In der Realität ankommen: Auf der SEITE EINS
Leben und Lieben

In der Realität ankommen: Auf der SEITE EINS

Im Theaterstück SEITE EINS zeigt uns Marko, ein gestandener skrupelloser Boulevardjournalist, die zynischen Mechanismen seines Metiers und ermöglicht so einen anderen Blick auf unsere Medienwirklichkeit.

Profilbild von Hans Hütt

Wie nah sich Politik und Theater doch stehen: Vor ein paar Tagen sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die griechische Regierung sei „schrittweise in der Realität angekommen“. Und formulierte damit interessanterweise zugleich die Plot-Idee von SEITE EINS, dem Theaterstück von Johannes Kram über die Boulevardpresse. Die Uraufführung des Stücks, das wir auf Krautreporter dokumentiert haben, war in Gütersloh. Am Mittwoch dann die Hauptstadt-Premiere. Die Aufführungsorte haben etwas gemeinsam, einen Fluchtpunkt außerhalb des Stücks - so wie den Gorilla, den keiner sieht. In Gütersloh ist das die Bertelsmann AG, in Berlin das direkt neben dem Veranstaltungsort Tipi liegende Kanzleramt. Was heißt Merkels „in der Realität ankommen“? In welcher Realität? Tatsächlich kreist Johannes Krams Stück SEITE EINS um diese Frage.

Foto: Volker Zimmermann

1. Finden Sie mich schlimm?

Wie kann der Zuschauer diese Frage beantworten? Masken- und Kostümbildner haben Ingolf Lück in ein noch nicht abgewracktes Ebenbild Franz-Josef Wagners verwandelt. Marko, so heißt der Mann, wirkt in der Rolle eines Boulevard-Journalisten glaubhaft. Irgendwie smart, langärmliges Shirt mit etwas peinlichem V-Ausschnitt, eleganter hellgrauer Anzug, das Sakko mit Seitenschlitzen, die Haare aufwändig verstrubbelt, schlank, vielleicht um den braunen Gürtel etwas schwammig.

Er führt ein nicht endendes Selbstgespräch, im unsteten Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung. Selbst wenn ich nicht hören könnte, erzählen Lücks Mimik und Gestik genug, um den Boden unter seinen Füßen in unsicheres Gelände zu verwandeln. Das Beben gehört zur Kulisse, glaubhaft durch Lück in Szene gesetzt. Was für ein Beben ist das? Linguistisch eine Achterbahnfahrt durch alle Textsorten des Boulevards, pointiert und getaktet durch wenige belastbare Fakten, das passiv-aggressive Repertoire, das es einem wie Marko leicht macht zu behaupten, alles sei möglich, wenn man ihn nur machen ließe.

Zum Beispiel die Aufmerksamkeitsspanne:

Nur fünf Sekunden schaut sich der Durchschnittsmensch heute das Gleiche an, ohne dass es ihm langweilig wird. Fünf Sekunden! Jetzt sind wir schon bei... kurzer Blick auf die Uhr … 16! 16 Sekunden und Sie sehen immer noch nur mich.

Was oberflächlich betrachtet wie das Angebot eines Bündnisses zwischen Marko und den Zuschauern aussieht (immerhin gilt es, hundert Minuten auszuhalten!), gehört zu den Selektions- und Vereinfachungsgeboten des Boulevards. Sei schnell, sei simpel, hau immer auf die Zwölf. So einer wie Marko kann gar nicht sympathisch sein. „Das ist gut. Das ist sehr gut.“ Aber nicht, weil das ein so abgenutztes Wort wäre, sondern weil ihm wie den Zuschauern die Wirklichkeit entgleitet, die das Entstehen und den Ausdruck eines Gefühls erlaubte. Das geht gar nicht. So einen wie Marko als Sprachkritiker zu erleben heißt, dass ich mich selbst dabei ertappe, eine Rote Liste der vom Verschwinden bedrohten Wörter anzulegen. Der „Gebrauchtwagen“ gehört gewiss nicht dazu. Denn auch er steht nur für das Sensorium des Verschwindens, so weit es für den Boulevard von Interesse ist.

Hundert Trillionen verschwunden. WAS!!!??? Nicht Nostalgie für abgelebte Wörter, sondern die Falschmünzerei im Grundwortschatz des Boulevards steht mir in der Sekunde vor Augen, als Marko sich wie ein Wiedergänger von Walter Jens und Hellmuth Karasek spreizt. Ein Scheinwortwart. Indem er danach fragt, ob wir einem wie ihm vertrauen, macht er uns wie ein Jiu-Jitsu-Kämpfer wehrlos. Denn natürlich, so sagt es dir die eigene Stimme, ist so einer wie Marko alles andere als vertrauenswürdig. Aber weil er zu den Falschmünzern gehört, indem er Worte nach oben pusht und andere in die Tonne tritt, ist er uns einen Schritt voraus, den Schritt, der ihn, der an nichts glaubt, dazu in die Lage versetzt, uns etwas glauben zu machen. Messbar. Für fünf Sekunden. Das reicht ihm. Das kleine Glück des großen Manipulators.

Foto: Volker Zimmermann

2. Der Journalist

Wenn einer wie Marko behauptet, er sei Journalist, kann man das Wort nicht klein genug schreiben, um es so verschwinden zu machen. Es hilft auch nicht, im treuen Glauben an DEN JOURNALISMUS, ihn in Großbuchstaben zu schreiben, wenn undeutlich bleibt, was damit gemeint sei. Eine Frage, die auch uns Krautreportern auf den Nägeln brennt, deren Antwort nur schrittweise (Merkel!) an Genauigkeit gewinnt, vielleicht als andere Form des Bündnisses zwischen Schreibenden und Lesenden, die sich allmählich als Community konstituiert, im steten Widerspruch und Zwiespalt zwischen Rollen und Erwartungen durchlässig und aufnahmefähig für neue Ideen und neue Formate. Auch Keimzellen brauchen ihre Zeit. Ein GEGEN gegen solche Figuren wie Marko wäre zu wenig, weil die Form, die Formate, für die Marko steht, einen Stempelabdruck hinterließen, uns auf einer Spur hielten, aus der wir ausbrechen wollen. Aber schnell zieht Marko den Zahn und präzisiert, er sei Boulevardjournalist. Wer hätte das gedacht! Dabei steht das Repertoire seiner Sekundärtugenden durchaus auch bei seriösen Medien hoch im Kurs_._

Da sitzt dir so einer gegenüber, in seinem großen Büro, aus dem Rechner ertönen im Sekundentakt die Beeps für neue Nachrichten, drei Leute kommen rein und gehen wieder raus, während er dir erzählt, wo er dich in zwei Jahren sieht, auch wenn ihm selbst dabei schon längst wieder andere Bilder vor Augen stehen, eine narzisstische Medusenfigur, deren Schlangen um das Haupt nach dir züngeln, während ihre Giftdrüsen nach Entladung japsen.

Johannes Krams Marko ist für Headhunter im Medienmarkt die Figur, nach der sich alle die Finger lecken: den Finger, um den Marko sie wickelt, der schlimme Finger, einer, der alles fingert, einer der, wenn alle Stricke reißen, gekonnt fingiert, was die Fakten nicht hergeben, das alles im rasenden Wechsel. Die Journalistenschulen zwischen Hamburg und München sollten den Besuch des Stücks zum Pflichtprogramm in der Bewerbungsphase machen, so wie die Mediziner ein Praktikum absolvieren, um eine Idee von der künftigen Arbeit zu bekommen. Wem Eiter nur Ekel einflößt, der kann ja ins Parfümeriefach wechseln.

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SEITE EINS stellt den zynischen Ton lebensgroß auf die Bühne. Wer sich in Textsorten und komplexen Plagiatsermittlungen auskennt, kommt schnell dahinter, dass wahrscheinlich jede Zeile des Stücks, jeder Satz Markos, ein mediales Vorleben besitzt. In der Montage des cut and paste entziffert Johannes Krams Stück die kulturelle DNA des Medienbetriebs, und das weit über die Grenzen des Boulevards hinaus.

„Ich mag den Umgang mit Menschen“, sagt Marko. Er sagt nicht: „Ich mag Menschen.“ Das ist der pitch des Stücks, ein Umgangstatbestand.

Foto: Volker Zimmermann

3. Namenlose Angst. Eine Zwischenbeobachtung

Die Rollenprosa, dass Medien als Vierte Gewalt im Spiel der Kräfte wirken, maskiert einen Sachverhalt, der anders noch als in Amerika eine unausgesprochene Gemeinsamkeit zwischen den politischen und medialen Eliten in Deutschland herstellt. Ein paar Wochen vor der Berliner Aufführung von SEITE EINS treffe ich Johannes Kram zu einem langen Hintergrundgespräch. Wir sahen uns das erste Mal seit etwas über einem Jahr. Vorsichtig kreist unser Gespräch um die Klippen und Fallstricke des Stücks, seine Motive, die ersten Resonanzen auf die Uraufführung, Krams eigene berufliche Erfahrung als Autor, Blogger, Marketing- und Musikmanager, auch als Songschreiber. Sein Präparieren und Montieren unreiner Textsorten, das war mein Eindruck nach erster Lektüre des Stücks, ließe sich auch als eine Medienarchäologie lesen, einer Lehre von den Anfängen oder auch Neuanfängen der Medien, die einen anderen Blick auf Traditionen und ihre Brüche wirft als Versuch, die geschriebenen und die ungeschriebenen Normen des Medienbetriebs genauer abzubilden. Wer diesen Betrieb nur lange genug, und das heißt lange vor Pegida und anderen Iden, begleitet, entwickelt ein Sensorium, das sich wie ein Phantomschmerz bemerkbar macht. Irgendetwas da draußen wirkt wie abgeschnitten und wegamputiert. Was das ist und was da weggeschnitten wurde, ist nicht so interessant wie die Frage, wer geschnitten hat und warum.

Lügenpresse, Lügenpresse, Lügenpresse. Das ist Quatsch. Aber auch Quatsch wird wirkungsmächtig und messbar, zum Beispiel als Gefühle und Einstellungen. Wilhelm Heitmeyer hat das ausführlich in seinen Studien über „Deutsche Zustände“ dokumentiert. Den eindringlichsten Befund beschreibt er als „wutgetränkte Apathie“. Die Apathie scheint neuerdings der Lust am Krawall zu weichen. Immerhin gelangen damit auch Töne und Bilder in die Öffentlichkeit, die bislang an den Rand gedrängt oder ausgeblendet blieben. Das ist der Ort der unausgesprochenen Übereinkunft zwischen Medien und Politik. Wir können sie als namenlose Angst vor den Massen da draußen bezeichnen. Das ist in dem Normgefüge der Republik nicht vorgesehen. Der Respekt vor den Wählerinnen und Wählern schon. Der Respekt könnte eine andere Sprache, einen anderen Blick auf die Welt, auf die Wirklichkeit, auf den Wandel vertragen und ermöglichen. Darin kommt der Phantomschmerz zum Ausdruck, das Gefühl, dass da etwas abgeschnitten worden ist, das vermittelte Bild verkürzt wird, weshalb die politische Sprache wie in Äther getränkte Watte wirkt, eine präventive Therapie gegen die unberechenbaren wilden Gefühle da draußen.

Foto: Volker Zimmermann

4. Überall Pseudoberichterstattung

Wir sind wieder im Theater Tipi am Kanzleramt. Denn unser Marko, daran erinnert mich das Gespräch mit Johannes Kram, reitet als ein Cowboy des Boulevards den Zaun zwischen der befriedeten Welt und dem Hunger nach dem Blut im Leben der anderen. Die guten Journalisten…

… nehmen ihre Leser nicht ernst, sie denken, sie müssten die Menschen vor der Wirklichkeit schützen oder vor sich selber. Selbstmorde. Über Selbstmorde zum Beispiel darf nicht geschrieben werden. Oder zumindest nicht richtig. Wissen Sie, wie viele Leute sich im Jahr vor den Zug werfen? Über 1.000 Leute. Das sind jeden Tag zwei bis drei. Jeden Tag! Statistisch springt jedem Zugführer einmal in seiner Berufslaufbahn einmal ein Mensch vor die Räder, wer denkt denn eigentlich an die Zugführer, nur mal ganz nebenbei, also die, die da springen, was sind das für Menschen, warum tun die das? Es passiert dauernd und überall, aber wir erfahren nicht, was mit mit diesen Menschen los war, wie es soweit kommen musste. Wir tun so, als ob es sie gar nicht gegeben hätte. Die Zeitungen schreiben das nicht, weil sie befürchten, es könnte Nachahmer geben. Glauben Sie wirklich, dass jemand sein Leben beenden möchte, weil er gelesen hat, dass ein anderer das tut?

In diesem Augenblick, der die Ambivalenz der Figur auf der Bühne ernst nimmt, so unsympathisch sie auch wirken mag, kommt die Furcht symptomatisch in den Blick, erzählt der Boulevardjournalist etwas über die unerzählten Geschichten, nicht weil sie nicht erzählbar wären, sondern weil sie tatsächlich so gut wie kaum erzählt werden. Und wenn sie erzählt werden, reichen alle Niggis dieser Welt und auch der schönste BILDblog nicht dazu aus, richtigzustellen und aufzudecken, was da alles falsch berichtet worden ist.

Denn das ist die Kehrseite des Stücks, das ist mein innerer Monolog als Zuschauer und Krautreporter-Autor. Im Spiel der Checks and Balances haben sich Stefan Niggemeier und Kollegen verdient gemacht. Sie schärfen Sinne, Augen und Verstand der Leserschaft. Sie sitzen auf der rationalen Seite des Zauns zur Wildnis. Je genauer ich Ingolf Lück zuhöre und auf der Bühne herumtigern sehe, desto deutlicher steht mir das Bild des Tigers, den er reitet, vor Augen. Der blinde Fleck für die dramaturgischen Tricks des Boulevards besteht ja nicht darin, dass solche Knallchargen sich den größten Blödsinn aus den Fingern saugen und andere das bereitwillig abnehmen, sondern dass es dafür Abnehmer gibt, die die Gesetze des Boulevards nicht einmal kennen müssen, um sie dennoch zu verstehen. Krams Stück inszeniert diesen blinden Fleck als ein Ringen des Zuschauers mit sich selbst, wie weit er dazu bereit ist einzugestehen, was daran unterhaltsam ist und warum das so ist. Oder manchmal auch nicht.

Keine noch so schöne evangelische oder katholische Medienakademie der ganzen Welt wird an dieser Ambivalenz etwas ändern. Ihr zu Bewusstsein zu verhelfen, wirkt wie eine seuchenhygienische Maßnahme, wie Impfungen gegen Masern und Grippe. Johannes Krams Stück betreibt mediale Seuchenhygiene. Im besten Fall ermöglicht er eine Immunreaktion und so einen anderen spielerischen Umgang mit den Ambivalenzen des Boulevards. Denn nur so zu tun, als gäbe es keine Gefühle, und um diesen Sachverhalt matter-of-factly herumzueiern, kann nicht gut gehen.

5. Willkommen in der Wirklichkeit

Das Stück und sein Timing, also dass es zwei Tage vor der nächsten Griechenlanddebatte vor dem Zaun um das Kanzleramt aufgeführt wird, könnten nicht besser gewählt sein. Denn als die Bundeskanzlerin ihre Fraktion ins Gebet nahm und dafür als punchline sagte, die griechische Regierung sei schrittweise in der Wirklichkeit angekommen, hat sie etwas Ähnliches gemacht wie Johannes Kram. Sie hat millimeterweise die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass nach den „griechischen Schuldensündern“ auch die deutschen Guthabensünder allmählich in der Wirklichkeit ankommen.