„Was willst du denn da?“, fragte mich eine Freundin, als ich erzählte, ich würde in die estnische Stadt Narva reisen, direkt an die russische Grenze. „Ist das nicht am Arsch der Welt?!“
Kommt drauf an, von wo man schaut. Von Deutschland aus betrachtet: vielleicht. Von Russland aus gesehen aber ist Narva die Tür zu Europa. Denn hier trennt Estland und Russland nur der gleichnamige Fluss. Und von Tallinn aus betrachtet, der estnischen Hauptstadt, ist Narva nicht nur die drittgrößte Stadt des Landes. Sondern vor allem ein besonderer Ort: Mehr als ein Drittel der rund 60.000 Einwohner:innen besitzt im estnischen Narva einen russischen Pass. Rund 95 Prozent der Menschen sprechen russisch – die eigentlich russische Minderheit in Estland ist hier die Mehrheit.
Russland und Estland teilen eine schwierige Historie, die sich über Jahrhunderte zieht. Mehr als einmal haben die Russen Estland besetzt. Und im Zweiten Weltkrieg befreite die Sowjetunion Estland erst von Nazi-Deutschland, um dann von 1944-1991 ein jahrzehntelanges Regime zu errichten. Unter den Sowjets kam es zu Deportationen, Mord und Unterdrückung.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem halben Jahr und der dazugehörige Krieg haben im ganzen Baltikum die alte Angst vor dem russischen Nachbar neu entfacht. Was bedeutet das für die Menschen in Narva? Wie kann man mit dieser ständigen Angst im Nacken leben? Oder stehen sie gar auf russischer Seite?
Diese Fragen wollte ich Katri Raik stellen. Die 54-Jährige ist seit Dezember 2020 Bürgermeisterin von Narva, vorher war sie unter anderem Innenministerin von Estland und Direktorin der estnischen Sicherheitsakademie. Im eigenen Land kennt man die studierte Historikerin gut.
Unser Termin war lange vereinbart. Doch ausgerechnet am Tag des Interviews spitzte sich in Estland eine Diskussion zu, die seit Wochen geführt wird. Es geht in dieser Debatte um Denkmäler aus der Sowjetzeit. Aber eigentlich geht es um viel mehr. Gestritten wurde auch um ein Sowjetpanzer-Monument, das am Rande Narvas an den Sieg Russlands über Nazi-Deutschland erinnerte. Für die russische Community ein wichtiges Denkmal. Aber was sollte jetzt, vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, damit geschehen?
Am Abend meiner Ankunft beschloss die estnische Premierministerin höchstpersönlich: Das Denkmal muss weg. Während ich also am nächsten Morgen auf dem Weg in Katri Raiks Büro bin, wird wenige Kilometer entfernt ein Sowjetpanzer von seinem Sockel montiert und abtransportiert. Auf Twitter diskutiert ganz Estland, die Stadtverwaltung in Narva ist in heller Aufregung. Und das aus gutem Grund: Als 2007 in Tallinn ein Kriegerdenkmal versetzt wurde, führte das zu gewaltsamen Ausschreitungen, bei denen ein Mann starb.
Am Grenzkrontrollpunkt in Narva, direkt unter Raiks Bürofenster, patrouilliert die Polizei deswegen heute morgen bis an die Zähne bewaffnet. Als ich Raiks Büro betrete, empfängt mich eine große Frau, pechschwarzes Haar, ihr bodenlanges Sommerkleid genauso knallrot wie ihre Nägel und ihre Brille. Raik wirkt angespannt, zeigt sich im Gespräch aber freundlich und nahbar.
Frau Raik, können Sie mir kurz erklären, was heute eigentlich los ist bei Ihnen?
Katri Raik: Sie sind einfach zu einem sehr schlechten Zeitpunkt gekommen, vielleicht in der für Narva anstrengendsten Zeit seit 1993. Damals gab es hier ein Referendum zu der Frage, ob Narva eine autonome Region innerhalb Estlands sein sollte. Wenn es um die Unabhängigkeit Estlands geht, wird dieses Referendum sicherlich ein eigenes Kapitel in den Geschichtsbüchern bekommen – genauso wie die ganze Debatte rund um das Panzer-Denkmal und der heutige Tag, wenn es um Narva geht.
Warum wird um Denkmäler aus der Sowjetzeit so hitzig diskutiert in Estland und speziell in Narva?
Wir haben in Estland einen riesigen russischen Bevölkerungsanteil, der bei rund 30 Prozent liegt. Und speziell in Narva sprechen mehr Menschen russisch als estnisch. Narva symbolisiert aber gleichzeitig auch die EU-Außengrenze, und wir sind Teil der NATO. Der Panzer als Waffe ist nicht einfach nur ein Denkmal. Er wurde in den vergangenen Monaten zu einem Symbol für den Krieg in der Ukraine. Deswegen wurde er so wichtig, er wurde quasi ein Denkmal der Denkmäler.
Ich verstehe immer noch nicht ganz.
Eigentlich geht es im Konflikt rund um den Panzer um Identität. Und die Frage nach der eigenen Identität ist immer eine, die nicht leicht zu beantworten ist. Zu dem Krieg in der Ukraine gibt es sehr geteilte Meinungen, wenn man die russische und die estnische Bevölkerung befragt. Die örtliche Bevölkerung, die hier fast ausschließlich russisch ist, sagt: „Wir haben mit dem Krieg in der Ukraine nichts zu tun. Wir möchten nichts über den Krieg wissen, und wir sind auch nicht schuld.“ Man distanziert sich.
Können Sie das näher erklären?
Die örtlichen Russen sagen: „Estland ist unser Heimatland. Wir sind hier geboren, wir sind hier zufrieden, es ist schön und ruhig.“ Aber bis zum Krieg in der Ukraine hat man auch gesagt: „Putin ist doch eigentlich ein guter Kerl.“ Dabei spielen auch russische Medien eine riesige Rolle, die die Leute hier konsumiert haben. Dieses Bild von Putin ist jetzt kaputt.
Die russische Bevölkerung Narvas hat ihre Meinung zu Putin also seit dem Krieg verändert?
Die russische Bevölkerung ist sich nicht mehr sicher, ob Putin nun gut oder schlecht ist. Gleichzeitig müssen sie die Geflüchteten aus der Ukraine akzeptieren, die Estland aufgenommen hat. Das ist schwer für die russische Bevölkerung. Der estnische Staat hat sich sehr für die Ukraine eingesetzt, wir betrachten diesen Krieg als unseren. Im Moment sterben Menschen in der Ukraine statt Menschen hier.
Die estnische Premierministerin Kaja Kallas spricht sich tatsächlich sehr klar gegen Putin aus – so klar wie kein:e andere:r Staatschef:in Europas. Gemessen an der Wirtschaftsleistung des eigenen Landes hat auch kein anderer Staat innerhalb der EU so viel Geld für Waffen an die Ukraine gegeben. Und erst vor Kurzem hat Estland beschlossen, dass russische Staatsbürger mit einem Schengen-Visum nicht mehr einreisen dürfen. In der gesamten EU wird über diese Frage diskutiert, Kallas verteidigt ihre Haltung strikt. Manchen gilt sie gar als Frontfrau der EU im Widerstand gegen Putin. Führt das nicht zu Spannungen im Land, speziell in Narva?
Die estnische Bevölkerung versteht die ganze Situation etwas anders als die russische, auch vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Das war nicht unser Krieg. Wir Esten erinnern diese Zeit noch durch unsere Eltern und Großeltern. Wir wissen, wer Russland ist. Auch das spielt als Hintergrund eine Rolle für Narva.
Sie selbst haben die Sowjetzeit ebenfalls miterlebt. Wie war es damals in Estland?
Ich war Kind und noch jung. Da waren die politischen Umstände noch nicht so wichtig für mich. Aber als Studentin, Ende der Achtzigerjahre, habe ich jeden Tag Spaghetti mit Ketchup gegessen, dazu so ein billiges Öl; manchmal träume ich heute noch von Spaghetti mit Ketchup und dazu dieses Öl, das ich heute überhaupt nicht mehr essen kann! Ich erinnere mich auch noch an den Anfang der Neunzigerjahre, als ich keine Winterschuhe besaß. Und an meinen ersten Besuch in Westberlin, um 1989 muss das gewesen sein, als ich einen Föhn kaufte. Den habe ich heute noch, der ist wie ein Talisman für mich. Eine Thermoskanne aus dieser Zeit habe ich auch noch. Solche schönen Sachen gab es bei uns nicht. Und frei reisen konnten wir auch nicht. Deswegen ist es für meine Generation ganz typisch, viel zu reisen.
Haben Sie einen persönlichen Bezug zu Russland?
Nein, bis auf meine Reisen dorthin nicht. Ich stamme aus Tartu im Südosten Estlands, komme aus einer Akademikerfamilie. Ich bin 1999 eigentlich ziemlich zufällig in Narva gelandet – und dann hier geblieben.
Ich stelle mir Ihren Job sehr schwierig vor momentan, denn Sie müssen jeden Tag einen Spagat hinlegen: Einerseits müssen Sie nach Tallinn kommunizieren, an die estnische Regierung, andererseits die russische Bevölkerung hier vor Ihrer Haustür beruhigen. Wie schaffen Sie das?
Ich bin selbst auch überrascht, dass ich es noch irgendwie schaffe. Momentan sitze ich zwischen den Stühlen. Es ist für mich, eine estnische Frau, ziemlich unüblich, dass ich Bürgermeisterin in Narva geworden bin. Alle Mitglieder des Stadtparlaments sind russischer Herkunft, abgesehen von mir. Zwei Drittel spricht nicht estnisch, sondern russisch. Gestern hatten wir eine Sitzung des Stadtparlaments und danach noch eine Pressekonferenz, wegen des Panzer-Denkmals. Es wurde fast nur russisch gesprochen. Wenn Sie das als Estin aus Tallinn oder anderen Regionen Estlands verfolgen, sieht das aus wie russischer Separatismus.
Tatsächlich denke ich bei meinen Spaziergängen durch Narva: Wenn ich nicht wüsste, dass hier noch Estland ist, würde ich denken, ich wäre schon in Russland. Die breiten Straßen und Plattenbauten erinnern mich an Sowjetarchitektur, im großen Einkaufszentrum im Stadtzentrum höre ich ausschließlich Russisch, und wer will, kann in Narva verschiedene historische Überbleibsel der Sowjets finden – so wie eine Statue Lenins, die im Burghof der Hermannsfeste unscheinbar in einer Ecke abgestellt wurde, nachdem sie 1993 von ihrem eigentlichen Platz geräumt worden war. In der Lobby meines Hotels wird die Uhrzeit in St. Petersburg angezeigt, der junge Mann an der Rezeption ist Russe. Ich frage ihn nach Putin, nach dem Krieg, aber er wird verlegen, will lieber nicht antworten.
Was Sie erzählen, klingt in der Tat nach einem Identitätskonflikt.
Ich verstehe die Menschen hier in Narva. Und ich habe das auch nach Tallinn kommuniziert, warum sich viele über die Demontage des Panzerdenkmals so aufregen. Ich habe den Fehler gemacht, den Esten die Lage zu erklären. Dafür wurde ich teilweise sehr hart kritisiert. Ich habe auch die Haltung vertreten, dass jetzt nicht die Zeit ist, um einen Krieg rund um diese Denkmäler zu führen. Denn wir haben schon einen Krieg. Die Regierung Estlands hat das anders gesehen. Also versuche ich, die Menschen hier zu beruhigen, wiederhole immer wieder: Unser Ziel ist es, zusammenzuhalten. Obwohl die russische und die estnische Bevölkerung eine unterschiedliche Auffassung der Geschichte des 20. Jahrhunderts hat. Das wird auch so bleiben, auch in der nächsten Generation, das ist völlig klar. Aber wichtig ist, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben.
Wenn Sie an die Zukunft Narvas denken, haben Sie dann keine Angst? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass der russische Nachbar versucht, sich Ihre Stadt einzuverleiben.
Angst ist nicht der richtige Begriff. Wenn ich Angst hätte, könnte ich nicht in Narva arbeiten und sein.
Aber niemand kann Putin mehr einschätzen. Wenn er sich, wie im Juni geschehen, mit Peter dem Großen vergleicht, der Narva auch erobert hat, was löst das in Ihnen aus?
Dieser Vergleich hat mich überhaupt nicht überrascht. Putin könnte in der Geschichte noch weiter zurückgehen, zu Iwan dem Vierten beispielsweise, der Narva im 16. Jahrhundert eroberte. Dass Putin sich aber jetzt Peters des Großen bemüht, wundert mich nicht. Denn die Geschichte vom siegreichen Russland aus dem Zweiten Weltkrieg zieht nicht mehr so gut. Deswegen musste Putin sich etwas anderes ausdenken. Das passiert oft: Wenn ein Geschichtsbild nicht mehr so gut funktioniert, wählt man ein anderes. Und das funktioniert sehr gut, denn Peter der Große ist in Narva vielleicht bis heute der größte Held. Er war hier mehr als zwanzig Mal, er hat hier ein Haus gehabt, es gibt Legenden über ihn, die alle Kinder hier kennen, und der Platz, den Sie unten vor der Tür vorfinden, der ist auch nach Peter dem Großen benannt. Man muss ehrlich sagen: Das war eigentlich keine schlechte Idee von Putin, diesen Vergleich zu wählen.
Also das hat Sie nicht überrascht. Aber der 24. Februar, der Beginn des Krieges in der Ukraine, hat der Sie überrascht? Was haben Sie gedacht, als Sie damals morgens aufstanden und in den Nachrichten hörten, dass Putin die Ukraine überfallen hat?
Der 24. Februar ist ein Nationalfeiertag in Estland. Denn am 24. Februar 1918 hat Estland seine Unabhängigkeit von Russland erklärt.
Ausgerechnet!
Wir hatten am Morgen des 24. Februars in Narva eine Zeremonie anlässlich des Nationalfeiertages, im Hof der Hermannsfeste, zu Sonnenaufgang. Bei uns in Narva geht die Sonne 13 Minuten früher auf als in Tallinn, darauf sind wir sehr stolz, das hat eine Symbolkraft für die Menschen hier. Rund 500 Leute kamen zusammen. Ich hatte natürlich die Nachrichten gelesen vor der Zeremonie und dachte sofort: „Was soll ich den Menschen jetzt gleich sagen? Wie soll ich zu ihnen sprechen?“ Ich konnte an den Gesichtern der Leute ablesen: Wer hat die Nachrichten schon gehört – und wer noch nicht? Die, die sie schon gehört hatten, weinten oder waren ganz weiß im Gesicht vor Schock.
Waren Sie selbst schockiert?
Ich hätte Putin das nicht zugetraut.
Wieso nicht?
Weil ich dachte: Ein so großes Land wie die Ukraine, wie kann er es einfach überfallen?! Für mich kam das unerwartet. Obwohl sehr viele es haben kommen sehen.
Was haben Sie dann zu den Menschen gesagt während der Zeremonie?
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich habe natürlich über die Besonderheit Narvas gesprochen. Dass wir den geographischen Anfang Europas bilden, dass Estland unser Land ist – und Narva unsere gemeinsame Stadt, die von Esten und Russen. Dass wir nur diese eine haben. Das wiederhole ich wieder und wieder.
Sie selbst sehen sich als Europäerin?
Ich bin Estin. Ich gehöre noch zu der Generation, der es nicht so leicht fällt, zuallererst zu sagen: Ich bin Europäerin. Ich habe übrigens teilweise in Deutschland studiert.
Das hört man. Sie sprechen sehr gut deutsch!
Danke, es war mal besser. Momentan ist Russisch meine zweite Sprache. Jedenfalls kenne ich Europa, ich gehöre zu Europa. Aber Estland ist für mich sehr wichtig, auch Narva. Das ist meine Identität. Gleichzeitig kann ich verstehen, wie schwierig die Situation momentan für jene Menschen ist, die sich ihrer Identität nicht so sicher sind.
Merken Sie diese Spannungen im Alltag?
Ja, natürlich. Wenn ich durch die Stadt laufe und den Leuten „Guten Tag!“ sage, antworten sie: „Auf Wiedersehen!“ In den vergangenen Tagen hat sich das zugespitzt, seit die Diskussion rund um das Panzerdenkmal so hitzig geführt wurde.
Wie war die Stimmung zu Beginn des Krieges, der ja nun schon ein halbes Jahr andauert?
Auch ziemlich anstrengend. In Narva leben nicht nur Russinnen und Esten, sondern auch etwa 3.000 Ukrainer:innen. Rund 700 Menschen aus der Ukraine sind zu ihren Verwandten nach Narva geflohen, die waren bei vielen nicht so willkommen. Narva war außerdem ein riesiger Transitpunkt.
Ich möchte noch einmal auf das Thema Angst zurückkommen. Sie sagten, sie hätten keine.
Ich kann es nicht so nennen. Denn dann müsste ich einen anderen Job machen und mein Leben ändern. Aber ich brauche dringend mal Urlaub – woanders als in Narva. Gott allein weiß, was passieren wird. Aber ich denke, im Moment hat Putin keine Kraft, um uns anzugreifen. Denn auf der russischen Seite der Grenze zu Estland ist noch nie so wenig Militär gewesen wie momentan. Er hat dort fast niemanden mehr. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein.
Gibt es Pläne für den Ernstfall, also einen Angriff Russlands auf Estland?
Diese Frage müssen andere Institutionen beantworten, nicht ich. Aber natürlich bereitet Estland sich vor. Und der Staat gibt mehr und mehr Geld für sein Militär aus.
Auch die Bürgerinnen Estlands bereiten sich vor: Bei der freiwilligen Verteidigungsorganisation der estnischen Frauen, der Naiskodukaitse, haben sich die Mitgliederzahlen seit Kriegsbeginn mehr als verdoppelt. Rund 3.500 Personen zählt die Organisation mittlerweile, ein Ableger der freiwilligen Verteidigungsorganisation der Männer, die weitaus mehr Mitglieder hat. Wer der Naiskodukaitse beitritt, kann nicht nur dabei helfen, Estlands Veteranen zu unterstützen, Spenden für Geflüchtete aus der Ukraine zu sammeln, in Schulen und Kindergärten über Katastrophenschutz aufzuklären oder bei Großveranstaltungen mit mehreren hundert Teilnehmer:innen zu kochen. Sondern auch den Dienst an der Waffe lernen. Wie halte ich ein Gewehr? Wie lade ich es? Und wie schieße ich? Das können die Mitglieder der Naiskodukaitse in Trainingscamps üben. Und die gibt es auch schon für die Kleinen, für Kinder ab sieben Jahren.
Beruhigt es Sie, dass Estland Mitglied der NATO ist?
Ja, natürlich. Aber ich mache mir Sorgen um die momentane Situation, die wir hier im Land haben, die Diskussion rund um die Denkmäler. Die Frage wird sein, wie sehr russische Medien diese Situation ausnutzen werden. Russland kann diesen Moment hervorragend nutzen, um unter der russischen Bevölkerung Zweifel an der estnischen Regierung zu säen. Wenn ich nicht Bürgermeisterin von Narva wäre, wäre es für mich als Historikerin sehr interessant zu lesen, wie die russischen Medien das aufarbeiten werden.
Was haben Sie im vergangenen halben Jahr gelernt?
Wenn du etwas machst, musst du es vorher kommunizieren und danach auch nochmal. Man muss mit den Menschen sprechen und zuhören. Momentan komme ich mir manchmal mehr vor wie eine Psychologin als eine Bürgermeisterin. Das Sprechen und Zuhören ist für die Menschen extrem wichtig.
Was haben Sie noch über die Menschen gelernt?
Dass sie letztendlich doch gut sind.
Wirklich? Das können Sie so sagen, obwohl Putin in seinem Handeln alle Hinterhältigkeit gezeigt hat, die auch im Menschen wohnt?
Ja. Mir gefällt dieses Beispiel sehr: Zu Beginn des Krieges haben wir in Narva Spenden gesammelt. Da kam eine alte russische Großmutter, die ein Kissen dabeihatte. Sie sagte: „Ich habe in meiner Wohnung herumgeschaut, das hier ist das einzige, was ich weggeben kann.“ Sie hatte selbst nichts, wollte aber unbedingt helfen.
Sie glauben also nach wie vor an das Gute im Menschen?
Ja. Und es gibt mir Kraft.
Danke an KR-Leser Mikko Fritze, Leiter des Finnland-Instituts in Berlin, für die zahlreichen Tipps rund um Estland!
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Redaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert