Stellen wir uns eine Szene vor: Ein lautes, kreischendes Geräusch bricht den Verkehrslärm auf einer dicht bewohnten Berliner Straße am Montagmorgen. Ein Autofahrer bremst in der Mitte einer Kreuzung. Zu spät, er hat eine Fußgängerin angefahren. Die Frau liegt am Boden. Es vergeht keine Minute, da sind schon drei Passant:innen über sie gebeugt. Einer leistet erste Hilfe. Der Fahrer ist ausgestiegen und ruft einen Krankenwagen. Ein Notfall!
Wenige Meter entfernt ist eine U-Bahn-Haltestelle und noch ein Notfall zu sehen. Zwischen den Menschen, die die Treppe hoch zur Straße gehen, sitzen drei Obdachlose. Keiner nimmt sie wirklich wahr. Niemand bleibt stehen, niemand holt Hilfe, niemand fordert eine staatliche Intervention an. Wenn sich etwas um sie herum bewegt, ist es eine Münze, die zum Bürgersteig herunterfliegt.
Ja, auf der Straße zu wohnen, ist ein Notfall. Das wird oft nicht so wahrgenommen. Aber keinen Wohnraum zur Verfügung zu haben und damit auch keine Privatsphäre, verletzt die Menschenwürde und gefährdet ein gesundes Leben. Juristisch gesehen stellt Obdachlosigkeit eine Verletzung des Menschenrechts auf Wohnen dar. Warum also springt der Staat bei einem Unfall auf der Straße aktiv ein – und blickt gleichgültig auf Menschen, die auf der Straße leben?
Wenn Wohnen ein Menschenrecht ist – wie klagen wir es ein?
Ich glaube, Wohnen ist eine wichtige soziale Frage, die uns alle angeht. In diesem Text erfahrt ihr, was das Recht auf Wohnen für uns in Deutschland bedeutet. Und was passieren müsste, damit wir uns ein Zuhause erklagen können.
Warum steht das Recht auf Wohnen nicht im Grundgesetz?
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist das „Right to Housing“ bereits enthalten. Artikel 25 lautet: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung.“ Im UN-Sozialpakt von 1966 kommt nochmal die Unterbringung vor, in Artikel 11 als Teil des Rechtes jeder Person auf einen angemessenen Lebensstandard. Und wie sieht es im deutschen Recht aus?
Das Völkerrecht gilt auch in Deutschland: Die Bundesrepublik ist Mitgliedstaat der Vereinten Nationen, die als Organisation Autorin der beiden Resolutionen ist. Diese sind aber rechtlich nicht bindend für die einzelnen Mitgliedsländer. Um den Staat in die Pflicht zu nehmen, braucht man ein explizites Gesetz im eigenen Recht. Hier fangen die Probleme an: Das Grundgesetz (GG) enthält nicht direkt das Recht auf Wohnen.
In Artikel 13 des GG ist aber die Unverletzlichkeit der Wohnung vorgesehen: Niemand darf eine Wohnung betreten, wenn deren Bewohner:innen das nicht erlauben. Klar, es gibt auch Ausnahmefälle, wie bei Polizei- oder Feuerwehreinsätzen. Artikel 13 ist ein sogenanntes Freiheitsrecht und besagt also, dass jeder Mensch seinen Wohnraum und den Zugang dazu frei gestalten kann. Dass man dafür überhaupt erst einmal eine Wohnung braucht, fehlt im Grundgesetz.
Das liegt daran, dass das Recht auf Wohnen ein soziales Menschenrecht ist und die Väter und Mütter des GG es nicht rechtlich festschreiben wollten. Als sie das Grundgesetz in Bonn 1949 verfassten, war es als vorläufige Verfassung des nach dem Krieg besetzten Deutschlands gedacht. Der soziale Charakter des Staates war damals ohnehin stärker als heute. Das Recht auf Wohnen wollten sie aber nicht explizit im Text verankern, um dem Gesetzgeber die praktische Sozialpolitik zu überlassen.
Welchen Einfluss hat die Immobilienlobby?
Ein Fehler, findet die Bundestagsabgeordnete Caren Lay (Die Linke). Seit über zehn Jahren beschäftigt sie sich mit Wohnungspolitik. Im August 2022 hat sie dazu ein Buch veröffentlicht: „Wohnopoly – Wie die Immobilienspekulation das Land spaltet und was wir dagegen tun können“.
Lay glaubt, das Recht auf Wohnen sollte im Grundgesetz verankert sein. „Das haben wir noch für diese Legislaturperiode vor“, erzählt sie mir. Die Chancen, dass sie dieses Ziel aus der Opposition heraus schaffen, sind aber nicht hoch. Schon 1993 unter der Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl ist der Vorschlag von der Linken zur Aufnahme sozialer Rechte ins Grundgesetz gescheitert. 2020, am Ende der Ära Merkel, lief auch der jüngste Versuch dazu ins Leere. Damals hatten Lay und ihre Parteikolleg:innen gemeinsam an einem Gesetzentwurf dazu gearbeitet: „Schaffung eines Artikels 14a im Grundgesetz, der ein subjektives und einklagbares Recht auf angemessenen bezahlbaren Wohnraum beinhaltet.“
Eine solche Grundgesetzänderung hätte weitreichende Folgen. Zum Beispiel wäre die Möglichkeit zu Zwangsräumungen eingeschränkt worden und die Basis geschaffen für weitergehende Eingriffe des Staates in den Wohnungsmarkt. Um eine Änderung im Grundgesetz durchzuziehen, braucht es eine Mehrheit von zwei Dritteln im Bundestag. Das ist weit entfernt vom letzten Ergebnis: Nur die Grünen stimmten für den Vorstoß der Linken. CDU/CSU, FDP und SPD kritisierten ihn als unangemessen, der Abgeordnete Udo Hemmelgarn der AfD kommentierte: „Erst kommt der Irrsinn, dann kommt der Sozialismus.“
Den Einfluss der Immobilienlobby nennt Lay als größten Gegner ihrer Idee. Immobilienkonzerne würde sie gern ganz aus dem Wohnungsmarkt verdrängen: „Wir müssen einen größeren gemeinwohlorientierten Teil innerhalb des Marktes schaffen“, sagt sie. Als Beispiel nennt sie die Stadt Wien. In der österreichischen Hauptstadt ist „Stadt Wien – Wiener Wohnen“, der größte kommunale Immobilienkonzern Europas, komplett im Besitz der Stadt. Ungefähr 30 Prozent der Wiener:innen wohnen in Sozialwohnungen, während hierzulande die Quote bei etwa acht Prozent liegt. „Wenn wir aufs Wohnen aber auf Basis von Recht schauen würden und nicht aus der Sicht der Marktlogik, wäre die Lage ganz anders“, sagt Lay.
Was passieren könnte, wenn der Staat in den Wohnungsmarkt eingreifen darf, zeigt die Geschichte des Mietdeckels in Berlin.
Der Berliner Mietdeckel hätte als Gesetz dazu gedient, die Miethöhe für Wohnraum in der Hauptstadt zu regeln und damit überhöhte Mieten und Mieterhöhungen zu verbieten. Das hat nicht funktioniert: 2020 verabschiedet, wurde das Gesetz 2021 vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Aus formellen Gründen ist es als verfassungswidrig anerkannt worden. Ein solches Gesetz hätte vom Bund kommen, nicht auf kommunaler Ebene durchgesetzt werden sollen, hieß es in der Begründung. Mit dem Recht auf Wohnen im Grundgesetz wäre das anders gewesen. Der hohe Rechtsstatus hätte den Mietdeckel vermutlich gerechtfertigt.
Was sind die Aufgaben des Staates?
Was muss der Staat leisten? Eigentlich vieles. „Völkerrechtlich gesehen, trägt der Staat die Hauptverantwortung für die Umsetzung des Menschenrechts – vom Bund bis zu den Kommunen“, sagt Michael Krennerich. Er ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen zu Menschenrechten und Menschenrechtspolitik. Krennerich erklärt, das Recht auf Wohnen sei ein sogenanntes soziales Leistungsrecht. Das heißt: Es beschreibt Leistungen, die der Staat den Bürger:innen gewährleisten soll. „Jede Person in Deutschland hat prinzipiell Anspruch auf Zuschüsse für angemessene Wohnung, Wohngeld und Wohnungshilfen“, sagt er.
Solche staatlichen Aufgaben stehen im Sozialgesetzbuch. Durch dieses ist der Staat zur „für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendigen Lebensunterhalts“ der Bürger:innen verpflichtet. Die Unterkunft wird dabei als persönliches Bedürfnis anerkannt. „Die einzelnen Leistungen, wie zum Beispiel das Erhalten von Wohngeld, sind auch vom Einzelnen vor Gericht einklagbar“, sagt Krennerich. Das Recht auf Wohnen an sich aber nicht, eben weil es als Ganzes im Grundgesetz nicht vorkommt und nur unter unterschiedlichen Aspekten in Deutschland rechtlich betrachtet wird.
Für alle, die so wie ich kein Jura studiert haben, habe ich ein praktisches Beispiel: Wenn ich auf der Straße demonstriere und die Demo ohne berechtigte Gründe aufgelöst wird, kann ich dagegen klagen, weil meine Meinungsfreiheit und gleichzeitig meine Versammlungsfreiheit behindert wurden. Wenn ich aber kein Zuhause habe, kann ich mich nicht auf einen direkten Eingriff in mein gesellschaftliches Leben beziehen, nur auf viele unterschiedliche staatliche Mängel, zum Beispiel, wenn ich ungerechtfertigt kein Wohngeld bekomme oder bei der Wohnungssuche aufgrund meiner Herkunft diskriminiert werde.
Ben schreibt der UNO
Stellen wir uns eine weitere Szene vor: Ben ist sozial ausgegrenzt. Er wurde aus seiner Wohnung geräumt und wohnt auf der Straße in Berlin. Ben kennt seine Rechte und weiß: Eine Unterkunft zählt zu seinen Menschenrechten. Er hat auch einen Plan, um sein Recht wieder geltend zu machen. Schon seit Tagen sammelt er Geld dafür. Eines Morgens ist es soweit: Ben steht vom Bürgersteig an seiner gewohnten Straßenecke auf und geht zum nächsten Copyshop. Auf einem der Computer besucht Ben die Internetseite der Vereinten Nationen und sucht nach dem offiziellen Musterformular für Beschwerden. Leider ist es auf Deutsch nicht verfügbar, Ben lädt die Version auf Englisch herunter und fängt an, die Datei auszufüllen. Es sind 14 Punkte auf vier Seiten, bei der zweiten Seite ist Ben überfordert.
Er fragt den Copyshop-Besitzer, ob der ihm helfen kann. Dessen Englisch ist nicht viel besser, aber dessen Internetkompetenz schon. Mit Google Translate arbeitet Ben weiter an seiner Beschwerde. Nach einer Stunde und ein paar Hundert Klicks ist er fertig. Er schickt das Formular an petitions@ohchr.org.
Wir erinnern uns: Ben gibt es nicht. Oder besser: noch nicht. Laut Statistischem Bundesamt leben 178.000 wohnungslose Menschen in Deutschland, diese haben zumindest Leistungen zur Unterbringung in Anspruch genommen. Die Ampelregierung will bis zum Jahr 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit überwinden, heißt es im Koalitionsvertrag. Soweit ist es noch nicht.
Ich wollte wissen, wie viele Beschwerden zu Verstößen gegen das Recht auf Wohnen in Deutschland der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erhalten hat. Ich erfuhr: Die Möglichkeit zur Beschwerde gibt es für Deutschland gar nicht. Der Ausschuss in Genf bekommt aber viele Beschwerden aus anderen Ländern, gerade stehen etwas über 170 Fälle an, unter anderem aus Spanien, Argentinien und Italien. Denn diese Staaten haben das sogenannte UN-Fakultativprotokoll dazu unterschrieben, eine Art zusätzlichen völkerrechtlichen Vertrag. Durch das Dokument erkennen die Unterzeichnerstaaten die Zuständigkeit des UN-Ausschusses an, Menschenrechtsverletzungen wie die gegen das Recht auf Wohnen in den jeweiligen Ländern zu untersuchen.
Die Ampelregierung hat erst im August 2022 einen Gesetzentwurf eingereicht, mit dem auch die Bundesrepublik zum Fakultativprotokoll beitreten soll. Die Bundesregierung wolle sich so einem der „Nachhaltigkeitsziele“ der Agenda 2030 nähern: „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“. Und damit könnte das Recht auf Wohnen in Deutschland bald international einklagbar sein.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger