Leserin Lisa fragt: Muss ich eine geflüchtete Person aus der Ukraine bei mir aufnehmen?
Gabriel antwortet: Liebe Lisa, da du deine Frage mit den Wörtern „muss ich“ beginnst, markierst du sie (verständlicherweise) als moralisches Problem.
Du ahnst schon, dass es in deiner Frage nicht um etwas geht, was man aus Bequemlichkeit oder aufgrund praktischer Gründe einfach sein lassen kann. In deiner Frage scheint eine höhere Verpflichtung auf: Es geht um ein moralisches Müssen.
Trotz dieses Müssens einem ukrainischen Geflüchteten nicht das ohnehin leere Sofa in dem ohnehin leeren Zimmer zu überlassen, sowas macht einen zum schlechten Menschen, scheinst du anzunehmen. So zumindest lese ich deine Frage.
Hilfsbereitschaft ist endlich
Wenn du in der Sonne im Café sitzt, hast du dich vielleicht schon mal dabei ertappt, dem ersten obdachlosen Menschen, der um Hilfe bittet, noch einen Euro zu geben, dem zweiten aber schon keinen mehr. Unsere Freigiebigkeit, unsere Hilfsbereitschaft sind offenbar sich erschöpfende Ressourcen. Und wir verteilen sie zutiefst ungerecht. Doch gerade, wenn Hilfsbereitschaft endlich ist, brauchen wir sie dann nicht vor allem für unsere Freunde, unsere Familien, unsere Liebsten?
Der französische Philosoph Gilles Deleuze sagt, links zu sein, hieße, „eine Horizontwahrnehmung“ zu haben. Der Soziologe Didier Eribon erklärt Deleuzes Satz so: „Die Welt als ganze zu sehen, die Probleme der Dritten Welt wichtiger zu finden als die des eigenen Viertels. Nicht links zu sein hingegen bedeutet laut Deleuze, die Wahrnehmung auf das eigene Land, auf die eigene Straße zu verengen.“
Folgt man Deleuze, ist die rigorose linke Perspektive ethisch offensichtlich vorzuziehen, weil sie Menschen nicht hierarchisiert: So lange irgendwo auf der Welt jemand leidet, können wir nicht ruhen. Doch wie schwer es ist, mit einem solchen Anspruch zu leben, ist offensichtlich. Und natürlich scheitert man an ihm – aber immerhin ist da ein Anspruch!
Das Argument, man könne nicht allen helfen, ist nur ein rhetorischer Trick
Die am weitesten verbreitete Position in der Frage der Hilfsbereitschaft scheint mir aber weder die brutal rassistische (wir helfen nur denen, die so sind wie wir), noch die moralisch rigorose (wir müssen allen gleichermaßen helfen) zu sein, sondern die pragmatisch bequeme: Man hilft, wo es nicht zu anstrengend ist. Oder man hilft gar nicht, mit der rechtschaffen-resignierenden Behauptung, wir können ja nicht allen helfen.
Fast jede*r dürfte den letzten Satz schon mal gehört haben. Er ist aber nicht mehr als ein rhetorischer Trick. Denn er fegt Behauptungen vom Tisch, die gar nicht aufgestellt wurden. Im konkreten Fall sollen Helfende als weltfremde Gutmenschen lächerlich gemacht werden. Aber das Argument ist leicht widerlegt: Nicht ein ominöses „wir“ soll allen helfen. Auch soll nicht „allen“ geholfen werden, sondern im aktuellen Fall nur einer geflüchteten Person aus der Ukraine.
Wer sagt, wir könnten nicht allen helfen, erklärt Hilfsbereitschaft schlicht für sinnlos, während die Person sich selbst in der moralisch sauberen Situation wähnen darf, alle Hilfsbedürftigen gleichermaßen im Stich gelassen zu haben: Wir müssen nichts tun, denn wir können nicht allen helfen. Es ist billig, aber in der Selbsttäuschung sehr effektiv.
Dabei ist es doch so: Wir in Deutschland sitzen in der Sonne. Uns geht es nicht nur im Vergleich mit den Bürger*innen eines Landes im Krieg hervorragend, sondern auch so; die Konten der Deutschen sind voll mit gigantischen Ersparnissen.
Müssen wir da helfen?
Ich habe mit der Philosophin Nicole des Bouvrie gesprochen, sie antwortet auf diese Frage klar und deutlich: ja! Ihre Begründung ist eine interessante Verknüpfung von Gedanken zweier Philosophen: denen des deutschen Denkers der Aufklärung, Immanuel Kant, und denen des litauisch-französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Emmanuel Levinás.
Nicht zu helfen, wäre unmenschlich
Des Bouvrie sagt: „Nach Kants kategorischem Imperativ muss ich nach Prinzipien handeln, die für alle gleichermaßen gelten können sollen. Umgangssprachlich also: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das Prinzip, nach dem ich handeln würde, ist das der Menschlichkeit. Denn auch ich möchte menschlich behandelt werden. Und von Levinas stammt der Gedanke, dass es Menschlichkeit nur gibt, wenn wir für uns selbst beschlossen haben, dass Menschlichkeit existiert – und dann können wir nicht anders als uns menschlich zu verhalten.“
Nicht zu helfen, wäre also unmenschlich: Man verhielte sich dann selbst nicht wie ein Mensch und spräche dem Hilfsbedürftigen womöglich gar sein Menschsein ab. Beides ist oft genug vorgekommen, gerne auch gleichzeitig. Deshalb lautet die schlichte Folgerung: Wenn man in einer menschlichen Welt leben will, darf man Geflüchteten ihre Menschlichkeit nicht nehmen – und deshalb muss man helfen. Aber wie die Hilfe konkret aussieht, ist eine andere Frage.
Die meisten Menschen, mit denen ich über die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter gesprochen habe, berichten, dass es unproblematisch war und die Hilfe meist nur für ein paar Tage oder Wochen in Anspruch genommen wurde. Nur Julia (Name von der Redaktion geändert), eine Berlinerin, die in der Behindertenintegration arbeitet, hatte Schwierigkeiten mit Alina (Name von der Redaktion geändert), einer jungen ukrainischen Mutter, die Julia über Wochen mit fordernden Textnachrichten und Anrufen von ihrer Arbeit abhielt. Schließlich kam es so weit, dass Alina wütend wurde, weil sie nicht einsah, dass Julia nicht ständig für sie da sein konnte. Am Ende musste sich Julia Beschimpfungen von Alina anhören, erzählte sie mir am Telefon.
Du bist kein schlechter Mensch, wenn du niemanden aufnehmen möchtest
Es ist Julia wichtig, darauf hinzuweisen, dass das ein unerfreulicher Einzelfall war. Aber es muss allen, die helfen wollen, klar sein, dass mit Geflüchteten keine perfekten Gäste auftauchen. Sondern traumatisierte Menschen, die aus ihrer Heimat gerissen wurden, deren Leben entwurzelt, deren Angehörige womöglich getötet wurden; Menschen, auf deren Dankbarkeit kein Anspruch besteht.
Wenn du dann womöglich noch alleinerziehende Mutter eines Kleinkinds bist, solltest du dir überlegen, ob du mit der Verantwortung umgehen kannst, die du auf dich nimmst, wenn du Geflüchtete bei dir beherbergst.
Und wenn du es nicht kannst, bist du kein schlechter Mensch. Denn helfen kannst du auch auf andere Weise. In der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben, ist Geld das flexibelste Mittel, Menschen in Not zu unterstützen. Und die Deutschen gelten im internationalen Vergleich als sehr großzügig, wenn sie Spendenaufrufen für Menschen in Not folgen. Es ist kein Ablasshandel, wenn du Geld hast und es anderen gibst. Es ist eine praktikable Antwort auf das moralische Müssen.
Liebe Lisa, du hattest gefragt: „Muss ich eine geflüchtete Person aus der Ukraine bei mir aufnehmen?“
Die bessere Frage lautet: Wie kann ich Geflüchteten am besten helfen?
Das moderne Leben ist eine Zumutung: Wir haben so viel Freiheit wie nie – und müssen uns ständig entscheiden. Ich helfe dir dabei. Egal, ob das kleine Dilemma oder die ganz große Frage: Schreib mir eine E-Mail an: die-bessere-Frage@krautreporter.de! In meiner Kolumne nehme ich die verschiedenen Seiten deines Problems in den Blick. Und wie es sich für einen Autor mit einem Philosophie-Doktor gehört, gilt für meine neue Kolumne wie so oft im Leben: Die beste Antwort ist eine bessere Frage!
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Illustration: Karina Tungari, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert