Schon im Vorgespräch am Telefon musste ich die Luft anhalten. Nämlich als Anna mir erzählte, wie jung ihre Kinder noch sind: Die größte Tochter 11 Jahre alt, ihr ältester Sohn sieben, die zweite Tochter fünf und die beiden Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen, erst dreieinhalb Jahre alt. Wie um Himmels willen, fragte ich mich sofort, kann man so um die Welt reisen? Ist das nicht Kamikaze?
Als ich im Netz auf Anna stieß, war sie gerade in Hannover angekommen, ihrer Heimatstadt. Jeden Sommer macht Anna dort mit den Kindern zwei bis drei Monate Zwischenstopp, sie leben dann – wie soll es bei einer Nomadenfamilie auch anders sein?! – auf einem Campingplatz außerhalb der Stadt. Anna hat hier eine Dauer-Parzelle gemietet. Zum Interview treffen wir uns aber direkt in Hannover. Ich will von Anna wissen: Warum lebt sie so, immer unterwegs? Wie passt das Leben von sechs Personen in nur drei Koffer? Und hat sie nicht manchmal Skrupel, ihren Kindern gegenüber?
Anna ist die erste Gesprächspartnerin, die ich für meinen neuen Zusammenhang getroffen habe. In diesem gehe ich einer Frage nach, die nie alt wird, aber aufgrund der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine eine neue Relevanz bekommen hat: „Wie geht das, ein gutes Leben?“ Ich werde noch weitere Interviews für diese Reihe führen und mit ganz unterschiedlichen Personen sprechen. Sie alle eint eine besondere Sicht, durch das, was sie erlebt haben oder durch die Umstände, unter denen sie leben. Wenn du keine Folge verpassen willst, kannst du hier kostenlos meinen Newsletter abonnieren, der dich auf dem Laufenden hält.
Anna, das Erste, was ich dachte, als meine Kollegin Theresa mir von dir erzählte: Oh Gott, ist diese Frau verrückt geworden?!
Nur ein bisschen (lacht). Wahrscheinlich muss man ein bisschen verrückt sein, um das zu machen. Aber ich find’s gut.
Ich muss ehrlich zugeben: Ich stelle mir dein Leben wahnsinnig anstrengend vor.
Ich glaube, ein stationäres Leben in Deutschland als Alleinerziehende mit fünf Kindern wäre anstrengender.
Warum? Was ist so schlimm an Deutschland?
Ich empfinde es hier als nicht sehr kinderfreundlich. Im Ausland begegnen mir die Menschen viel offener. Ich habe dort nicht das Gefühl, dass man sich an den Kindern stört. In der Türkei zum Beispiel gehen die Menschen freudestrahlend auf meine Kinder zu, mit einer großen Herzlichkeit. Ich erinnere mich noch an eine Szene: Eine Frau hat den Kindern mitten auf der Straße Gemüse und Obst geschenkt, das sie gerade erst gekauft hatte. Und natürlich sind wir auf Reisen nicht so in einen fixen Alltag eingebunden, wie wir es in Deutschland wären. Eltern stehen in Deutschland sehr unter Druck. Und Alleinerziehende sind sowieso auf dem absteigenden Ast.
Wie meinst du das?
Alleinerziehende in Deutschland haben das höchste Armutsrisiko. Und gerade, wenn du fünf Kinder hast, wirst du sehr schief angeschaut. Es ist grundsätzlich schwieriger für Alleinerziehende, einen Job zu finden. Dann die ganze Koordination, die so ein Leben bedeutet, Kita, Schule, das ist ein riesiger Aufwand mit fünf Kindern. Also viele Chancen hat man so nicht gerade.
Du würdest wirklich sagen, es ist entspannter, als Alleinerziehende das Leben auf Reisen mit fünf Kindern zu koordinieren als mit ihnen einen Alltag in Deutschland zu organisieren?
Definitiv! Allein schon im Winter: Wenn ich mir vorstelle, ich muss fünf Kinder wintertauglich anziehen, um pünktlich für Kita, Schule und Job mit allen das Haus verlassen zu können! All die Termine, die es einzuhalten gilt! Ich kriege Schweißausbrüche, wenn ich nur daran denke! Solche Termine haben wir im Ausland selten, auch keinen Alltagstrott.
Nicht? Aber deine ältesten beiden Kinder sind 11 und sieben Jahre alt – sind die nicht schulpflichtig?
Nein, weil wir nicht mehr in Deutschland gemeldet sind. Wir sind nirgends gemeldet, weil wir nie so lange an einem Ort bleiben, dass wir meldepflichtig wären.
Das nimmt natürlich viel Stress raus, auch in Sachen Pünktlichkeit. Wo wir gerade bei dem Thema sind: Unsere Leserin Lucia fragt sich, wie du es schaffst, mit allen pünktlich zur Tür raus zu kommen, wenn du zum Flugzeug musst, zum Zug oder zur Fähre?
Das klappt sehr gut. Ich glaube, da steckt die deutsche Pünktlichkeit noch in mir drin (lacht). Ich bin gut organisiert, plane immer genug Pufferzeit ein und erkläre den Kindern genau, was ansteht, also sage sowas wie: „Da müssen wir pünktlich sein, es ist jetzt wichtig, dass das hier funktioniert!“ Meine Kinder haben im Alltag super viele Freiheiten, viel mehr als Kinder mit einem stationären Leben in Deutschland. Und das finde ich gut. Aber sie wissen auch, dass an Reisetagen alle mithelfen müssen, weil wir es sonst nicht schaffen. Klar kriegen die Kleinen manchmal einen Ausraster (lacht), aber mein Trick: Notfall-Süßigkeiten! Die habe ich immer dabei. Wenn genug Essen da ist, kann nicht viel schiefgehen!
Wo wart ihr dieses Jahr schon?
Vier Monate in Mexiko und einen auf Sizilien. Auf unserem Zettel stehen für den Rest des Jahres noch: Marokko, Spanien, danach wieder Mexiko, alle Flüge sind schon gebucht.
Ich dachte, ihr reist mit dem Wohnmobil.
Wir waren lange mit dem Wohnmobil unterwegs. Beziehungsweise: Das Wohnmobil ist eigentlich ein alter LKW, mein damaliger Partner hatte ihn, schon umgebaut, 2016 gekauft. Im Sommer 2017 fuhren wir dann gemeinsam los. So fing alles an. Unser erstes Ziel: Spanien. Reisen im Wohnmobil ist wahnsinnig praktisch, weil man immer alles dabei hat. Und weil es so auch wahnsinnig einfach ist, andere Familien zu treffen, auf dem Campingplatz oder am Strand. Die Kinder müssen nur aussteigen und haben schon neue Freunde zum Spielen.
Und wie reist ihr jetzt?
Ich habe mich Anfang 2020 von meinem damaligen Partner getrennt, da waren wir gerade in Griechenland auf der Peloponnes. Seit der Trennung sind die Kinder und ich allein unterwegs, wir reisen hauptsächlich mit dem Flugzeug oder mit dem Zug, weil ich einen LKW einfach nicht fahren kann. Damit war für mich die Möglichkeit des Vanlifes mit der Trennung von meinem jetzigen Ex-Partner vorbei.
Du bist also gar nicht von Anfang an allein unterwegs gewesen.
Nein, das war ein gemeinsames Projekt von mir und meinem Ex-Partner. Als wir anfingen, unser Reiseabenteuer vorzubereiten, hatte ich schon meine älteste Tochter von meinem Ex-Mann, mit meinem neuen Partner hatte ich mein zweites Kind bekommen, das nächste war in Planung, später kamen dann noch die Zwillinge. Mein Ex-Partner und ich haben gemeinsam knapp 20 Länder bereist, fast ganz Europa gesehen. Die Trennung kam dann kurz bevor die Pandemie losging. Mein jetziger Ex-Partner ist letztlich zurück nach Deutschland gegangen, hat sich in die Arbeit gestürzt. Für mich war Deutschland aber nicht mehr vorstellbar.
Wieso nicht?
Die Vorstellung, in den deutschen Alltagstrott zurückzukehren, fühlte sich komplett falsch für mich an. Man muss so viel funktionieren in einem stationären Leben und hat so wenig Schönes zwischendrin. Außerdem wollte ich nicht, dass die Kinder als Störfaktor empfunden werden, dass man sie komisch anschaut, nur weil wir eine große Familie sind. So ist das aber in Deutschland. Jetzt lebe ich meinen Traum; ich wollte schon als Kind jedes Land der Welt bereisen. Meine Mutter ist viel gereist, ich war als Kind mit ihr auf Bali, in den USA, in Ghana. Auch meine Oma hatte so eine Reiselust.
Scheint in der Familie zu liegen.
Ja, angeborenes Fernweh (lacht). Jedes einzelne Land der Welt muss es mittlerweile nicht mehr für mich sein. Aber ich möchte noch ganz viel sehen und auch meinen Kindern ganz viel von der Welt zeigen.
Wie ging es weiter, nachdem klar war, du und dein jetziger Ex-Partner, ihr bleibt nicht zusammen?
Als ich mich in Griechenland von ihm trennte, sagte ich: „Ich steige hier jetzt aber nicht mit den Kindern aus dem Wohnmobil aus, weil wo sollen wir denn hin?” Das Wohnmobil war ja unser Zuhause. Ich habe gesagt: „Ich brauche für die Kinder und mich ein sinnvolles Zuhause, einen Ort, an dem wir gut sein können.“ Deshalb sind wir dann erstmal nach Kroatien gereist.
Moment, ihr seid dann zunächst noch zusammen weitergefahren, dein Ex-Partner, die Kinder und du?
Ja. Zu einer Freundin nach Kroatien, die dort ein großes Stück Land besitzt, wo auch andere Familien waren. Dort haben wir dann noch eine Weile im Wohnmobil gelebt. Es war wahnsinnig anstrengend, dorthin zu kommen, natürlich, denn wir hatten uns ja gerade getrennt. Nachdem wir in Kroatien angekommen waren, hat mein Ex-Partner es dann noch per Flug zurück nach Deutschland geschafft; wegen Corona machten die ersten Länder die Grenzen dicht. Aber mir ging es gut in Kroatien. Ich konnte endlich auftanken, habe jeden Tag meditiert, mit den Zwillingen Mittagsschlaf gehalten, gutes und hochwertiges Essen gekocht. Und dann kehrte endlich die Leichtigkeit in mein Leben zurück. Ich brauchte eine Weile, um mich von der zerrütteten Beziehung zu erholen, aber vor allem auch von der anstrengenden Anfangszeit mit den Zwillingen. Und das habe ich in Kroatien gemacht.
Trotz deines Fernwehs: Hattest du nach der Trennung keine Angst, alleine weiterzuziehen? Ich meine: Fünf kleine Kinder, die jüngsten gerade mal ein Jahr und einen Monat alt, und dann alleine unterwegs – im ersten Moment klingt das nach absoluter Hybris!
Doch, ich hatte ein großes Sicherheitsbedürfnis. Weil ich ja nicht wusste, wie es alleine sein würde, mit den Kindern. Ich wusste nur, dass es superwichtig für uns sein würde, andere Kinder in der Nähe zu haben, Kontakte zu anderen Familien zu finden. Immer, wenn wir das hatten, auch schon in der Wohnmobil-Zeit, war das Leben unterwegs mit den Kindern entspannter.
Wenn dein Sicherheitsbedürfnis so groß war, wie hast du es trotzdem geschafft, dich mit den Kindern in diese unsichere Situation zu begeben? Der Angst nicht nachzugeben?
Ich wusste einfach, ich würde zurück in Deutschland todunglücklich werden. Mir ist es total wichtig, dass es den Kindern gut geht. Und ich glaube, die Basis dafür ist, dass es mir gut geht.
„Ich wusste einfach, ich würde zurück in Deutschland todunglücklich werden.“
Anna
Klingt super. Aber wenn ich mir vorstelle, ich wäre in deiner Situation gewesen damals: Ich glaube nicht, dass ich den Mut aufgebracht und es durchgezogen hätte. Wie bist du so mutig geworden?
Weniger denken, mehr machen? Keine Ahnung (lacht)! Ich bin schon eine, die gerne die eigene Komfortzone verlässt. Aber ich empfinde mein Leben nicht als so schwer, oder als so außergewöhnlich. Und mir ist schon bewusst, dass ich sehr gute Startbedingungen hatte für diese Lebensweise. Dass beide Väter die zum Beispiel unterstützen, dass sie Unterhalt zahlen. Aber ich glaube, es ist wichtig für jeden, die Möglichkeiten zu sehen, die sich bieten. Immer nur Stress, der graue Winter Deutschlands und das Warten auf den Sommer – das kann doch nicht das Leben sein?
Du bist jetzt 39, warst 27, als du dein erstes Kind bekommen hast. Mit 34 ging dein Reiseleben los. Wieso hast den Traum vom Nomadendasein nicht schon früher gelebt, bevor die Kinder kamen? Wäre doch viel einfacher gewesen.
Ich bin in ein klassisches Leben reingerutscht: Nach dem Abi zog ich mit meiner besten Freundin zusammen, schaute, was man denn in Hannover studieren kann. Das war mein Kriterium für die Wahl meines Studienfachs, Diplom-Redakteurin ist es dann geworden. Ich habe an einer Fachhochschule gelernt, wie man Bedienungsanleitungen schreibt. Noch im Studium hatte ich einen Texter:innen-Job in der Internetagentur, in der ich nach dem Studium eine Festanstellung bekam. Mit 25 Jahren war ich verheiratet mit dem Vater meiner ältesten Tochter, wir hatten eine schöne große Wohnung hier in Hannover, ich hatte ganz klassisch einen Bürojob, 40 Stunden die Woche. Das war alles okay; wir hatten kein schlechtes Leben. Aber ich hatte damals schon Fernweh. Immer eigentlich. Wenn ich zum Beispiel irgendwo Berichte von Dauerreisenden las oder im Fernsehen schaute, dachte ich immer: „Wow, das will ich auch machen!“
Wieso hast du es damals noch nicht gemacht?
Weil ich noch keine Idee davon hatte, wie das Nomadenleben funktionieren könnte. Ich hatte Barrieren in meinem Kopf, habe mir zum Beispiel gesagt: „Andere kriegen das hin – du aber nicht. Du bist doch ein Schisser!“ Ich hatte einfach keine Idee, wie ich, Anna, diesen Traum allein umsetzen kann. Stattdessen hatte ich viel zu viele Zweifel im Kopf.
Was hat dir geholfen, die Zweifel zu überwinden?
Sich andere Leute anzuschauen, die den Traum vom Nomadendasein schon leben. Um zu sehen, was alles möglich ist, dass man es wirklich hinkriegen kann. Mir hat auch geholfen, konkret in Lösungen zu denken. Und als wir noch in Deutschland waren, bin ich mit meinen beiden Großen nach Ägypten gereist, die beiden waren damals fünf und ein Jahr alt. Ich wollte das allein machen, obwohl ich soviel Angst hatte. Aber ich wollte mir damit beweisen: „Ich kann das!“ Ich glaube, Wachstum passiert dann, wenn man die eigene Komfortzone verlässt. Und sich immer wieder selbst herausfordert.
Glaubst du, man macht zu viele Pläne im Leben?
Auf jeden Fall! Ich habe zum Beispiel auch nie geplant, so viele Kinder zu haben. Jetzt habe ich sie aber (lacht). Und ich bin jetzt schon genervt davon, dass ich für unsere nächsten Reisen so weit im Voraus planen muss, wegen der Flüge. Dabei ist das Schönste am Reisen: Die Freiheit, die Flexibilität, zu sagen: Was brauchen wir heute? Was wollen wir machen? Ich muss mich nicht dauerhaft festlegen: Ob ich auf dem Land oder in der Stadt leben will, an diesem oder jenem Ort. Weil ich weiß, ich kann wieder aufbrechen, für uns als Familie etwas Neues suchen.
Was man dafür ja braucht: Kohle. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Dabei ist die Geldfrage die, die am häufigsten aus unserer Community kam, auch unser Leser Sebastian will wissen: Wie finanzierst du euer Leben unterwegs?
Ich kenne sehr viele Reise-Familien, und viele davon reisen mit einem kleinen Budget. Das geht. Ich habe Erspartes, ich bekomme Unterhalt, ich jobbe von unterwegs als selbstständige Texterin, schreibe also Website-Texte, Newsletter, redigiere Texte. Außerdem habe ich gerade ein Buch über das Reisen als Alleinerziehende geschrieben und biete einen Email-Kurs für andere Alleinerziehende an, den „Mutmach“-Kurs. Ich will anderen helfen, eigene Glaubenssätze zu überprüfen und herauszufinden, was man wirklich will.
Wie viel Geld hast du monatlich zur Verfügung?
Rund 2500 Euro. Das Wichtigste aber ist, dass wir sehr minimalistisch leben. Wir versuchen, kostengünstig Lebensmittel einzukaufen; wir essen vegan, also fällt auch teures Fleisch weg. Wir brauchen wenig Kleidung, kaufen wenn, dann second hand. Die Kinder haben wenig Spielzeug, wir kaufen nicht viel Neues. In Mexiko musste ich an mein Erspartes gehen, weil die Kinder dort im Waldorfkindergarten und in der Waldorfschule waren, was ich ja bezahlen musste. Und man darf nicht vergessen: Ich spare Fixkosten. Ich habe beispielsweise keine Heizkosten, weil ich in der Regel in südlichen Ländern unterwegs bin, wo man aufgrund der Temperaturen nicht heizen muss. Und ich habe auch keine Kosten für eine überteuerte Mietwohnung.
Ihr habt also wirklich außer der Dauer-Parzelle auf dem Campingplatz in Hannover keinen Ort, der im Zweifel hier in Deutschland auf euch wartet?
Nein. Ich empfinde das aber als sehr entlastend. Man sagt ja gerne: „Eigentum verpflichtet.“ Mich stresst es, wenn ich Eigentum habe irgendwo, Besitz, um den ich mich kümmern muss. Mir reichen die zwei Wohnwagen, die auf unserer Dauer-Parzelle stehen. Ich glaube, das entspannteste Leben hätte man, wenn man nur einen Rucksack hätte fürs Leben – und das war’s.
Ihr reist demnach auch mit möglichst wenig Gepäck?
Genau. Anfangs dachte ich, das würde nicht gehen, ohne Wohnmobil. Aber es geht! Wir sind so minimalistisch unterwegs, dass alle unsere Sachen für sechs Personen in drei Koffer passen! Zusätzlich hat jedes Kind noch einen Rucksack, ich auch. Wir haben einen großen, einen mittleren und einen kleinen Koffer. Den kleinen können sogar schon die Zwillinge ziehen.
Und wie lebt ihr unterwegs? Schlaft ihr im Zelt?
Das ist ganz unterschiedlich: Auf Sizilien haben wir zum Beispiel bei Freund:innen auf einem Stück Land in einem großen Zelt gelebt, das ich dort gekauft hatte. Das Zelt wiegt über 30 Kilo und ist in Sizilien geblieben; es wartet auf uns, wann immer wir zurückkommen. Und in Mexiko habe ich über eine Maklerin eine möblierte Wohnung gefunden.
Ich stelle mir dieses Leben immer noch sehr herausfordernd vor.
Ich muss natürlich funktionieren als Mutter, anders geht es nicht, vor allem nicht unterwegs. Weil da wirklich niemand ist, an den ich die Kinder abgeben kann. Kein Partner, keine Kita, keine Oma, keine beste Freundin. Es gibt Situationen auf Reisen, die wahnsinnig anstrengend sind, egal, wie gut man organisiert ist. Zum Beispiel, wenn ich krank bin.
Was machst du, wenn du dich mal überfordert fühlst?
Radikale Selbstfürsorge ist mir sehr wichtig. Wenn ich anfange, die Kinder anzuschreien, dann sehe ich das als Alarmsignal, dass ich mich nicht gut genug um mich selbst gekümmert habe. Denn ich möchte natürlich meine Kinder nicht anschreien. Dann frage ich mich, welches meiner Bedürfnisse zu kurz gekommen ist. Habe ich genug geschlafen? Genug Sport gemacht? Genug und gut gegessen?
„Radikale Selbstfürsorge ist mir sehr wichtig. Wenn ich anfange, die Kinder anzuschreien, dann sehe ich das als Alarmsignal, dass ich mich nicht gut genug um mich selbst gekümmert habe.“
Anna
Jede Mutter, die deine Worte liest, wird jetzt wahrscheinlich neidisch und denkt: „Hört sich ja super an, aber wie schafft die Frau es denn, bei fünf Kindern auf ihre Bedürfnisse zu achten?“
Meine Kinder sind sehr selbstständig, ich lasse die einfach machen. Die Großen ziehen alleine los und erleben Abenteuer. Als wir in Griechenland am Strand waren, sind sie mit anderen Kindern ganze Tage draußen herumgestromert. Ich finde das super, auch diese Selbstwirksamkeit, die die Kinder erleben. Und ich bin sehr pragmatisch geworden: Ich fordere von meinen Kindern Zeit für mich selbst ein, ich sage auch mal „Nein“. Das muss man als Mutter aushalten können.
Wie meinst du das, aushalten können?
Ich bin sehr gut geworden im Loslassen. Ich muss meine Kinder zum Beispiel nicht immer bestmöglich unterhalten oder bespaßen. Wenn ich krank bin, dürfen sie eben viel auf dem Tablet schauen. Ich bin milder geworden in meinem eigenen Anspruch. Manchmal sind wir eben nur im Überlebensmodus, da geht es nicht um die beste Quality time. Das ist okay in den schwierigen Momenten. Meine Kinder wissen, dass sie absolut geliebt werden. Aber sie wissen auch, dass ihre Mutter ebenfalls ein Mensch ist, der Bedürfnisse hat. Ich glaube, es ist sehr wichtig, den Kindern dieses Wissen mit auf den Weg zu geben. Weil sie sonst lernen: Es ist normal, dass in einer zwischenmenschlichen Beziehung immer einer seine Bedürfnisse für den anderen nicht lebt. Daraus erwachsen aber eher toxische Beziehungen, denke ich.
Wo wir gerade über Bedürfnisse sprechen: Was ist mit dem Bedürfnis der Väter, ihre Kinder zu sehen? Finden die das okay, wenn die Kinder so viel unterwegs sind?
Es ist natürlich schade, dass sie ihre Kinder so wenig sehen. Gleichzeitig aber finden beide das Leben, das unsere Kinder haben, schön und gönnen ihnen das. Sie wollen dem nicht im Wege stehen, weil sie sehen, dass die Kinder davon profitieren. Mein Ex-Partner, der Vater meiner jüngsten vier Kinder, hat uns unterwegs auch schon besucht, auf Sansibar sogar für zwei Monate. Und wenn wir im Sommer für mehrere Wochen in Hannover sind, sehen die Kinder ihre Väter natürlich viel.
Vermissen die Kinder ihre Väter nicht?
Sie sind gerne bei ihren Vätern. Die Kinder freuen sich immer auf ihre Papas, natürlich vermissen sie ihre Väter. Aber sie wissen auch, dass sie sie einfach nicht dabei haben können, wenn wir auf Reisen sind.
Wie reagierst du, wenn eines der Kinder sagt: „Ich vermisse Papa!“?
Wenn sie fragen, wann sie ihren Papa wiedersehen, reden wir darüber. Die Kinder können ihre Väter auch jederzeit per Videocall anrufen. Es ist nicht so, dass es gar keinen Kontakt gäbe in der Zeit, in der wir unterwegs sind.
Findest du nicht, du nimmt den Kindern durch das Reisen auch viel, beispielsweise die Möglichkeit auf ein festes Umfeld, auf feste Bindungen?
Man zahlt immer einen Preis, egal für welches Leben man sich entscheidet und egal, wie traumhaft sich das alles vielleicht zunächst anhört in meinem Fall. Das ist mir sehr bewusst. Wenn die Leute zu mir sagen: „Oh, ich würde auch gern so leben wie ihr!”, denke ich: „Ja, wieso machst du es dann nicht?“ Weil die meisten Menschen nicht bereit sind, den Preis dafür zu zahlen. Zum Beispiel: Man ist weit weg von der Familie in Deutschland. Aber wir sind sechs Personen, die fünf Kinder und ich. Dadurch haben sie ja ein festes Umfeld, wir sind eine Gruppe. Ich versuche außerdem, uns mit anderen Familien zu vernetzen, schon bevor wir irgendwo ankommen. Meine Große spielt außerdem gerne Minecraft, sie ist über Discord mit zahlreichen Reisefreund:innen verbunden, sie hat ein Netz von Menschen auf der ganzen Welt.
Trotzdem: Der Moment des Aufbrechens, des wiederkehrenden Abschiednehmens, ich stelle mir das schwer vor für deine Kinder. Wenn sie gerade erst eine neue Freundin oder einen neuen Freund gefunden haben an einem Ort.
Die Abschiede gehören dazu, aber sie sind schwer, auch für mich. Wobei die Kinder das eigentlich lockerer nehmen als ich. Tatsächlich hat meine älteste Tochter sich in den letzten Wochen aber ein paar Mal beschwert. Sie hat gesagt, sie wünscht sich mal längere Freundschaften, und nicht nur temporäre.
Die Kinder können also mitbestimmen?
Ich bin viel mit ihnen im Gespräch. Ich nehme ernst, was sie sich wünschen. Und ich rechne auch ein bisschen damit, dass irgendwann der Punkt kommt, gerade für meine Älteste, an dem verstärkt der Wunsch aufkommt, an einem Ort zu bleiben. Wir sind flexibel. Es ist nicht in Stein gemeißelt, dass wir für immer weiterreisen, nur weil ich unbedingt meinen Traum leben möchte.
Darauf zielt auch die Frage, die unser Leser Wolfgang mir für dich mitgeschickt hat. Er wüsste gern, was du machst, wenn ein Kind einfach keinen Bock mehr auf diesen Lebensstil hat und sagt: „Ich will nach Hause, nach Deutschland, und einfach dort bleiben!“
Das ist bis jetzt noch nicht passiert. Aber dass die Kinder in Mexiko im Kindergarten beziehungsweise in der Schule waren, kam daher, dass meine älteste Tochter gesagt hat, sie möchte mal wieder zur Schule gehen. Wir werden ja nach Mexiko zurückkehren, dann ein halbes Jahr dort bleiben. In dieser Zeit wird meine Älteste wieder in dieselbe Schule gehen, dieselbe Klasse besuchen. Darauf freut sie sich schon.
Wie fühlt sich der Gedanke für dich an, wieder sesshaft zu sein?
Sehr einschränkend. Wirklich so, als könne ich nicht atmen. Selbst außerhalb von Deutschland kann ich mir das nicht vorstellen. Mexiko zum Beispiel: Ich fand es so schön dort, wir haben uns dort sehr wohlgefühlt, weswegen wir ja auch nochmal hinfliegen. Aber trotzdem würde ich mich dort nicht niederlassen wollen. Mich reizt zu viel anderes. Asien zum Beispiel.
Wie händelst du das Thema Schule, wenn ihr unterwegs seid? Unsere Leserin Irmtraud fragt sich etwa, ob du die Kinder selbst unterrichtest.
Mir ist es ganz wichtig, dass die Kinder die Basics lernen: lesen, schreiben, rechnen. Die bringe ich ihnen bei. Alles andere ist flexibel, denke ich. Die Kinder lernen viel durch das Reisen selbst. Meine große Tochter ist ein Jahr in Deutschland in die Grundschule gegangen. Aber das hat ihr nicht besonders gutgetan. Es war ihr zu laut, zu viel. Unterwegs hat sie dann quasi von selbst Englisch gelernt. Und mein ältester Sohn ist unglaublich gut in Mathe.
Machst du dir trotzdem manchmal Sorgen um die Zukunft der Kinder? Unsere Leserin Monika, die selbst vier Kinder hat, zweifelt zum Beispiel an, ob dieses Bildungskonzept für die Kinder so aufgehen kann.
Nein, mittlerweile mache ich mir keine Sorgen mehr. Erstens kann man zum Beispiel in Deutschland sein Abitur oder seinen Realschulabschluss machen, ohne einen einzigen Tag in der Schule anwesend gewesen zu sein. Zweitens habe ich durch das Reisen so viele Menschen kennengelernt, die jetzt auch nicht mehr das machen, was sie in ihrer Ausbildung oder im Studium gelernt haben. Der eigene Horizont weitet sich sehr durchs Reisen. Ich habe gesehen, was noch alles möglich ist, abseits des klassischen Weges, der aus Abschluss, Ausbildung oder Studium und dann 40 Jahren im Job besteht. Meine Kinder lernen von früh auf andere Skills.
Welche denn?
Lebenspraktische Kompetenz zum Beispiel. Sie kommen klar, sie lernen, wie weit die Welt ist, sie sind kontaktfreudig, selbstständig. Das sind Dinge, die mir wichtig sind. Und wenn sie sich doch für den klassischen Weg entscheiden, werde ich mich nicht dagegen stellen. Dann können sie das später immer noch machen.
Was hast du selbst gelernt an lebenspraktischer Kompetenz, durch das Reisen?
Sehr viel Selbstvertrauen. Dass ich auf mein Bauchgefühl vertrauen kann und auch sollte. Ich weiß heute, dass ich das alles hinkriege.
Wer sich für Annas Mutmachkurs interessiert, findet ihn hier weitere Infos.
Redaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Fotos: privat, Schlussredaktion: Theresa Bäuerlein, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert