Leserin Barbara (Name geändert) fragt: Ich liebe es zu verreisen und tue es so oft wie möglich, auch wenn ich ein recht beschränktes Budget dafür habe. Seit drei Jahren verzichte ich möglichst aufs Fliegen, fahre Bus, Bahn etc. Und wenn ich doch fliege (drei Flüge in drei Jahren bisher), nehme ich keine Billigfluglinien. Denn für dreißig Euro auf die Kanaren, das finde ich nicht okay und das buche ich nicht. Ich fliege auch grundsätzlich nicht innerhalb von Deutschland oder mit Umsteigeverbindungen ins Ausland.
Nun meine Frage: Ein Freund ist Pilot und er hat mich eingeladen, mit ihm in die USA zu reisen. Ich würde also mit ihm mitfliegen und kann mit ihm im Hotel wohnen. Eine wahnsinnig tolle Gelegenheit, für wenig Geld so viel sehen! Vor einigen Jahren haben wir das schon einmal gemacht und ich fand es wunderschön. Doch die Zeiten haben sich geändert, ich denke anders übers Fliegen, hab bei dem Angebot trotzdem sofort gedacht: „Hurra, nix wie hin!“ Aber: Darf man das?
Gabriel antwortet: Liebe Barbara, dein Freund hat dir ein klassisches unmoralisches Angebot gemacht. Das stürzt dich verständlicherweise in ein Dilemma: Eine teure USA-Flugreise geschenkt zu bekommen, wer wollte bei diesem Angebot einfach Nein sagen?! Die leichte Verfügbarkeit, die Gelegenheit – du müsstest nur zugreifen. Wäre es nicht dumm, das auszuschlagen? Andererseits: Der Planet brennt. Der Klimawandel ist real. Darf man also zusagen?
Fragen wie diese wälzen sich wie Lava durch die Gesellschaft, quer durch Freundeskreise und Familien. Ich kenne ein Paar, da fliegt die Partnerin mit dem einen Kind in den Urlaub und ihr Partner fährt mit dem anderen im Zug hinterher. Für ihn kommen Flüge nur noch im absoluten Ausnahmefall in Frage. Für sie ist die Anreise im Zug ein vermeidbarer Stressor. Sie arbeitet hart, der gemeinsame Urlaub mit der ganzen Patchworkfamilie passiert selten genug – diese wertvolle Zeit will sie nicht im Zug verbringen.
Es geht um deinen moralischen Horizont: Wem fühlst du dich verpflichtet?
Ich kann jeden Menschen verstehen, der sagt: Das Leben ist kurz, ich will die freie Zeit, die mir gegeben ist, genießen. Und Fernreisen gehören für viele zu einem genussvollen Leben dazu.
Ich kann jeden Menschen verstehen, der sagt: Es ist moralisch geboten, nicht alles zu tun, was man tun kann, nur weil es einem Spaß macht. Eine Welt, in der alle so handelten, wäre die Hölle auf Erden.
Tatsächlich haben wir die Hölle auf Erden schon. Sie ist nur nicht überall. Es ist ein existenzieller Zufall, in einem Land geboren worden zu sein, aus dem viele aus Spaß jederzeit fast überallhin fliegen können, während Menschen anderswo vor den Umweltkatastrophen fliehen müssen, die solche Akte der Lebensfreude ausgelöst haben.
Das moderne Leben ist eine Zumutung: Wir haben so viel Freiheit wie nie – und müssen uns ständig entscheiden. Ich helfe dir dabei. Egal, ob das kleine Dilemma oder die ganz große Frage: Schreib mir eine E-Mail an: die-bessere-Frage@krautreporter.de! In meiner Kolumne nehme ich die verschiedenen Seiten deines Problems in den Blick. Und wie es sich für einen Autor mit einem Philosophie-Doktor gehört, gilt für meine neue Kolumne wie so oft im Leben: Die beste Antwort ist eine bessere Frage!
Die Frage, um die es hier geht, ist die deines moralischen Horizonts: Wem fühlst du dich verpflichtet, wenn du entscheidest, was du tust? Nur dir selbst? Deiner Familie? Deinen Landsleuten? Oder dem Schicksal aller Menschen, überall auf dem Planeten?
Leugnen ist zwar schäbig, aber verständlich
Eine Möglichkeit, sich sehr leicht deines Dilemmas zu entledigen, wäre: leugnen. Würdest du einfach leugnen, mit einem (Gratis-)Flug überhaupt etwas zur Klimakatastrophe beizutragen, müsstest du in deinem Leben nichts ändern. Du könntest easy-peasy nach Amerika fliegen und müsstest nicht mal ein schlechtes Gewissen haben.
Die Leugnung einer gut belegten Tatsache ist zwar erkenntnistheoretisch schäbig, aber verständlich. Viel schwieriger wird es, wenn man Tatsachen nicht leugnet und daher weiß, was das Richtige zu tun wäre, es aber nicht tun mag, weil es unattraktiv ist. Und zuhause zu bleiben, obwohl man gratis in die USA fliegen könnte, erscheint mir tatsächlich auch sehr unattraktiv.
An dieser Stelle lauert die CO2-Kompensation, die moderne Form einer jahrhundertealten Praxis, die die Menschheit schon als Ablasshandel kennt. Die CO2-Kompensation kommt wie die hart ersehnte Lösung deines Dilemmas daher, scheint sie die Flugreise doch moralisch wieder möglich zu machen.
Vergiss die CO2-Kompensation, sie führt dich nicht aus dem Dilemma
Aber das tut sie nicht. Egal, ob du dich entscheidest, via Spende Bäume zu pflanzen (funktioniert nicht, um das entstandene CO2 aufzufangen) oder in die Anschaffung von Kochöfen in Weltgegenden zu investieren, in denen noch mit der klimaschädlichen Verbrennung von Holz gekocht wird. Diese Form der CO2-Kompensation ist so pragmatisch wie unappetitlich. Denn de facto verschenkst du einen Herd an eine Familie in Nigeria oder Lesotho, damit sie aufhört, genau so viel CO2 durch die Verbrennung von Holz freizusetzen, wie du es mit deinem Flug nach Amerika tust.
Wenn du die unleugbaren kolonialistischen Untertöne dieser Strategie überhörst, könntest du dir einreden, dass eine Welt, in der du fliegst und kompensierst, eine bessere ist als eine, in der du nur fliegst. Doch diese Logik ist eine dreckige. Denn es wird so lange geflogen werden, wie Leute fliegen wollen und es bezahlen können.
Eingangs schrieb ich: Dein Freund hat dir ein klassisches unmoralisches Angebot gemacht. Dieser Satz gilt aber nur, wenn man Fragen nach dem „richtigen“ Konsum als moralische Fragen betrachtet. Tatsächlich finde ich es eine ziemliche Ungeheuerlichkeit, den Bürger:innen aufzubürden, durch korrektes Verhalten den Planeten gewissermaßen wieder gesund zu konsumieren.
Es geht weniger um das Individuum, als viel mehr um die Politik
Es kann nicht sein, dass die Menschen, die am Ende von komplexen, globalen Lieferketten voller falscher Anreize sitzen, nachdem ihnen die Birne mit x-fach wiederholten Werbebotschaften und mehr oder weniger ausgedachten Qualitätslabels (Nutriscore, Fairtrade, Bio) gewaschen wurde, genau die für die Allgemeinheit bestmögliche Entscheidung treffen müssen. Und wenn sie es nicht tun, wird ihnen zusätzlich zur wirtschaftlichen Verantwortung auch noch die moralische Schuld für den kaputten Planeten aufgeladen. Hätten sie doch mal was Lokaleres, Faireres, Gesünderes, Nachhaltigeres gekauft. Oder am besten gar nichts.
Meine Krautreporter-Kollegin Isolde Ruhdorfer hat treffend geschrieben, „dass es in erster Linie die Unternehmen sind, die ihre Produkte ändern können und dass es die Politik ist, die Gesetze erlässt.“ So lange man Unternehmen die negativen Effekte auf am Geschäft Unbeteiligte durchgehen lässt, wenn sie nur eine ausreichend starke Lobby haben, werden sich immer Verbraucher:innen finden, die auf diese Weise billig gemachte Produkte kaufen. Ein Markt, der am Ende seine Grundlagen zerstört und immer nur auf Zeit funktioniert, ist aber nicht nachhaltig.
Der Markt für Flugreisen ist so ein Markt. Wären die Anbieter gezwungen, den Schaden, den die Fliegerei anrichtet, vollständig einzupreisen, wären sie vermutlich völlig unerschwinglich oder zumindest deutlich teurer. Ich will niemandem das Vergnügen nehmen, im Biomarkt einzukaufen, wenn es ins Budget passt. Aber ich finde es falsch, den Verbraucher:innen aufzubürden, Entscheidungen treffen zu müssen, die nur falsch ausgehen können. Weil das Spiel selbst schon manipuliert ist; weil das gut aussehende Angebot nur gut aussieht, weil der Anbieter die wahren Kosten auf die Allgemeinheit abwälzt. Es ist meiner Ansicht nach schlicht unrealistisch zu erwarten, dass Menschen das Richtige tun, nur weil sie Einsicht darin haben, was das Richtige ist. Im Einzelfall ist das so, aber Einzelfälle reichen nicht, um den Planeten zu retten.
Ganze Gesellschaften müssen sich ändern und das tun sie nur, wenn die Rahmenbedingungen sich ändern. Die Allgemeinheit ist gefragt und ihr Akteur ist die Politik, nicht das ständig verführte Individuum. Denn es ist in der Praxis unmöglich, dauerhaft das Richtige zu tun, während das Falsche zu tun begünstigt wird – und auch noch mehr Spaß macht.
Es wäre verständlich, die Reise zu machen. Raten kann ich dir dazu aber nicht
In deinem Fall, liebe Barbara, ist der innere Konflikt besonders stark, weil der Preis, den du zahlen müsstest, um die Traumreise zu machen, vernachlässigbar klein ist. Demzufolge ist die Willenskraft, die dir abverlangt wird, extrem hoch. Dazu kommt noch: Weil die Reise ein Geschenk ist, hat bereits jemand für sie bezahlt. Und vermutlich noch sehr viel weniger als ein durchschnittliches Flugticket kosten würde. Das heißt, dass durch dein Annehmen des Geschenks die Differenz zwischen dem, was du bezahlst (also nichts) und dem, was die Reise kosten müsste, um ihre Schäden zu kompensieren – wenn das überhaupt vernünftig beziffert werden kann und ein Schaden nicht auch auf einer finanziell gar nicht abbildbaren Ebene entsteht –, noch höher ist als im Falle des regulären Kaufs eines Tickets.
Liebe Barbara, du hattest sinngemäß gefragt: „Darf ich mich auf eine umweltschädliche Fernreise einladen lassen?“ Die bessere Frage lautet: Ist es meine Aufgabe und meine moralische Pflicht, als Konsumentin all die richtigen Entscheidungen zu treffen, die die Politik nicht getroffen hat?
Ich finde: nein. Weshalb es dir nicht alleine anzulasten wäre, wenn du das Geschenk annimmst. Es wäre verständlich, die Reise zu unternehmen. Dir jedoch zu raten, etwas zu tun, von dem wir wissen, dass es schädlich und vermeidbar ist, kann ich nicht.
Redaktion: Esther Göbel, Illustration: Karina Tungari, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert