Volodymyr wurde zu Beginn der russischen Invasion bombardiert, seitdem nicht mehr. Eine Art Normalität setzte ein. Aber diese Normalität ist trotzdem Krieg. Ich war eine Woche in der westukrainischen Stadt, um Menschen zu treffen, die mir erklären können, was dieser Alltag mit ihnen macht. Alle Texte findet ihr in dem Zusammenhang „Grüße aus Volodymyr“.
Wir erreichen die Grenze zur Ukraine nach etwa 13 Stunden Fahrt, elfeinhalb davon auf einer einzigen, makellosen, wenig befahrenen Autobahn. Es ist 19.11 Uhr, eine kleine Wetterstation am polnischen Landstraßenrand zeigt 31,6 Grad Celsius Luft- und 41,9 Grad Celsius Fahrbahntemperatur an. Um uns herum Feld, soweit das Auge reicht, einzelne Bäume, absolut gar kein Wind. Ein paar Einfamilienhäuser, einige davon stehen leer. Die Sonne scheint, blitzt und blendet.
Hunderte Menschen warten hier darauf, in die Ukraine einzureisen. Es sind hauptsächlich ältere Menschen, Frauen mit Kindern – und Autokäufer. Einige liegen auf den Wiesen am Straßenrand, die Unterhemden um den Nacken geschwungen, plaudern oder dösen, oder sitzen apathisch auf den Leitplanken der Straße. Man trägt Warnweste, Flip Flops und selbstgebastelte Fächer. Die Schlange der Autos hat eine Länge von vier oder fünf Kilometern.
Die meisten Autos haben rote Überführungskennzeichen aus Deutschland oder Polen, einige wenige auch aus den Niederlanden, Litauen oder Lettland. Bis vor Kurzem war noch eine horrende Steuer auf importierte Autos fällig, doch diese ist von der ukrainischen Regierung aufgehoben worden. Die Ukrainer brauchen Autos, nicht nur um die von den Russen zerstörten Privatfahrzeuge zu ersetzen. „Wir brauchen vor allem Kleintransporter“, erklärt uns Volodymyrs Bürgermeister Igor Palonka am nächsten Tag. Die ukrainische Armee nutzt die Transporter, um kleine Einheiten schnell an ihren Einsatzort zu bringen und wieder zurück.
Überall sieht man deutsche Kennzeichen, liest man deutsche Namen: Bauhaus, Raiffeisen, Hasans Autohandel, Transporter- und Anhängerverleih. Deutsche sieht man keine. „Wir sind hier Exoten“, sagt Karl-Ernst Müller, „jetzt noch mehr als früher.“
Es ist das zweite Mal, dass ich mit Müller nach Volodymyr fahre. Beim ersten Mal, 2014, begleitete ich ihn als Reporter der Zwickauer Lokalzeitung „Freie Presse“. Damals hatten wir eine Heizung für das Waisenhaus geladen, Bücher für ein Gymnasium, Spielzeug und Winterbekleidung. Der Krieg in der Ukraine hatte gerade angefangen und Zwickau wenige Monate zuvor eine offizielle Städtepartnerschaft mit Volodymyr beschlossen, die im Prinzip allein auf der rastlosen Reisediplomatie von Müller beruhte, dem einstigen Ordnungsamtsleiter und Stadtrat der 93.000-Einwohner-Stadt in Westsachsen.
„Dein Onkel ruht hier in Frieden“
Müller hatte jahrelang andere Stadträte und Bürgermeister mit auf den Trip die A4 hinunter genommen, vorbei an Breslau, am Sender Gleiwitz, vorbei an Krakau, bis an den Fluss Bug. Zu fast jeder öffentlichen Veranstaltung in Zwickau zog er in ukrainischer Tracht und mit blau-gelber Sammelbüchse bewaffnet los, um Spenden zu sammeln und Mitglieder für seinen Verein zu werben. Und irgendwann hatte er „seine“ Städtepartnerschaft.
Für ihn schließt sich ein Kreis, der mit Deutschlands Geschichte und seiner Verantwortung für den aktuellen Krieg in der Ukraine unmittelbar zusammenhängt. Müllers Onkel und Namensvetter Karl-Ernst, der Bruder seines Vaters, war als Soldat im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine eingesetzt gewesen und nicht zurückgekehrt. Die Familie erfuhr nie, was mit ihm geschah, eine lebenslange psychische Belastung. Bis 2005. Müller, der jahrelang recherchiert hatte, fand heraus, wo sein Onkel gefallen ist, fuhr in die Ukraine und stand bald in einem Feld in Laskiw bei Volodymyr. „Dein Onkel ruht hier in Frieden“, habe der Bauer zu ihm gesagt, dem das Feld gehört. 60 Jahre nach Kriegsende standen die beiden alten Männer im Raps und weinten.
Die Ukrainer pflegen die Gräber der gefallenen deutschen Soldaten. So wie sie auch immer noch die Massengräber der mehr als 25.000 Juden freilegen, die die Deutschen allein in und um Volodymyr ermordet haben. So wie sie jetzt die Gefallenen der russischen Armee bergen und nach Hause schicken. Müller gründete den Verein „Partnerschaft für die Ukraine“, der heute rund 70 Mitglieder zählt. „Die Hilfe für die Ukraine und der Kontakt zu den Menschen dort ist für mich die Erfüllung meines Lebens“, sagt er. Heute fährt er zum 52. Mal die 1.026 Kilometer zwischen Zwickau und Volodymyr.
In einem Zelt der Hilfsorganisation „World Central Kitchen“ gibt es Tee, Kaffee, Wasser und Grillwürste kostenlos. Zu Beginn des Krieges gehörte das Zelt zu einem Auffanglager für Menschen, die aus der Ukraine herauswollten. Von hier bis nach Volodymyr sind es etwa 13 Kilometer. „Auf der gesamten Strecke standen sie Schlange“, erinnert sich Bürgermeister Palonka. „Manche sind sogar zu Fuß bis zur Grenze gelaufen.“
Eine alte Frau kommt uns entgegen gehumpelt und beschimpft uns wüstestens. Wir stünden in ihrer Einfahrt. Sie droht mit der Polizei. Wir können nicht vor oder zurück, ziehen also erstmal die Augenbrauen hoch. Es passiert immer wieder hier, das jemand sich mal Luft macht, sich den Frust von der Seele schreit. Man dreht sich um, denkt „Oje, was passiert hier, diese Typen mit den dicken Nacken brüllen sich ganz schön an, diese Frauen werden sich gleich an den Haaren ziehen“ – und einen Augenblick später macht jemand einen Witz und man schaut in eine Runde kichernder Menschen. Zwei polnische Polizisten kommen und weisen uns an zurückzusetzen. Die alte Frau schreit immer noch, Müller zitiert die Straßenverkehrsordnung.
„Mr. Zwickau“ hat hier jetzt Priorität
Autoimporte, Gütertransporte, Privatreisende – alles folgt eigenen, uns unbekannten Gesetzmäßigkeiten. Die Assistentin des Bürgermeisters schickt uns einen Brief für die Grenzbeamten per E-Mail, der helfen soll. Der auch helfen wird, ohne den wir wahrscheinlich auch heute noch an der Grenze stehen würden. Aber zunächst müssen wir die polnischen Grenzer passieren, und die interessiert das gar nicht. Sie winken uns auf einen Parkplatz. Endstation für heute, bedeutet das, sagen die Fahrer der Kleintransporter, die hier herumsitzen. Karl-Ernst Müller will Ursula von der Leyen davon berichten. Nach einer Menge unangenehmen Kann-ich-mal-Ihren-Dienstausweis-sehen?-Gesprächen dürfen wir doch weiter. Es ist trotzdem längst Nacht, als wir auf einer kleinen Stahlbrücke über den Grenzfluss Bug rollen. „Hier ging es früher richtig heiß her“, sagt Müller, der 77-Jährige, und meint die Ostfront des Zweiten Weltkriegs, „wer hätte gedacht, dass sich das noch einmal wiederholt.“
Fast alle ukrainischen Grenzbeamten sind junge Frauen. Eine von ihnen kommt auf uns zu und sagt, wir hätten hier jetzt Priorität – wegen dem Brief vom Bürgermeister! –, dürften links an der Schlange vorbei – sobald der Strom im Grenzhäuschen wieder funktioniert. Als der Strom wieder funktioniert, fällt das Internet aus. Als das Internet wieder funktioniert, fällt der Pass-Scanner aus. Dicht gedrängt stehen wir vor dem Grenzhäuschen und versuchen, unsere Reisepässe durch ein winziges verspiegeltes Fenster zu stopfen, das sich in unberechenbaren Intervallen öffnet und schließt. Hinter dem kleinen Fenster sitzt eine Beamtin und starrt regungslos auf einen Computerbildschirm. Eine ältere Frau hat ihren Gehstock auf meinen Fuß gepflanzt. Ein älterer Mann schwitzt mein T-Shirt voll. Eine junge Frau checkt ihr Outfit in der Spiegelung des Zollhäuschens. Die Grenzbeamtin weint und knallt ihr Fensterchen zu.
Nach der Grenze ein Polizeicheckpoint. Es dauert nur eine Minute. Die Polizisten haben schicke Sheriffsterne, checken unsere Pässe.
„Sláva Ukrajini“, sagt Müller, Ruhm der Ukraine.
„Heróyam sláva!“, antworten die Polizisten, Ruhm den Helden.
Alle Ortsschilder sind entfernt worden, um potenziellen Russen die Orientierung zu erschweren. Der sowjetische T 34-Panzer, der an der Einfahrt zur Stadt stand, ist weg. „Wir wollten ihn nicht mehr sehen“, sagt Bürgermeister Palonka. Die allgemeine Ausgangssperre ist noch in Kraft: Zwischen 23 und 6 Uhr müssen alle zuhause bleiben. In der Lobby des einzigen Hotels der Stadt schläft ein Security-Mann. Auf den Sofas in den Gängen schlafen ebenfalls Leute, ich kann nicht erkennen, ob es Soldaten oder Geflüchtete sind.
Am nächsten Morgen geht die erste Fahrt zum Rathaus. Der Bürgermeister kommt Karl-Ernst Müller mit ausgebreiteten Armen entgegen, ruft laut: „Mr. Zwickau!“, und dann umarmen sich die beiden. Müller zeigt auf den Briefkasten des Rathauses, unter dessen weißem Lack ein wenig Rost durchbricht, und sagt: „Da bring ich euch das nächste Mal einen Neuen mit.“ Mehr Umarmungen. Jetzt komm aber mal rein, Karl-Ernst, ist doch so heiß hier.
In einer Schule, die auch Flüchtlingsunterkunft ist und einen Luftschutzkeller hat, laden wir Hunderte Dosensuppen aus, die die Stadtverwaltung Zwickau gespendet hat. Auf der Ladefläche unseres Transporters steht nun stattdessen eine Miniatur-Haubitze, zusammengeschweißt unter anderem aus leeren Geschosshülsen, mit Goldspray verziert. Geschenk vom Bürgermeister.
Redaktion: Julia Kopatzki, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert