Volodymyr wurde zu Beginn der russischen Invasion bombardiert, seitdem nicht mehr. Eine Art Normalität setzte ein. Aber diese Normalität ist trotzdem Krieg. Ich war eine Woche in der westukrainischen Stadt, um Menschen zu treffen, die mir erklären können, was dieser Alltag mit ihnen macht. Alle Texte findet ihr in dem Zusammenhang „Grüße aus Volodymyr“.
Es ist so heiß, dass sich auf meiner Haut kleine Hitzebläschen bilden. Badelatschen auf dem Gehweg kleben bleiben. Vor der Markthalle hat die Stadt ein kleines Tor aufgestellt, halb so groß wie ein Fußballtor, das berieselt einen mit kühlem Wasser. Die Menschen gehen mit ihren Einkaufstüten drunter durch, schütteln sich und rufen: „Ah!“ Ein alter Mann trägt eine junge Katze in einem Pappkarton bei sich. Er hält sie unter das Tor. Der Katze gefällts.
Karl-Ernst „Mr. Zwickau“ Müller bewegt sich nur noch in Zeitlupe, nachdem wir den Vormittag damit verbracht haben, die Hilfsgüter aus der Partnerstadt an verschiedenen Adressen in Volodymyr und dem Dorf Laskiw auszuladen. Fast eine Tonne Dosensuppen, 50 Sanitätskästen sowie weiteres Verbandsmaterial, Spritzen, Medikamente und Katheter; fabrikneue Textilien im Wert von rund 10.000 Euro; sechs Computer; Schreibwaren, Bücher und Ausmalhefte für Kinder; zwei Fahrräder; eine Strickmaschine, eine Palette voll Kalter Hund – die Keks-Schokoladen-Kuchen – ebenfalls für Kinder. Und vieles mehr. Zu seiner 50. Fahrt vor ein paar Wochen haben sie Müller im Rathaus eine Torte überreicht. Allein dieses Jahr hat er Spenden im Wert von etwa 60.000 Euro in die Ukraine gefahren. Sein Handy hat er gar nicht erst mitgenommen. Er braucht es hier nicht.
Volodymyr ist ein Idyll. Die Sauerkirschen sind reif, die Birnen werden es auch bald sein. Vertrauensvoll dösen eine alte Frau und ein streunender Hund unter den Tannenbäumen am Rand des Heldenplatzes dem Ende des Markttags entgegen. Die Straßen und Wege der Stadt sind so sauber wie ein Bordstein in Oberbayern. Gemächliches Fegen mit handgebundenen Reisigbesen scheint hier das zu sein, was Tai Chi für die Chinesen oder Rasenmähen für die Zwickauer ist: pure Entspannung.
„Ist dein Sohn in der Armee?“
Nun, mit einer Portion kalter Borschtschsuppe im Bauch, unter der weinumrankten Pergola des Café 2.000 sitzend, vergesse ich das erste Mal, dass wir in einem Land im Krieg sind. Galyna Yakovleva, die Restaurantbesitzerin, sitzt vor mir. Sie erzählt, wie sie die Dörfer und Klöster des Umlands abgeklappert hat, auf der Suche nach alten Rezepten. Wir essen in Kwas marinierte, gebackene Schweinerippchen, im Tontopf mit Roter Bete gegartes Rindfleisch. „Der Basilikum ist aus meinem Garten“, sagt Galyna und reibt mir die grün-violetten Blätter unter die Nase. Hinter uns versucht der Kellner, einen Besoffenen mit Riechsalz zu wecken, er trägt ein T-Shirt des Militärs. „Ey, das Lied kenne ich!“, ruft Elisabeth, eine 21-jährige Studentin aus Zwickau, die den Hilfstransport begleitet, und die letzte Tankrechnung bezahlt hat. Das Lied, das Elisabeth von Tiktok kennt, ist der „Army-Remix“ eines ukrainischen Volksliedes, gesungen von Rockstar Andriy Khlyvnyuk. Als der Krieg ausbrach, brach seine Band Boombox ihre USA-Tour ab und rückte ins Militär ein.
In meine Übersetzungsapp tippe ich den Satz ein: „Ist dein Sohn in der Armee?“ Es fühlt sich falsch an, Galyna diese Frage in diesem Moment vorzulegen, einem der wenigen, die sich nach Normalität anfühlen.
Als Galyna 2003 das Café 2.000 übernahm, war es ein Laden mit einer Fläche von 16 Quadratmetern. Daran, den Name zu ändern, hat sie nie gedacht. Heute hat ihr Restaurant mehr als 200 Sitzplätze. Und ist seit dem Krieg meistens leer. „Es gibt keine Partys mehr, keine Hochzeitsfeiern, keine Konzerte“, sagt sie. Eine Bildtapete, die das Innere einer Kirche in St.Petersburg zeigt, will sie übermalen lassen. „Wir wollen hier an nichts erinnert werden, was mit Russland zu tun hat.“ In den ersten Wochen des Krieges hat die 55-Jährige hier kostenlos Frühstück, Mittag, Abendessen für Flüchtlinge zubereiten lassen. Dann musste sie Angestellte entlassen, manche Mitarbeiter wurden selbst zu Flüchtlingen.
Keine Milch, keine Liebe
Als die Ukraine im Februar dieses Jahres angegriffen wurde, schrieb die Künstlerin Kateryna Lysovenko in ihr Tagebuch: „Irgendwie ähnelte der Krieg für mich einer Geburt: Wenn er erst einmal begonnen hat, kann man nicht mehr aussteigen, man beginnt im Rhythmus der sich nähernden und zurückziehenden Geräusche von Raketen und Flugzeugen zu atmen, und man weiß nicht, ob man am Ende überleben wird, man atmet, und man spürt die Wärme anderer Körper, man sieht unglaublich ruhige Wesen, denen man sein Leben und das Leben seiner Lieben völlig anvertraut. Aber der Krieg bringt, anders als eine Geburt, kein neues Leben, nur den Tod und sonst nichts. Keine Milch, keine Liebe.“
Ihr Sohn, sagt Galnya, hat zwei Lebensmittelläden im Ort, fährt persönlich regelmäßig Hilfslieferungen an die Front.
Dein Sohn ist also nicht in der Armee, darüber musst du sehr erleichtert sein, sage ich.
Nein, sagt sie.
Redaktion: Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger