Volodymyr wurde zu Beginn der russischen Invasion bombardiert, seitdem nicht mehr. Eine Art Normalität setzte ein. Aber diese Normalität ist trotzdem Krieg. Ich war eine Woche in der westukrainischen Stadt um Menschen zu treffen, die mir erklären können, was dieser Alltag mit ihnen macht. Alle Texte findet ihr in dem Zusammenhang „Grüße aus Volodymyr“.
Schon wieder vergessen, den Luftschutzkeller zu fotografieren. Andererseits vielleicht die beste Nachricht des Tages: Wieder kein Alarm. Gleich zu Beginn des Krieges bombardierten die Russen die Kaserne am Stadtrand und zweimal den Flughafen im 80 Kilometer entfernten Lutsk. Es gab drei Tote, sechs Verletzte. Seitdem heulen die Sirenen, die über Wochen praktisch die gesamte Stadtbevölkerung bis zu zehn Mal am Tag in die Luftschutzkeller geschickt haben, seltener und seltener. Der Krieg ist vielleicht nicht mehr in Volodymyr. Aber Volodymyr ist im Krieg.
Ständig pendeln ganz normale Bürger der 40.000-Einwohner-Stadt in die Kampfgebiete im Donbass, mit alten, stinkenden Bussen, die Vorhänge der Fenster zugezogen; mit ihren Privatfahrzeugen, die Lichter abgeklebt, mit Uniformen aus der Shopping Mall. Sie bringen Essen, sie bringen Ausrüstung, Post, Heiligenbildchen. Sie fahren auf Fahrrädern durch Felder, die Frontlinien geworden sind, um alte Menschen mit Medikamenten zu versorgen. Sie räumen Minen, sie bergen Tote. Dann kommen sie zurück und leben einen Alltag, der keiner mehr ist. Es gibt keine jungen Männer mehr in der Stadt.
Sie knüpfen Tarnnetze gegen die Trauer – und für den Krieg
In Volodymyr knüpfen sie aus Stofffetzen Tarnnetze für die öffentlichen Gebäude und die Kaserne am Stadtrand. Sie füllen Sandsäcke, möblieren Luftschutzkeller, sammeln Geld für Waffen. Rentner fahren ins Ausland und importieren Autos für die Armee. Mädchen nähen Verbandstaschen in Tarnfarben und Tourniquets – 4.000 schon –, damit können Verwundete ihre Blutung stillen. Das Holzstückchen, das man oberhalb der versehrten Vene aufdrückt, ist aus Eiche. Witwen besticken gemeinsam mit ihren Kindern, nun Halbwaisen, Decken, Blusen und Beutel. „Es ist eine Form der Trauerbewältigung, sie bewahren die Erinnerung an den Toten in der gemeinsamen Handarbeit“, sagt Iryna Smirnova.
Irynas Mann war Soldat, er starb 2014 im Donbass. Sein Soldatenbild hängt im Wohnzimmer. Es hängt am Platz der Helden in der Innenstadt. Es ist eingraviert in seinen Grabstein. Seit 2015 arbeitet die zweifache Mutter für eine Hilfsorganisation für die Hinterbliebenen der Gefallenen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Sie ist eine von 50 Freiwilligen allein in der Region Volyn, in der Volodymyr liegt, um etwa 300 Waisenkinder kümmerte sie sich schon.
Auf Nähmaschinen aus Zwickau näht sie nun außerdem noch gemeinsam mit drei weiteren Frauen seit 24 Stunden im Akkord im Kinderzimmer im dritten Stock eines Plattenbaus die Tourniquets und „Balistic Vests“ und „Medical Kits“. Irynas Englisch ist streng militärisch, ihr Lidschatten blau metallic. Das hier ist wirklich eine Spezialoperation: Was sie fertigen, fertigen sie in der Regel auf Weisung von Bürgermeister Palonka, der sich zweimal die Woche mit Offizieren der in der Stadt stationierten 14. Panzergrenadierbrigade trifft. Auf dem Kleiderschrank liegt ein Dutzend Kuscheltiere. Wenn die Wohnungsbesitzer aus dem Krankenhaus zurücksind, muss Iryna mit ihrer Nähkompanie wieder umziehen, eine eigene Werkstatt hat die Witwe nicht.
„Die Menschen, die zu uns gekommen sind, haben alles verloren“
Volodymyr schickt seine Männer und Frauen in den Krieg. Der Krieg schickt seine Gefallenen und Verwundeten nach Volodymyr. 60 Soldaten liegen im kommunalen Krankenhaus. 50 auf dem Friedhof. Auf kleinen Flaggen über den Gräbern steht: In ewigem Andenken an die Verteidiger der Ukraine. Täglich fordert der Krieg nun bis zu 200 ukrainische Menschenleben. Iryna schüttet ein rotes Substrat in ihre Gießkanne auf dem Friedhof. Die Blumen auf dem Grab ihres Mannes sollen frisch bleiben.
Rund 4.000 Flüchtlinge aus dem völlig zerstörten Osten des Landes sind in Volodymyr untergekommen. 500 von ihnen leben in den beiden Studentenwohnheimen, der Rest in Privatwohnungen. In der gesamten Ukraine haben die Russen laut Bundeswehr seit Ende Februar 116.000 Wohneinheiten zerstört, die das Zuhause von 3,5 Millionen Menschen waren. 150 Kulturstätten, darunter 70 Kirchen. 100 Krankenhäuser. 400 Apotheken.
„Die Menschen, die zu uns gekommen sind, haben alles verloren. Sie haben keinen Ort mehr, zu dem sie zurückkehren können“, sagt Jaroslav Matvichuk, seit sieben Jahren stellvertretender Bürgermeister von Volodymyr. So viele Flüchtlinge, wie die Stadt aufgenommen hat, so viele Bürger der Stadt sind in etwa selbst geflüchtet. „Das wird das Wichtigste sein, wenn der Krieg einmal vorbei ist. Dass die Leute wiederkommen“, sagt Jaroslav. Wir sitzen im Café 2.000 und essen Fleisch und Rote Bete und Jaroslav hat viele Fragen.
Wie denken die Deutschen über den Krieg?
Sie denken nicht mehr ganz so viel darüber nach, sage ich.
Was halten sie davon, dass die Ukraine nun EU-Beitrittskandidat ist, will er wissen.
Die Hälfte findets gut, die Hälfte eher nicht so gut, sage ich.
Wie geht es eurem Volkswagen-Werk, fragt Jaroslav.
Sehr gut, sage ich. 1,2 Milliarden Euro hat VW in Zwickau investiert in den letzten zwei Jahren.
Der Übersetzerin fällt beinahe die Borschtschsuppe aus dem Gesicht. Jaroslav rechnet damit, dass zehn bis 15 Prozent der Ukrainer:innen, die aus dem Land geflohen sind, nicht mehr zurückkommen. „Leider sind es unsere Besten. Der Westen wird von ihnen profitieren.“
„Erstmal müssen wir diesen Krieg gewinnen“
Luftschutzkeller. Was für ein Wort. Man geht in den Luftschutzkeller, wenn es nicht mehr sicher ist, an der Luft zu sein. Wenn in der Luft Geschosse sind, Schrapnell, Mörser, Granaten, Raketen. Die Luft lässt sie gewähren, sie ist ein Komplize der Russen. Trotzdem braucht man Luft zum Atmen, es geht nicht ohne, man kann vor ihr nicht flüchten.
„Der Krieg lehrt uns, was die Dinge sagen. Dass sie auch das Recht haben, ihre Bedeutung zu ändern. In dieser Welt ist ein Fenster kein Fenster mehr, sondern vielleicht eine Gefahrenquelle. Und Licht ist nicht mehr Licht, sondern ein Wegweiser für den Feind. Und ein Selfie an einem Kontrollpunkt kann jemanden das Leben kosten“, hat der Philosoph Volodymyr Yermolenko notiert.
„Im Dezember werden die neuen Bunker für die fünf Schulen der Stadt fertig sein. Dann kann der Offline-Unterricht endlich wieder losgehen“, sagt Jaroslav. Der 39-Jährige erarbeitet momentan eine Bildungsreform für die Schulen, die an die Umstände des Krieges angepasst ist: maximale Flexibilität. Seit Neuestem kommen regelmäßig Delegationen aus Litauen nach Volodymyr. Sie wollen vorbereitet sein. Lernen, wie eine Stadtverwaltung, eine Zivilgesellschaft während einer Invasion organisiert sein müssen. Im August erwarten Jaroslav und seine Frau ihr zweites Kind. Weggehen würden sie niemals, sagt er, und viel mehr gebe es über die Zukunft derzeit nicht zu sagen. „Erstmal müssen wir diesen Krieg gewinnen.“
Redaktion: Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert