Wenn ich aus dem Fenster meines Schlafzimmers schaue, sehe ich das Dock 11 des Hamburger Hafens. Morgens hüllt das rote Licht der aufgehenden Sonne das ganze Industriegebiet ein: Kräne, Container, Windräder, die Rauchwolken aus den Schornsteinen, das dauernde Hin und Her der Waren. Zwischen mir und diesen wimmelnden Metallbergen fließt die Elbe, links glänzt die Elbphilharmonie, rechts die roten Backsteine des alten Fischmarktgebäudes. Ich liebe diesen Blick und bin dankbar, hier wohnen zu können. Aber dieses Privileg zahle ich zum Teil mit meiner Gesundheit.
Der Hafen und die vorbeifahrenden Schiffe pusten rund um die Uhr eine hohe Konzentration an Schadstoffen in die Luft. Eine Messung des Naturschutzbunds ergab hier vor ein paar Jahren 230.000 Partikel pro Kubikzentimeter Luft. Die atme ich. Zur hohen Luftverschmutzung trägt auch der Autoverkehr bei, für LKW ist die Hafenstraße eine zentrale Route. Und zur Luftverschmutzung kommt noch Lärmbelästigung hinzu. Um diesen Text zu schreiben, halte ich die Fenster geschlossen: Ich kann mich sonst nicht konzentrieren, obwohl ich oben im dritten Stock wohne. Schlafen mit offenen Fenstern geht auch nicht, egal wie warm die Nacht ist.
Ich fühle mich so wohl in meiner Wohngemeinschaft, dass ich nicht umziehen würde. Mit den Jahren habe ich aber festgestellt, dass mir solche Bedingungen nicht guttun. Ich bin mir also nicht sicher: Wären mir vor meinem Einzug die negativen Folgen dieser Wohnung für meine Gesundheit bewusst gewesen, würde ich trotzdem hier wohnen?
Jedem Menschen in diesem Land eine „gesunde Wohnung” zu sichern – dieses Ziel hatte schon die Weimarer Republik 1919 in ihrer Verfassung verankert, in Artikel 155. Ein Jahrhundert später merken wir durch Pandemie, Lockdown und Homeoffice immer deutlicher, wie wichtig das Zuhause für die eigene Gesundheit ist, körperlich und psychisch. Aber wie sieht es denn aus, ein gesundes Zuhause?
Ich habe über die Wohnverhältnisse recherchiert, die am meisten die Gesundheit der Einwohner:innen beeinflussen. Von der Wohnlage bis zur Bausubstanz des Gebäudes: In diesem Text erfährst du, worauf man achten sollte, um gesund zu wohnen.
Lärm kann wirklich krank machen
Wohnbedingungen lassen sich grob in interne und externe aufteilen. Erstere beziehen sich auf die Eigenschaften der Wohneinheit, letztere haben mit ihrer Umgebung zu tun. Ich habe mich mit Frank Eckardt unterhalten, der Sozialwissenschaften und Stadtforschung an der Universität Weimar lehrt. 2021 hat er zusammen mit seiner Kollegin Sabine Meier das „Handbuch Wohnsoziologie“ veröffentlicht. „Die wichtigste Frage ist, wie Menschen gut zusammenleben können“, sagt er. „Das Wohnumfeld zählt dabei zu den wichtigsten Faktoren“.
Seit seine Söhne ausgezogen sind, wohnt Eckardt in seiner Wohnung in Kassel allein, zwei Zimmer stehen leer. Die Wohnung sei für ihn viel zu groß, ausziehen würde er wegen der Lage aber nie. „Ich wohne zentral, in einer ruhigen Straße und vor allem in der Nähe eines großen Parks“. Während der Lockdown-Zeit sei er täglich dorthin spaziert, das habe ihm gutgetan, sagt Eckardt.
Das geht nicht nur ihm so: „Aktivitäten im Grünen verbessern das Selbstwertgefühl und die psychische Gemütslage“, schreibt das Umweltbundesamt in einem Forschungsplan zur Umweltgerechtigkeit im städtischen Raum. Die Erholungswirkung kann von Lärmbelästigungen geschwächt werden, wenn die grüne Fläche sich neben lauten Straßen befindet. Lärm kann schwerere Gesundheitsprobleme verursachen. Tinnitus, Schlafstörungen bis hin zu Herzkrankheiten und Schlaganfällen zählt die Weltgesundheitsorganisation in den Umgebungslärmrichtlinien für die europäische Region auf.
Dort, wo es am lautesten ist, ist es oft auch am schmutzigsten, zumindest was die Luft angeht. Wohngebiete nahe an Flughäfen, Autobahnen und Hauptstraßen sind bekanntlich Problemlagen. Vor allem, weil Verbrennungsmotoren das giftige Gas Stickstoffdioxid produzieren. Und Luftverschmutzung kann tödlich sein: In manchen europäischen Regionen sterben deswegen über Hundert Menschen pro 100.000 Einwohner:innen jedes Jahr. Das berichtet die WHO in ihrem Report zur Gesundheitslage in Europa für 2021. Im selben Jahr veröffentlicht die Organisation neue Leitlinien dazu: Der Grenzwert für Stickstoffdioxid wird von 40 Mikrogramm auf 10 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel abgesenkt. Weit davon entfernt ist leider mein Wohngebiet: An einem gewöhnlichen Arbeitstag zeichnet das Messgerät der Stadt Hamburg am Hafen Werte von knapp unter 20 Mikrogramm bis zu über 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft auf.
Wer arm ist, hat es oft weit bis zum nächsten Park
Um gesund zu wohnen, braucht man auch Zeit. Die Zeit, um sein eigenes Zuhause zu genießen. „Die Wohnung verliert sonst den regenerierenden Effekt der privaten Sphäre“, sagt Frank Eckardt. „Man macht es sich schön, man soll das auch genießen können.“ Dem Soziologen zufolge sind lange alltägliche Wege zu vermeiden, da sie unser Wohlgefühl zuhause einschränken. Wer zum Beispiel eine Stunde bis zum Arbeitsplatz oder zur Schule der Kinder fährt, hat nicht genug Zeit, um sich in den eigenen vier Wänden entspannen zu können.
Zur Arbeit muss man fahren, das hat oft nicht viel mit Lust zu tun. Was ist aber mit den Orten, an die man möchte? Eine gesunde Wohnumgebung solle den Bewohner:innen zum Beispiel auch die Möglichkeit bieten, ins Kino und ins Fitnessstudio zu gehen, sowie Bücher in einer Stadtbibliothek ausleihen zu können, meint Eckardt. Wenn das Freizeitangebot fehlt und das Viertel mit den anderen Stadtteilen nicht gut verbunden ist, heißt das in der Soziologiesprache „residentielle Segregation“.
„Die Wohnbelastungen sind sozial ungleich verteilt“, sagt Eckardt. Menschen mit einem niedrigen Einkommen können sich in der Regel nicht wirklich aussuchen, wo sie wohnen. Umgekehrt entscheidet die Höhe der Mietpreise für sie, wo sie leben können. „Sie landen meistens in Wohngegend am Stadtrand, wo mehrere Belastungen zusammenkommen und einander verstärken“, sagt Eckardt. Wenn eine Person zum Beispiel in der Nähe einer Autobahn wohnt, fährt sie wahrscheinlich mehrere Kilometer bis zum nächsten Park.
Sag mir, wo du wohnst und ich sage dir, wie alt du wirst
Südlich der Elbe stellt der Hamburger Stadtteil Veddel ein perfektes Beispiel für diese Ungerechtigkeit dar. Mit ihrer Fläche von knapp fünf Quadratkilometern ist die Veddel das kleinste Viertel der Hansestadt. Um sich auszubreiten, hat sie wohl keinen Platz mehr: Auf der einen Seite wird sie begrenzt durch die Lagerfläche des Hafens, auf der anderen durch ein Industriegebiet, wo unter anderem das Riesenunternehmen Aurubis seinen Hauptsitz hat, das Kupferprodukte herstellt. Von oben drückt die Neue Elbbrücke, auf der die Autobahn A255 fährt, drumherum ist Wasser. Der nächste Park liegt etwa fünf Kilometer weit entfernt.
Da die Veddel aus drei einzelnen Inselgebieten besteht, kommen die Einwohner:innen mit dem Fahrrad nicht so einfach aus dem Viertel heraus. Selbstverständlich besitzen nicht alle ein Auto. Öffentliche Verkehrsmittel sind wegen der hohen Preise keine gute Lösung für die Menschen in dem armen Wohngebiet. Im Vergleich mit den anderen Hamburger Stadtteilen sind die Leute auf der Veddel also weniger mobil. Was unterscheidet sie noch von den anderen Hamburger:innen? Sie leben kürzer.
Reichen neun Quadratmeter zum Wohnen?
Durch eine Berechnung der Routinedaten der AOK-Krankenkasse werden die Einwohner:innen auf der Veddel im Durchschnitt bis zu 72 Jahre alt. In wohlhabenderen Hamburger Stadtteilen ist die Lebenserwartung deutlich höher: In Poppenbüttel leben die AOK-Versicherten im Durchschnitt am längsten, bis zu 87 Jahre. Dieselbe Stadt, zwei unterschiedliche Viertel, fünfzehn Jahre länger leben oder früher sterben. Die Veddel im Vergleich zu Poppenbüttel ist ein Extrembeispiel, das aber gut das Problem illustriert. Der Arzt Jonas Fiedler sagt es so: „Das ist ein Skandal.“ Er arbeitet in der „Poliklinik Veddel“, einem Gesundheitszentrum, das Teil der bundesweiten politischen Bewegung „Poliklinik Syndikat“ ist.
Die „Poliklinik“ setzt sich für die Gesundheitsversorgung benachteiligter Gebiete ein. Das Zentrum in Veddel versorgt jährlich etwa 2500 Menschen, die Hälfte der dortigen Bevölkerung. Seit Jahren beschäftigt Fiedler sich mit dem Einfluss von Wohnverhältnissen auf die Gesundheit. Anfang 2022 hat er zusammen mit seinen Kolleg:innen ein Forschungsprojekt auf der Veddel dazu gestartet.
„Wie viel Platz haben wir zum Wohnen?“, lautet die erste Frage in Fiedlers Recherche. Genug Wohnraum sei Mangelware in dem Bezirk, erzählt er mir: „Hier wohnen viele Familien mit mehreren Kindern, aber es gibt für sie nicht genug zugängliche Wohnungen mit ausreichend vielen Zimmern”. Das beeinträchtigt ihre Gesundheit, die Corona-Pandemie hat das deutlich gezeigt.
Wegen der hohen Corona-Inzidenz ist die Veddel oft in den Schlagzeilen aufgetaucht: „Natürlich stecken sich die Leute hier einfacher ein, wenn sie keinen richtigen Rückzugsort haben“, sagt Fiedler. Aber bei der Wohnraumgröße geht es nicht nur um körperliche Gesundheit: „Zu wenige Quadratmeter zur Verfügung zu haben, verursacht Stress und kann auch zu Depressionen führen“, sagt Fiedler. Überbelegte Wohnungen sind aber keine besondere Eigenschaft der Veddel: 2020 lebten achteinhalb Millionen Menschen bundesweit in überbelegten Wohnungen, errechnete das Statistische Bundesamt.
Wenn es in einer Wohnung nicht für jede erwachsene Person ein Zimmer gibt, zählt die Wohnung in Deutschland offiziell als überbelegt. Aber wie groß sollten die einzelnen Räume sein? Das ist erstmal eine kulturelle Frage. In Hongkong gilt ein zwölf Quadratmeter-Zimmer als groß, in Berlin als klein. Aber es ist hierzulande auch eine rechtliche Frage. Wohnungen dürfen einer Hausgemeinschaft gar nicht vermietet werden, wenn sie als zu klein gelten.
In jedem Bundesland bestimmt ein eigenes Gesetz die minimale Größe der Wohnfläche, die erlaubt ist. In Hamburg muss jeder Person eine Wohnfläche von mindestens zehn Quadratmetern zur Verfügung stehen, in Berlin sind es neun. Natürlich könnte man auch in einem sieben Quadratmeter großen Raum wohnen. Ob man darin psychisch gesund bleibt, ist aber fragwürdig.
Schimmel macht depressiv
Ein ganz anderes Forschungskapitel schreibt Fiedler mit seinen Kolleg:innen zur Bausubstanz der Wohngebäude. Bei älteren Gebäuden sei zu beachten, mit welchen Rohren sie ausgestattet sind, sagt er: „Oft gibt es noch Bleirohre. Sie können Bleivergiftungen verursachen, also Bluterkrankungen“. Die Isolierung ist bei Altbauten auch ein wichtiges Thema, dessen Relevanz zusammen mit den Energiepreisen steigt. Schlechte isolierte Wohnungen verlieren schnell Wärme, und die Heizkosten werden für manche belastend bis nicht mehr bezahlbar werden.
Das führt zu folgenden Szenario: Die Wohnung wird kalt, man heizt nicht, sondern deckt sich so gut wie möglich zu und macht die Fenster nie auf. „Das hat einen unmittelbaren Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, von Bluthochdruck bis zur Herzmuskelentzündung“, sagt Fiedler. Noch ein zusätzliches Problem kann dazu kommen: Wenn schlechte Belüftung auf Feuchtigkeit trifft, schimmeln die Wände. Medizinisch gelesen kann Schimmel zu Atemwegserkrankungen führen. Aber nicht nur.
Laut einer internationalen Studie aus dem American Journal of Public Health kann Schimmel ein direkter Auslöser für Depressionen sein. Dabei sei ein entscheidender Faktor die wahrgenommene Kontrolle über das eigene Zuhause: „Personen mit hohen Wohnbedürfnissen, die aber kaum Kontrolle über die Erfüllung dieser Bedürfnisse haben, sind einem erhöhten Risiko für Angstzustände und Depressionen ausgesetzt“, heißt es in der Veröffentlichung. Wer gefährdet ist, psychisch zu erkranken, kann also oft die eigene Wohnsituation kaum bestimmen.
Bei mir gibt es keinen Schimmel und die Wohnung gehört einer Genossenschaft, bei der ich Mitglied bin. Das heißt, ich kann mitentscheiden, wie die Räume verwaltet werden. Doch ich atme Luft voller Smog und Partikel, und der ständige Außenlärm entnervt mich. Wenn ich könnte, würde ich mit meiner WG weiter westlich ans Elbufer ziehen, wo nur Fahrräder vor der Tür fahren, jedes Haus einen kleinen Garten hat und wir alle 90 werden. Leisten können wir uns das nicht. Um gesund zu wohnen, sollten wir uns also auch fragen: Inwieweit kann ich über mein Zuhause entscheiden?
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert