Wir sehen eine Nahaufnahme einer Frau mit grauen Haaren, die in die Ferne sieht.

© Martin Gommel, Krautreporter

Leben und Lieben

Coming-out: So beginnst du das Leben, das du wirklich willst

Fünf queere Menschen haben mir erzählt, wie sie es geschafft haben, zu ihrer Liebe zu stehen – und so endlich sie selbst zu sein.

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Jede Lebensentscheidung ist anders. Manche werden laut herausgeschrien, andere leise beschlossen. Einige treffen wir kurz entschlossen, andere in kleinen Schritten – oder nie.

Im Leben queerer Menschen gibt es eine Entscheidung, die vielen gemeinsam ist: das Coming-out. Also die Entscheidung, vor sich selbst oder anderen zur eigenen Identität zu stehen. Auch diese Geschichten verlaufen ganz unterschiedlich. Aber alle erzählen davon, wie es ist, gegen Widerstände zu sich selbst zu stehen. Denn in einer heteronormativen Gesellschaft queer zu begehren, braucht Mut.

Wie macht man das, so radikal zu sich zu stehen? Fünf Menschen haben mir von ihrem Coming-out erzählt.

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Als ich entdeckte, dass ich lesbisch sein könnte, war ich schon 30. Ich lebte mit einem Mann, hatte ein Kind und machte auf Kleinfamilie. Ich war nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich.

Wir sehen eine lächelnde Frau mit grauen Haaren, die vor ihrem Haus und einem Baum steht.

Dann begann ich, in einem Frauenhaus zu arbeiten, da sah ich die ersten Lesben meines Lebens. Bei einem unserer Feste tanzte ich mit einer Frau, das war der Moment, in dem ich dachte: Oh, da berührt mich etwas. Ich lud sie ein zum Kaffee, war Feuer und Flamme und sagte zu ihr: „Ich habe mich in dich verliebt!“ Aber die wollte nichts von mir. „Das ehrt mich, aber Hände weg von Hetero-Frauen“, war ihre Antwort.

Da dachte ich: Du musst das jetzt klären. Ich sagte meinem Freund, dass ich mich in eine Frau verliebt hatte, suchte ihm eine Wohnung und half ihm sogar, die zu renovieren, damit er auch wirklich auszieht. Dann war ich frei.

Beim ersten Mal mit meiner Freundin lag ich da wie ein Stock. „Oh Gott, mache ich alles richtig? Wie mache ich es denn? Wie fange ich an?“ Bei Männern wusste ich sehr genau, welchen Knopf ich drücken musste. Aber meinen ersten Orgasmus hatte ich mit einer Frau. Es war das, was ich immer gewollt und nie gekriegt hatte, der Körper, den ich mir immer gewünscht hatte und meine Erotik. Es war meine Offenbarung.

Als meine Familie zum ersten Mal mit meiner Freundin am Tisch saß, hat mein Vater gefragt: „Wieso fasst ihr euch dauernd an? Wieso umarmst du die?“ Als ich ihm sagte, dass ich lesbisch lebe, hat er sich geweigert, mich zu besuchen. Das war sehr schwierig für mich, denn ich habe meinen Vater wirklich geliebt. Aber er musste aus meinem Leben gehen.

Ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, mich zu verstecken. Jedem, der in so einer Situation ist wie ich damals, würde ich sagen: Probiere dich aus. Und gucke, wo dein Herz dich hinführt.

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In dem Dorf, aus dem ich komme, gab es keine queeren Vorbilder. Ich wusste nicht einmal, ob meine Eltern queere Menschen kennen. Die dörfliche Sozialisation bringt mit sich, dass man denkt, es ist schwer, sich zu outen.

Wir sehen eine junge Frau, die in einem Park steht. Sie trägt einen roten Pullover und einen braunen Sakko.

Als ich 18 war, habe ich mich auf einer Party unsterblich verliebt. Ich
stand auf dem Klo und habe gefragt, ob jemand ein Haargummi dabeihat. Eine Frau kam auf mich zu, hat mir ihre Spange gegeben und gesagt: Die will ich aber wiederhaben.

Damals fragte ich mich schon manchmal, warum ich Männer nicht so spannend finde wie meine Freundinnen. Aber ich hatte vorher kein inneres Coming-out. Nach dieser Nacht hat es sich plötzlich leichter angefühlt. Wir haben uns immer wieder an der Bar getroffen, saßen stundenlang draußen und haben geredet.

Kurze Zeit später habe ich es meiner Familie erzählt: „Leute, ich hab mich verliebt, sie heißt Lisa.“ Und alle waren so: „Ah, cool.“ Mein Vater fand es nur schade, dass ich ihm überhaupt zugetraut hatte, er könne ein Problem damit haben.

Trotzdem muss ich mich immer wieder gegen Erwartungen wehren. Meine Cousine und meine Schwester haben mit Anfang 20 ihre Partner kennengelernt, wohnen zusammen, einige haben Kinder. Dieser Entwurf wurde lange auf mich übersetzt. Eine Zeit lang dachten meine Ex und ich über Hochzeit nach. Wir wollten beide nicht schwanger werden und Adoption stand im Raum. Dafür hätten wir einen gemeinsamen Wohnsitz haben oder heiraten müssen. Ich habe das als Zwang erlebt. Meine Familie aber hätte es total schön gefunden, hätten wir geheiratet. Meine Mutter hat es irgendwann verstanden – aber eben erst, nachdem ich immer wieder erklärt habe, dass die Ehe für mich kein romantisches Konzept ist.

Zurzeit lebe ich polyamor und treffe verschiedene Leute. Da spüre ich jetzt die nächste Grenze bei meiner Familie, gegen die ich mit meinem Lebensentwurf stoße. Jedes Mal braucht es Zeit und Geduld, bis sie mich verstehen. Wie ich lebe, irritiert sie. Aber es lohnt sich, das Gespräch zu suchen, auch wenn es ihnen fremd bleibt. An Weihnachten hat mir meine Mutter ein Buch über Polyamorie geschenkt.

Nick, 18: Wie man Schritt für Schritt zu sich kommt

Ich war immer ein kleiner Junge. Musste ich einen Rock anziehen, habe ich gebockt und mich gegen die Tür geworfen. Als ich zehn oder elf Jahre alt war schrieb ich meiner Mutter einen Brief: Ich will Nick sein. Sie war schockiert und wollte es nicht glauben.

Wir sehen einen jungen Mann, der mit Baseballcap in die Kameraschaut.

Ein Psychologe stellte dann Geschlechtsdysphorie und Transsexualität fest. Ab da war meine Mutter meine größte Unterstützung. In der Schule wurde ich gut angenommen, durfte mit den Jungs Sport machen und habe mit den Lehrern abgequatscht, dass ich Nick heiße.

Dann wechselte ich zur siebten Klasse die Schule und bekam einen Schlag in die Fresse: Die Schulleitung akzeptierte meinen Namen nicht und ich stand bei den Mädchen im Klassenbuch. Ich stand heulend im Unterricht und schrie meine Lehrer an. Ich flog aus der Klasse und bekam schlechte Noten. Irgendwann strich ich im Klassenbuch meinen Namen durch und schrieb darunter: „Nick“.

Dann kam ein Brief vom Amtsgericht, A4-Format und dick. Ich habe diesen
Brief gesehen, habe ihn aufgemacht, meine Mutter angeschaut und wir haben beide angefangen zu weinen. Ab da war es offiziell: Das alte Ich gibt es nicht mehr, nur noch Nick. Wieder ein Schritt näher, wieder was abgehakt.

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Erst dann hat auch die Schule mich anerkannt, wir haben die Zeugnisse rückwirkend geändert und das Klassenbuch. Der Schulleiter musste mit den Jungs aus meiner Klasse reden, dass ich beim Sportunterricht mit denen in die Umkleide gehe. Die meinten nur: „Wird ja auch mal Zeit.“ Beim ersten Mal in der Jungs-Umkleide war ich wie ein kleines Kind, das sich über ein Überraschungsei freut. Jetzt ist es zu Ende, hab ich gedacht, jetzt ist der Krieg vorbei.

Was obenrum angeht, kann ich mich mittlerweile gut leiden. Ich könnte bisschen mehr Muskeln haben und ein bisschen weniger Akne, aber naja. Als Nächstes steht die Geschlechtsangleichung an. Zurzeit habe ich Krieg mit
meiner Krankenkasse, dass die die Kosten übernehmen, weil ich die
Geschlechtsangleichung in einer Privatklinik in Potsdam machen lassen möchte.

Diese Klinik ist darauf spezialisiert, da hast du maximal zwei bis drei OPs. Ich will das Non-Plus-Ultra, ich will es schön haben, denn ich muss damit leben und meine Freundin auch. 52.000 Euro für einen Penis. 3.000 Euro habe ich schon gespart.

Es ist noch ein weiter Weg bis dahin. Mein Weg wird nie ganz fertig sein, ich werde immer die Hormone nehmen müssen. Klar liege ich manchmal im Bett und mache mir Sorgen. Aber ich glaube, der Weg hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Ich würde nie mein Leben ändern wollen, ich liebe mein Leben, so wie es ist.

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Ich habe mich immer wieder mal in Jungs verliebt. Aber ein Wort habe ich absolut gemieden: schwul. „Schwule Sau“, hörte ich auf dem Schulhof. Und im Schulbus wurden wir von älteren Jungs so gehänselt. Ich dachte, ich darf nicht schwul sein, allein der Anschein oder Verdacht wären fatal. Die Gefühle zu verdrängen, war aber wie emotionaler Atommüll. Es brodelte in mir. Ich ging sogar zu einer Geistheilerin, die mir etwas Verschwurbeltes erzählte, aber den Kampf mit der Scham, den hat sie nicht gestoppt.

Wir sehen einen Mann mit langen Haaren und Bart, der auf einer Straße steht und in die Kamera lächelt.

Da habe ich gemerkt, dass ich mit Freunden und meiner Familie darüber sprechen muss. Ich hatte einen ziemlich konservativen Vater in Frankreich. Jedes Mal, wenn ich ihn in den Ferien besuchte, fragte er: Was ist denn jetzt mit deiner Freundin?

Ich schrieb ihm einen Brief. Damals gab es eine Coming-out-Hilfe von einer schwul-lesbischen Initiative, die haben Textblöcke vorgeschrieben, wie man es am besten seinen Eltern erzählt. Ich übersetzte das auf Französisch und wandelte es noch ein bisschen ab. Ein paar Wochen später rief ich an. Und dann donnerte mein Vater los: „Du als Historiker müsstest doch wissen, dass alle großen Kulturen an Homosexualität zugrundegegangen sind! Du bist gerade dabei, dein Leben zu zerstören.“

Nach dem Gespräch brach mein Vater den Kontakt einfach ab. Als er später wieder heiratete, lud er mich aus. Da war Scham. Die reine Scham, dass ich als Sohn meines Vaters und als Enkel meines Großvaters, die sehr patriarchalische Männer waren, eine Enttäuschung bin.

Ich zog nach Berlin. Meine Freunde gingen aus, zum Beispiel in die schwule Sauna und auf Festivals. Ich war dabei immer außen vor. Es gibt ein äußeres, soziales Coming-out und es gibt ein inneres, beides geht nicht unbedingt Hand in Hand. Ich stand mir selbst noch eine Weile im Weg und es gab Momente, in denen ich das Coming-out bereut habe. Aber ich konnte auch nicht mehr zurück. Das hat meinen Kampfgeist geweckt und dazu beigetragen, dass ich mit den Zweifeln im Laufe der Zeit besser umgehen konnte.

Jona, 32: Wie man einen Namen ablegt

Ich hatte viele verschiedene Namen. Mal hieß ich Momo, dann Leo. Das war lange nur ein Spiel für mich. Ich hatte aber schon immer das Gefühl, dass ich keine Frau bin. Da war etwas komisch, also musste ich mir Gedanken machen, wie es weniger komisch wäre. Ich bin diesen Prozess nicht bewusst angegangen, es war eher Trial and Error.

Wir sehen eine junge Person mit Locken und einer Kappe, die in die Kamera schaut.

Vor fünf Jahren fing ich an, mich Jona zu nennen. Erst ein Jahr später schrieb ich eine E-Mail an meine Familie. Sie wussten, dass ich Jona heiße, aber sie wussten nicht, dass auch sie mich so nennen sollten. Sie wussten auch nicht, dass das was mit meiner Identität zu tun hat. Also erklärte ich, dass ich mich nicht als Frau definiere, dass ich am liebsten keine Pronomen mag, aber manchmal „er“ nutze. Und dass ich mir wünsche, dass sie mich Jona nennen, wenn sie das hinkriegen. Aber dass es völlig okay ist, wenn sie Fehler machen.

Ich hatte Sorge, dass ich meinen Eltern fremd werde. Dass sie für immer Teil meines alten Lebens bleiben, aber nicht in mein neues Leben mitkommen. Ich wollte nicht, dass sie sich nicht mehr trauen, über mich zu sprechen, aus Angst, etwas falsch zu machen. Aber ich heiße nun einmal Jona. Als ich das für mich erkannt und in die Welt gesagt habe, da war ich angekommen bei mir und meinem Körper. Ich hatte das Gefühl, ich weiß, wer ich bin. Das war eine krasse Befreiung.

Gerade bin ich in der 15. Woche schwanger und freue mich darauf, Elternteil zu sein. Ich kann mir vorstellen, dass mir da noch große Outings bevorstehen, auch vor mir selbst: Ich weiß noch nicht, wie sich nach der Schwangerschaft mein Verhältnis zu meinem Körper verändert, zum Beispiel zu meiner Brust, wenn ich stille.

Ich finde es spannend, was für ein Namen dieses Kind für mich finden wird. Und auch, wie ich damit umgehe, wenn es einen Namen für mich findet, den ich vielleicht gar nicht so cool finde – das kann ja auch sein.


Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Coming-out: So beginnst du das Leben, das du wirklich willst

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