Es passierte so: Auf TikTok nahm mich eine junge Frau eine Minute lang mit in ihr Gehirn. Ich dachte: Hey, das kenne ich irgendwoher. Auf Youtube bekam ich daraufhin von einer anderen jungen Frau Tipps, wie ich es schaffe, trotz meiner ADHS (= Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) meine Zimmerpflanzen nicht verrecken zu lassen. Mit Erfolg. Bisher haben alle Pflanzen den Sommer überlebt!
Okay, ich habe keine echte ADHS-Diagnose. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Menschen in meiner Timeline diagnostiziert sind. Trotzdem ist meine Timeline in letzter Zeit voll mit der Verhaltensstörung.
Die Probleme, die viele beschreiben, erkenne ich dann auch bei mir, immerhin heißt dieser Newsletter sogar Hyperfixation – wie ein Symptom von ADHS. Je länger und tiefer ich mich in die ADHS-Bubble eingrabe, desto eher frage ich mich: Bin ich etwa doch krank? Lassen sich alle Schicksalsfragen meines Lebens mit vier Buchstaben erklären?
Das Phänomen, dass eine Krankheit plötzlich auftaucht, ist nicht neu und nennt sich „mass sociogenic illness“. Es handelt sich um eine Art Epidemie eines Verhaltens, die durch eine Psychologie der Massen entsteht. Die Menschen sind nicht wirklich „krank“, sondern reagieren gemeinsam auf ein gesellschaftliches Ereignis. Letztes Jahr, während der Pandemie, entwickelten auf einmal hunderte Jugendliche Ticks und vermeintliche Tourette-Symptome. Alles befördert durch Videos auf Social Media, nur um dann wieder zu verschwinden, wenn der Hype vorbei ist. So hatte es auch die Psychiaterin Dr. Kirsten Müller-Vahl erwartet und im Spiegel gesagt: „Das Phänomen wird wieder abflauen – und hoffentlich schneller, wenn darüber in der Öffentlichkeit und nicht nur in Fachkreisen berichtet wird.“
Passiert jetzt das gleiche mit ADHS?
Tatsächlich steigt die Zahl der diagnostizierten ADHS-Fälle bei Erwachsenen seit Jahren – bei Kindern zumindest bis 2015. Es sprechen auch mehr Menschen über ihre ADHS. War die Krankheit früher als Zappelphilippsyndrom verschrien, das sich mit dem 18. Geburtstag verabschiedet, schreiben heute Journalisten GEO-Titelgeschichten über ihre Krankheitsgeschichte und das Leben als Erwachsener damit. Andere informieren in ihren Tinder-Profilen, dass sie „neurodivergent“ oder „neurodivers“ seien, ein Sammelbegriff für verschiedene psychische Erkrankungen, unter den auch ADHS, Autismus, Lese-Rechtschreibschwäche und Depressionen fallen. Es ist kein medizinischer Begriff, sondern kommt aus der Soziologie und soll zeigen, dass es keine „normalen“ Verhaltensweisen gibt.
Vom TikTok-Video zur Selbstdiagnose
Die ADHS-Bubble im Internet ist riesig. Es gibt Foren für Erwachsene, Youtube-Kanäle, in denen ich zum Beispiel mit „Hello Brains“ begrüßt werde, Subreddits mit ADHS-Memes und der englische Hashtag #ADHD hat auf Instagram 2,8 Millionen Beiträge. So wird das Internet zu einer gewaltigen Selbsthilfegruppe: Jede:r kann und soll seine Geschichte erzählen. Von den kleinen Alltagsschwierigkeiten wie der ständig vergessenen Brille bis hin zum großen Scheitern, wenn Job und Beziehung durch die Krankheit zerstört werden.
Wer einmal in diesen Strudel aus „Hey, das kenne ich von mir“ gerät – und das geht schnell – bekommt genügend Möglichkeiten zur Selbstdiagnose. Laut den (echten) psychologischen Fragebögen, sollte ich übrigens wirklich dringend mal zum Arzt gehen. Warum ich es trotzdem vermutlich nicht tun werde? Nicht jedes hibbelige Bein ist Hyperaktivität, nicht jedes Eichhörnchen, dem man hinterherguckt gleich eine ganze ADHS. Bei manchen Verhaltensweisen wird mir auch kein Medikament helfen können. Aber da geht das Problem direkt weiter: In Deutschland einen Termin für eine ADHS-Diagnostik zu bekommen ist nicht so leicht, von einem Therapieplatz ist da noch nicht die Rede. Wartezeiten von einem halben Jahr oder länger sind keine Seltenheit.
Was folgt, ist der Rückzug in die Internet-Selbsthilfegruppe. Dort gibt es Zuspruch, Hilfen bei der Selbsttherapie und Tipps, den Alltag zu bewältigen. Zimmerpflanzen auf der ganzen Welt atmen erleichtert auf. Und ja, eine echte Therapie oder Diagnose wird das nicht ersetzen können. Den Kommentaren unter den Youtube-Videos nach helfen die Tipps und das Gemeinschaftsgefühl vielen Betroffenen schon sehr. Ein Beispiel: Menschen mit ADHS vergessen oft zu essen und zu trinken und wenn sie kochen, endet der Versuch im Chaos, wenn Pfannen, Töpfe und der Ofen gleichzeitig nach Aufmerksamkeit schreien, während einem einfällt, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt für Zähneputzen wäre, was natürlich nur mit einem Youtube-Video als Bespaßung funktioniert.
In diesem Video zeigt die Youtuberin Jessica McCabe Rezepte, die auch mit ADHS funktionieren sollen. Oder auch nicht. Denn McCabe scheitert beim Kochen und lässt den Teil, in dem sie weint und wütend wird, im Video. Die Reaktion in einem auf Perfektionismus getrimmten Internet: „Honestly as someone who’s just learning about my adhd and seeing your mini meltdown really just made me feel human. like a real being. thank you for doing this.“
Das ist übrigens das, was mich schon immer am Internet fasziniert hat: Selbsthilfe gibt es überall und wenn sie so unschädlich ist, wie reizarme Kochvideos für Menschen mit ADHS-Symptomen, dann ist das Internet gar nicht so kaputt, wie viele sagen.
Redaktion: Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Fotoredaktion: Lisa McMinn, Audioversion: Christian Melchert