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Marie hat jetzt ein Boot. Vor Kurzem hat sie sich ein kleines Schlauchboot gekauft, um damit ein bisschen auf dem Mittelmeer herumzupaddeln. Leider hat sie ihre Rechnung ohne die Wellen und den Wind gemacht, es geht nur rückwärts. „Ich kann jetzt nichts mehr mit dem Boot machen, außer darin zu schlafen“, sagt sie.
Sie erzählt mir das alles auf dem knapp 15 Zentimeter großen Display meines Handys, von dem aus ich Marie begleite. Vor drei Wochen etwa tauchte sie in meinem Tiktok-Feed auf, ein 11-Sekunden-Video, in dem sie sagt: „Hallo ich bin Marie, ich hab vor ein paar Wochen die Schule abgeschlossen und anstatt eine Ausbildung anzufangen, habe ich mein Fahrrad genommen und fahre jetzt quer in den Westen. Ich bin in Deutschland gestartet und mein Ziel ist Spanien. Mal gucken, wie weit ich komme.“
Dazu muss man wissen, dass zu diesem Zeitpunkt die Reise „quer in den Westen“ eine Art popkulturelles Phänomen im Internet war, weil ein ähnliches Projekt aufgrund fehlender Vorbereitung ungefähr nach nur drei Kilometern scheiterte.
Die Jugend macht es richtig
Marie geht also auf Reisen und ich erlebe fast jeden Schritt ihrer Reise mit; genug Stoff, um sich auf langweiligen Zugfahrten, Klogängen und Wartezeiten abzulenken. Gleichzeitig habe ich aber auch lange darüber nachgedacht, warum ich so glücklich werde, wenn ich Maries kurzen Erzählungen von banalen Dingen lausche. So wie ihrer Begegnung mit einem Pferd, das sie gegen ihr Fahrrad tauschen will, weil sie keine Lust mehr hat zu strampeln. Ein Unterfangen, das natürlich zum Scheitern verurteilt war. Marie zeigt ihren Versuch aber so grundsympathisch, dass ich ihr mein (nicht vorhandenes) Pferd am liebsten per Express zusenden würde.
Als ich vor ein paar Tagen mal wieder ein Update von ihr bekam und mir ein Video weiter mal wieder ein wütender Mann ins Gesicht brüllte, dass ich bloß keine Emojis benutzen solle, weil ich sonst kein echter Mann sei, wurde es mir klar: Marie ist die Seite von Social Media, die ich in meinem letzten Newsletter beschrieben habe: kreativ, spontan und ein bisschen naiv. Es ist die Seite des Internets, die ich liebe. Und Marie erinnert mich mit jedem Video an das Newsletter-Motto meines Kollegen Bent Freiwald: „The kids are alright.“
Dabei hätte Maries Reise auch schnell enden können. Auf der Hälfte der Strecke ist ihr, während eines Einkaufs, das Fahrrad geklaut worden – inklusive aller Klamotten. So steht Marie also da, mit Flip-Flops und einer Flasche Wasser. Wer regelmäßig auf Social Media unterwegs ist, weiß, dass solche Momente normalerweise dramatisch aufgebaut werden, inklusive eines Videotitels, der so aussehen könnte: „Alles weg! Ich bin am Ende!“ Nicht so bei Marie. Sie fragt einfach nur: „Hat jemand mein Fahrrad gesehen?“ Und verspricht ein Video später, dass sie natürlich weitermachen würde – erfolgreich, wie ich schon geschrieben habe.
Die Romantik muss gewinnen
Ich muss zugeben: Ich hätte mich das mit 18 Jahren nicht getraut. Ehrlich gesagt würde ich mich das nicht mal heute unbedingt trauen. Weil ich zu bequem geworden bin. Aber auch wegen meiner veritablen Abneigung gegen Natur. Und weil ich Angst habe – vor Diebstählen oder Unfällen zum Beispiel. Marie lässt sich von solchen Ängsten nicht beeindrucken.
Zu meinem 18. Geburtstag hat mir meine Oma das Buch „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Joseph von Eichendorff geschenkt. Die Geschichte eines jungen Müllersohnes, der, anstatt zu arbeiten, lieber mit einer Geige als einzigem Gepäckstück in die Welt zieht. Daran muss ich immer wieder denken, wenn ich Maries Videos sehe. Auf der einen Seite die Lebenskünstlerin, die sich einfach durchschlägt – auf der anderen Seite die gehässigen Zweifler, die so etwas kommentieren wie: „Krank 🤦♂️ein Sozialfall für 2023.“
Aber genau wie bei Eichendorff setzt sich am Ende die Romantik durch. Und das ist genau richtig so. Traurige Fakten hat die Jugend von heute schließlich genug zu verdauen.
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger