Vier Menschen sitzen um einen reich gedeckten Tisch. Sie sitzen auf einem altmodischen Ecksofa.

Alle Fotos: Christian Gesellmann

Leben und Lieben

„Wir wollen in der Ukraine leben, nirgendwo anders“

Tanya Scheichuk-Krupenya ist trotz des Krieges in ihrer Heimatstadt geblieben. Ich will wissen, warum. Aber dafür muss ich einen Berg aus Wodka, Fleisch und Mayonnaise bezwingen.

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Reporter für Feminismus und Neue Männlichkeit

Die Stadt Volodymyr wurde zu Beginn der russischen Invasion bombardiert, seitdem nicht mehr. Eine Art Normalität setzte ein. Aber diese Normalität ist trotzdem Krieg. Ich war eine Woche in der westukrainischen Stadt, um Menschen zu treffen, die mir erklären können, was dieser Alltag mit ihnen macht. Alle Texte findet ihr in dem Zusammenhang „Grüße aus Volodymyr“.


„Wir warten auf euch. Wo seid ihr? Alles in Ordnung?“ Seit mehr als einer Stunde erwartet uns die Bürgermeisterin von Laskiw, einem Dorf in der Nähe von Volodymyr, zum Abendessen. Wir sind gleich da, habe ich schon mehrmals gesimst, aber in Wirklichkeit sieht nichts danach aus, als könnten wir bald weiter Richtung Rathaus vordringen. Wir sitzen fest.

Am Ortseingang fuhren wir an einer verwaisten Verteidigungsstellung aus Panzersperren und einer Wand aus Sandsäcken vorbei. „Darf man nicht fotografieren“, sagte Karl-Ernst Müller. Dann bogen wir einmal nach links ab, auf eine Stippvisite bei einem Witwer, ein Kleinbauer, der sechs Kinder allein durchbringen muss. Nun ist auch noch sein Auto kaputtgegangen. Müller kennt ihn seit mehr als zehn Jahren. Er drückte dem Witwer einen Briefumschlag in die Hand, und bevor die auf einem Traktor im Hof schlummernde Katze uns bemerken konnte, waren wir schon wieder aufgesessen und in einer Wolke aus Staub verschwunden.

Draufsicht auf einen Tisch. Er ist gedeckt mit Wurst, Gemüse, Salat und Schnitzeln.

Ein reich gedeckter Tisch: Paniertes Fleisch, Wurst und Käse, Mayonnaise.

Die Ladefläche unseres Transporters hat sich inzwischen geleert. Tonnen an Essen, Kleidung, Verbandsmaterialien, Technik haben wir abgeliefert. Es gibt aber auch während jeden Einsatzes kleine Spezialaufträge, Hinweise auf Einzelschicksale. Ein altes Fahrrad, Hörgerät, Klavier, Waschbecken oder ein Klo für so und so. Geld für die Herzoperation eines Kindes, solche Sachen. Was war denn in dem Umschlag?, fragte ich Müller. Das kam aus meiner Privatkasse, sagte er, und mehr müsse ich darüber nicht wissen.

Eine furchteinflößende Phalanx aus Wodka, Wein, Fleisch und Mayonnaise

Dann passierte der Fehler: „Wir müssen nochmal ganz kurz bei Viktor und Galina vorbeischauen“, sagte Müller, „auf ein Käffchen muss ich mich mal blicken lassen.“

Viktor und Galina empfingen uns freundlich. „Du hast doch nicht etwa Abendessen gemacht, Galina?“, fragte er die Hausherrin. Die verstand überhaupt gar nicht, was dieser Mann zu ihr in fremder Zunge spricht und verschwand in der Küche. Ihr Mann schaffte in der Zwischenzeit eine Menge sehr voller Teller aus der Küche ins Wohnzimmer. „Viktor, wir können nicht bleiben, wir haben keine Zeit“, sagte Müller. Nein, nein, sagte Viktor, schüttelte den Kopf und versteckte die Teller hinter seinem Rücken.

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„Essen, bitte!“, sagte Galina schließlich, deren Deutschkenntnisse plötzlich zurückkehrten, und schob uns ins Wohnzimmer, wo wir nun einer furchteinflößenden Phalanx aus Wodka, Wein, Fleisch und Mayonnaise gegenüberstanden. Egal wie schnell wir fahren oder wie oft wir die Stellung wechseln, ein oder mehrere Abendessen finden uns immer. In solchen Situationen nimmt man den Kampf gegen Fett und Alkohol besser schnell an, je früher man sich damit abfindet, desto besser. Auch wenn es zu früh und zu heiß zum Abendessen ist und man eigentlich auf dem Weg zu einem anderen Abendessen ist und man auch schon zwei Mittagessen hatte. Karl-Ernst geht furchtlos voran und zerstört mehrere Wodka-Einheiten, Elisabeth zieht sich mutig ein vollpaniertes Stück Fleisch auf den Teller.

Dein Wald, dein Stück Land, dein Dorf, dein Kontrollpunkt, deine Lieben, deine Zukunft

„Wo wart ihr denn so lange?“, fragt Tanya Scheichuk-Krupenya, die Bürgermeisterin von Laskiw, als wir endlich ankommen. „Kommt, das Abendessen ist schon fertig.“ Tanya ist 30 Jahre alt, hat zwei Kinder. Sie hat öffentliche Verwaltung in Kyiv studiert und ist seit 2018 Bürgermeisterin des Dorfes mit normalerweise 634 Einwohnern, das im Moment zehn Familien aus den vernichteten Städten Charkiw und Lyssytschansk aufgenommen hat. Auch in Tanyas Haus wohnen nun Geflüchtete.

Tanya mit Elisabeth und einem ihrer Kinder

Bürgermeisterin Tanya Scheichuk-Krupenya mit ihrem Sohn und Helferin Elisabeth aus Zwickau.

Das Rathaus hat die junge Bürgermeisterin mit den Spenden aus Zwickau in den vergangenen vier Jahren Stück für Stück modernisiert und zu einem Ort des öffentlichen Lebens gemacht, einem Ort für alle. „Nicht bloß für den Pascha, der vorher hier war“, sagt Müller, lässt die Schnitzel links liegen, die die Bürgermeisterin gemacht hat und geht die letzten Spenden abladen. Eine Krankenstation wurde eingerichtet, eine Bibliothek mit alten, aber internetfähigen Computern gibt es hier nun auch. Alles ist blitzsauber, alles wirkt bewohnt, heimelig.

Als der Krieg begann, sagt Tanya, war sie noch im Mutterschutz. Ihr zweites Kind war erst ein paar Wochen alt, und für ein paar Tage wusste sie nicht, was sie machen soll. Gehen oder bleiben? „Aber das ging schnell vorbei. Ich habe gesehen, wie furchtlos unsere Leute gekämpft haben, wie sie sich gegenseitig halfen. Das hat mir Mut gemacht und nun bin ich stolz auf alles, was wir bisher erreicht haben. Wir werden so lange kämpfen, wie es sein muss. Wir sind Ukrainer, und wir wollen in der Ukraine leben. Nirgendwo anders.“

„Wir haben gefunden, wovon wir leben, was immer uns ausmacht, was immer Teil von uns sein wird. Dein Wald, dein Stück Land, dein Dorf, dein Kontrollpunkt, deine Lieben, deine Zukunft. Das werden wir nicht verlieren. Denn uns macht das aus, was wir zu verteidigen bereit sind“, hat der Philosoph Volodymyr Yermolenko in seinem Tagebuch notiert.

Vor dem Rathaus sitzen wir unter Birken, genießen den auffrischenden Wind, der in den Blättern raschelt und lächeln über die Teenager, die auf Mopeds die Dorfstraße einstauben. Tanyas Ehemann ist nicht in die Armee eingezogen worden. Als Lehrer ist er der Mobilmachung bisher entgangen. Während mich Tanya mit ihrem Auto in die Stadt fährt, rechtzeitig vor Beginn der Ausgangssperre, frage ich sie, ob sie erleichtert darüber ist.

Tanya, beide Hände am Lenkrad, den Blick auf den Sohn im Rückspiegel, sagt: „Wenn die Zeit für ihn kommt, wird auch er gehen müssen. Wenn es sein muss, muss er uns beschützen, mich und die Kinder, vor dem, was noch schlimmer ist, als im Kampf für sein Land zu sterben.“


Redaktion: Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

„Wir wollen in der Ukraine leben, nirgendwo anders“

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