück Land von dem Privatbesitzer und legte einen neuen Zugang zum Wald an, der für alle offen war.
Ich glaube, mein Vater hätte es gut gefunden, dass wir den Staat mit seiner Asche ausgetrickst haben.
Wir mussten dafür in die Niederlande. Das Bestattungsgesetz ist dort wesentlich toleranter, die Holländer dürfen eingeäscherte Verwandte auch auf dem Kaminsims aufbewahren. Feuerbestattungen in den Niederlanden sind für Deutsche oft auch etwas günstiger als daheim. Es gibt deswegen einen Einäscherungstourismus.
Manche deutschen Bestatter:innen bieten an, die Feuerbestattung im Ausland zu organisieren, auch die Schweiz ist ein beliebtes Ziel. Sie bringen die Toten über die Grenze, die dafür ein letztes Mal Reisedokumente bekommen, nämlich einen Leichenpass. Wieder abholen müssen die Bestatter:innen die Asche aber nicht. Die ausländischen Krematorien dürfen die Asche auch an Angehörige aushändigen. Vorsorglich schreiben die deutschen Bestatter:innen auf ihren Internetseiten dazu, dass die Kund:innen eine Ordnungswidrigkeit begehen, wenn sie die Asche über die Grenze nach Deutschland bringen. Und dass es eventuell ein Bußgeld mit sich bringt, falls man dabei erwischt wird. Es klingt nicht so, als wollten sie es um jeden Preis verhindern.
Ich erinnere mich an den Tag der Einäscherung nur wie in Schnappschüssen. Die Tür zum steinernen Flachbau des Krematoriums, davor eine gestreifte Katze, die sich in aller Ruhe die Pfoten leckt. Drinnen der Sarg. Das helle Holz. Alle zucken zusammen, als das Fließband plötzlich anfährt. Wie schnell es den Sarg ins Feuer schiebt. Effizient.
Die Urne, die wir später bekommen, ist ein schwarzer Zylinder mit einem kleinen, runden Metalldeckel. Sie ist warm. Meine Mutter stellt sie im Auto vor sich auf den Boden. „Noch im Tod wärmt er mir die Füße“, sagt sie.
Als Teenager fuhren meine Freund:innen und ich über die Grenze, um was zum Kiffen zu kaufen. Jetzt bin ich mit meiner Familie statt mit Gras mit einer Urne unterwegs.
Im Nachhinein finde ich das lustig. Damals war es nur ein weiterer betäubter Tag, den wir irgendwie hinter uns bringen mussten. Trauer ist wie eine Schneedecke, die jedes andere Gefühl bedeckt.
Immer, wenn ich Holzlasur sehe, denke ich an meinen Vater
Der erste Tod, der mir persönlich wirklich etwas bedeutet hat, war der meines Hundes, ein Terrier mit schmutzig-weißem Fell wie ein Hochflor-Teppich. Als wir ihn eines Tages im Gartenteich fanden, leblos auf dem Wasser treibend, war ich noch ein Kind. Die Todesursache war unklar, eigentlich war er ein ausgezeichneter Schwimmer. Ich weinte sehr. Aber was Trauer wirklich bedeuten kann, wie sie sich in den Körper einnistet und für immer bleibt, unter den Schichten von Gewohnheit und Vergessen – das lernte ich erst, als mein Vater starb.
Eine Weile lang stand die Urne meines Vaters im Garten meiner Mutter an eben diesem Teich, in dem unser Hund umgekommen war. Bis der Mann, der ihre Fenster neu abdichtete, ihr erklärte, dass diese Urnen nicht wasserdicht sind. Seine Familie hatte das auf die harte Tour gelernt. Sie hatten die Asche eines Verwandten, der nach seinem Tod auf einem Feld verstreut werden wollte, aus der Urne löffeln müssen. Sie war feucht geworden.
Deswegen hat die Asche meines Vaters ihren Platz jetzt vor dem Schlafzimmer.
Es ist bis heute sehr schwer für mich zu begreifen, dass der Körper meines Vaters in dieser kleinen Dose steckt. Er hatte einen breiten Oberkörper, an den man sich anlehnen konnte wie an einen Fels. Aller Frieden dieser Welt war dort für mich zu spüren.
Ich habe keine Kinder, aber wenn ich mit Eltern in meinem Alter rede, fällt mir auf, dass es ihnen sehr wichtig ist, ihren Söhnen und Töchtern zu sagen, dass sie geliebt werden. Ich habe keine Sekunde meines Lebens daran gezweifelt, dass mein Vater mich liebt. Aber „Ich liebe dich“ hat er nie gesagt. Er hat es mir stattdessen gezeigt, wieder und wieder.
Als mein erster Freund mein Herz brach, saß mein Vater stumm mit mir am Küchentisch, während ich weinte. Irgendwann stand er auf und murmelte: „Den bringe ich um.“ Dann ging er in die Garage. Ich machte mir ein bisschen Sorgen und ging hinterher. Aber er lasierte bloß grimmig einen Tisch. Das machte er oft. Meine Mutter hat einen Beistelltisch-Fetisch. Immer, wenn ich Holzlasur sehe, denke ich an meinen Vater.
Ein andermal, ich heulte schon wieder, diesmal wegen Uni-Stress, sagte ich mit erstickter Stimme: „Ich möchte doch, dass du stolz auf mich bist.“ Er lächelte, als hätte ich mir gewünscht, dass die Sonne warm ist, und sagte: „Ich bin immer stolz auf dich.“
Mein Vater hat sehr stark beeinflusst, wie ich Liebe von Männern verstehe. Wenn ein Mann „Ich liebe dich“ sagt, sind das für mich erst mal nur Worte. Ich muss Taten sehen. Das war für meine Partner oft schwierig zu verstehen. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass Liebe auszusprechen auch mutig sein kann, und wertvoll.
Wir müssen nicht höflich mit unserem Schmerz sein
Der deutsche Friedhofszwang mag wie eine bürokratische Schikane klingen. Dahinter steckt aber mindestens eine gute Idee: Kein einzelner Mensch kann die sterblichen Überreste eines anderen für sich beanspruchen. Man kann natürlich fragen, warum das irgendjemand wollen sollte. Aber angenommen, ich würde mich nicht so gut mit meiner Mutter verstehen: Wie könnte ich der Urne meines Vaters nahe sein? Wenn Tote an öffentlichen Plätzen begraben werden, kann jede:r sie besuchen.
Der Tod meines Vaters hat verändert, wie ich übers Sterben denke. Als ich noch in der Schule war, erlitt der Vater einer Freundin eines Morgens einen Herzinfarkt und starb noch im Bett. Wir haben nie darüber geredet. Ich war auf der Beerdigung und warf eine weiße Rose ins Grab. Ich sah, wie blass sie in den Monaten danach war, dass ihr die Haare ausfielen. Wenn sie weinte, nahm ich sie in den Arm. Aber Worte fand ich keine.
Mittlerweile glaube ich: Wenn jemand stirbt, den man liebt, sind die einfachsten Worte die richtigen. Auf einmal ist der Tod konkret, nicht dieses unbegreifliche Schicksal, das irgendwann jeden trifft. Da helfen keine Floskeln, man muss das Unaussprechliche aussprechen und klar benennen.
Neulich war ein Bekannter bei uns, dessen Frau an Krebs gestorben war. Ich sagte nicht: „Es tut mir leid, was für ein schlimmer Verlust.“ Ich sagte: „Warst du dabei, als sie gestorben ist? Wie ging es ihr? Hast du danach ein Foto von ihr gemacht? Kann ich es sehen?“
Ich wollte ihm zeigen, dass er nicht höflich mit seinem Schmerz sein musste, dass ich ihn sehen wollte. Mein Mann, der noch keine Erfahrung mit dem Tod geliebter Menschen hat, wurde blass. Unser Bekannter aber lächelte, holte sein Smartphone heraus und zeigte mir das Foto seiner toten Frau.
Warum wir einen Kuchen beerdigt haben
Jeder, dem etwas Schlimmes passiert, macht die Erfahrung, wie unbegreiflich es ist, dass die Welt einfach glatt weiterläuft. Wie ein Uhrwerk, in dem die Tragödie des Einzelnen weniger bedeutet als der Staub zwischen den Rädchen. Deswegen schaffen alle Gesellschaften Rituale für den Tod. Wir wollen das Ereignis herausstellen, der Welt zeigen, dass es eben doch bedeutsam ist.
Ich wünschte, es hätte ein Ritual gegeben, an dem ich für meinen Vater hätte teilnehmen wollen. Leider sind Rituale in der Gegend, aus der ich komme, meistens an Religionen gebunden. Mit Sicherheit hätte es mir nichts gegeben, die Urne meines Vaters in die Erde des Friedhofs neben der Kirche im Dorf nebenan zu versenken. Ich war noch nie in dieser Kirche. Wieso sollte ich ihr so etwas Wichtiges anvertrauen?
Für meinen Vater gab es kein öffentliches Ritual, keine Beerdigung und keinen Leichenschmaus. Aber ohne uns wirklich dessen bewusst zu sein, was wir da taten, hat meine Familie sich kleine, private Rituale geschaffen. Ein Beispiel: Mein Vater aß gerne die schwedische Mandeltorte, die man bei Ikea kaufen kann. Zwei Tage vor seinem Tod war er im Haus meiner Mutter zusammengebrochen, bald danach fuhren Notärzte ihn ins Krankenhaus. Er kehrte nie mehr nach Hause zurück. Als schreckliches Symbol seiner Abwesenheit lag im Kühlschrank auf einem Teller ein Stück Mandeltorte, das für ihn bestimmt gewesen war. Niemand wollte es essen. Stattdessen nahmen meine Geschwister und ich es aus dem Kühlschrank und begruben es im Wald.
Einen Kuchen beerdigen mag seltsam klingen, aber diese Idee war gar nicht dumm, wie ich später erfuhr. Die beiden Forscher:innen Michael I. Norton und Francesca Gino von der Harvard Business School haben nämlich herausgefunden, dass Menschen, die extreme Verluste erleben, ihre Trauer besser bewältigen, wenn sie sich private Rituale schaffen. Rituale, meinen sie, geben Trauernden das Gefühl, Kontrolle über ihr Leben zu haben. Das ergibt für mich Sinn. Als mein Vater starb, war das für mich wie eine Atombombe. Sein Tod riss alles weg. Ich brauchte jedes bisschen Halt, das ich kriegen konnte.
Es gibt für meinen Vater bis heute kein Grab, auf das wir Blumen legen können. Aber jedes Jahr treffen meine Geschwister, meine Mutter und ich uns am Jahrestag seines Todes zu einem Video-Call und essen Kuchen. Nur Ikea-Torte war es bisher nie.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert