Meine Reise in die Vergangenheit beginnt an einem Samstagnachmittag gegen vier Uhr. Ich stehe auf einer Terrasse, neben mir ein leerer Kinderwagen, die Sonne blendet, der Wind flüstert durchs Gras und ich habe schon leicht einen sitzen.
Als ich Lisa, meiner Redakteurin bei Krautreporter, davon erzählte, dass die Norddeutschen einmal im Jahr durch ihre Landschaft wandern, im Prinzip, um nachzusehen, ob alles noch da ist, und sich dabei achtarmig einen reinorgeln, sagte sie sinngemäß: Um ein Mann zu werden, bedürfe es sicher archaischer Rituale. Ich solle da ruhig mal mitgehen.
Bei meiner ersten und letzten Grünkohltour war ich 17 Jahre alt und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte Erinnerungen daran. Einmal im Jahr, meist nach dem ersten Frost, spätestens aber Mitte März, ziehen Menschen in Niedersachsen und Bremen einen ratternden Bollerwagen hinter sich her, gefüllt mit Schnaps und Proviant, und laufen auf den weiten Horizont zu, an dem man freitags schon sieht, wer montags zu Besuch kommt. Anschließend gehen alle zusammen in einen Gasthof, also die, die noch laufen können, die Quote ist normalerweise so fifty-fifty, und dann wird Grünkohl gegessen, mit Kassler und Pinkel. Das sind unappetitliche Würste. Ich habe bisher nicht verstanden, warum man sich das antut. Heute aber werde ich merken: Grünkohltouren haben einen tieferen Sinn. Sie helfen zu verstehen, warum man der ist, der man ist.
Unsere Tour führt aus der Stadt hinaus über die Felder und von dort ins Dorf meiner Kindheit. Ich habe das Dorf gemieden, seit ich dort weggezogen bin. 15 Jahre ist das jetzt her. Eigentlich hatte ich bis vor der Pandemie ein glückliches Leben in Leipzig verbracht, in einer netten Loftwohnung, die uns völlig zu Recht den Unmut einheimischer Nachbarn einbrachte. Schuld daran, dass ich zurückgekehrt bin, ist ein Wasserschaden. Ein Heizungsrohr brach in einer Dachwohnung über uns, die ein Renditeobjekt war; dementsprechend war niemand zu Hause, um es rechtzeitig zu bemerken. Wir brachten unsere Kinder zu meinen Eltern. Dann kam die Pandemie. Während in den großen Städten die Eltern bis zur völligen Erschöpfung gefordert waren, beugte sich bei uns das Land tief über den Weidezaun und reichte uns Wassereis. Wir bekamen zwei Kitaplätze und beschlossen: Der Ort meiner Kindheit würde auch der Kindheitsort meiner Kinder werden.
Vorbereitungen: Ich passe eigentlich ganz gut hier rein
Es ist also Samstag und wir stehen auf Jürgens Terrasse. Die Terrassentür ist aus Glas. Jürgen, mein Vater und ich spiegeln uns in der Fensterscheibe. Mein Blick bleibt an mir hängen – und ich kriege einen Schock. Ich trage festes Schuhwerk, eine Windbreakerjacke, ein Schnapsglas um den Hals, Einlagen in den Schuhen und mache auch sonst einen hilfsbedürftigen Eindruck. Ich blicke mich um.
Obwohl ich etwa dreißig Jahre jünger bin als der Rest, falle ich überhaupt nicht auf. Objektiv betrachtet liegen auch meine besten Jahre eindeutig hinter mir. Und das mit 36.
Mein Vater fährt sich durch die Haare, unterbricht meinen Gedankenfluss und sagt, wenn ich keinen Schnaps tränke, würde ich das ziemlich sicher nicht durchstehen. Ich frage mich, ob er die Tour meint oder das Leben, und dann ihn, wie er sich da sicher sein kann; ob nicht das Gegenteil wesentlich wahrscheinlicher sei? Wir betrachten eine Weile den Horizont, als komme da gleich noch was, aber er hat keine Antwort.
Jürgen, ein Freund meines Vaters, belädt den Kinderwagen mit Schnaps, Schnapsgläsern am Bändchen, trockenen Brötchen und Knacksalami aus der Tüte. Er sagt, er habe schon viel mitgemacht, Tiefschnee in Scharnhorst, auf die Seite gefallen sei er, einmal mussten sie ihn bergen.
„Tut mir leid“, sage ich, weil ich Gast bin und nett sein möchte und schaue, wie viel Bier ich noch habe. „Mensch“, sagt Jürgen, „nicht ich. Der Kinderwagen!“
Und dann lachen wir beide, und mir schießen die Tränen ein, ob wegen Bier oder Kälte, weiß ich auch nicht. Aber kurz überlege ich, während wir uns zurückbiegen, ob ich Jürgen so meine Hand auf den Unterarm legen sollte dabei, weil wir natürlich beide wissen, dass das nicht stimmt.
Kilometer eins: „Aber mach nicht so voll, Jürgen“
Es gibt zwei Regeln bei Kohltouren. Die erste ist allgemein akzeptiert: Unterwegs muss man an jeder Abzweigung einen trinken, das gilt auch für alle Landwirtschafts- und Forstwege. Die zweite, die man dabei unweigerlich lernt: immer die Böschung hinauf kotzen, niemals hinab. Sonst muss man geborgen werden.
Wir sind kaum dreihundert Meter weit gekommen, da kommt schon die erste Abzweigung. Mir fällt auf, dass es zwei Gruppen von Kohltourteilnehmenden gibt. Die einen, die das alles zum ersten Mal machen und sich schüchtern ihr Glas um den Hals hängen und daran rumjuckeln, damit nichts auf die Jacke schmiert, wenn es wieder verrutscht. Und die anderen, die es sich wortlos umhängen und dann – born ready –nach jedem Shot ein Taschentuch ins Glas drücken, damit keine Reste raussuppen.
Jürgen hält seine Karawane an. Wer einen Grünen wolle, fragt er und kippt die Flasche drohend in unsere Richtung. Mein Vater nimmt einen Grünen. „Aber mach nicht so voll, Jürgen.“
Der Ulli wirft seinen Seidenschal zurück, als wäre er gerade einem Orchestergraben entstiegen, hält sein Glas hin und verlangt den Sambuca. Da sind wir natürlich skeptisch. Der Ulli kommt aus Berlin und hat sich erst einige Tage vorher wieder bei seiner alten Truppe gemeldet. Er scheint in der Zwischenzeit ein bewegtes Leben geführt zu haben. Sambuca hat fast dreimal so viele Umdrehungen wie der bei uns gängige Likör. Wir machen uns Sorgen, dass der Ulli nachher noch ins Gestrüpp fällt. Insgesamt ist aber auch eine gewisse Vorfreunde spürbar – über ein sich anbahnendes Fiasko.
Ich öffne mit Nachdruck ein Pils und der Kronkorken landet im Kinderwagen. Der Ostwind geht kalt und rattert an meiner Kapuze. Bierwerbungsgefühle. Mein Blick hängt an einem Graffiti.
Es prangt blass und verwaschen an einem Stromhäuschen zwischen den Büschen. Ich weiß noch, wie wir es gemalt haben. Den Schal hoch bis zu den Augen. Mitten in der Nacht. Ich stand Schmiere und war wahnsinnig aufgeregt. Wegen Ertapptwerden, aber auch wegen Erwachsenwerden und was noch so kommt. Welche Möglichkeiten sich bieten würden am Lebenshorizont. Ich nippe am Bier. Aus dem Flaschenhals riecht es verheißungsvoll nach Cannabis. Zumindest bilde ich mir das ein.
Kilometer zwei: Tragödien, die man sich eingestehen muss
Pferdekoppeln, Neubauten, ein leergeräumter Himmel, Jürgen hält die Karawane an: „Wer will den Roten probieren?“ Leute mit Bollerwagen kommen uns entgegen. Der Vordere, der den Wagen zieht, stellt die Hand zum Gruß senkrecht in die Luft. Handsalamis werden gereicht.
In meinem Kopf sehe ich diffuse Bilder meiner letzten Kohltour, kurz vor dem Abi, 2005. Mitschüler, die sich brüllend in Böschungen erbrechen. Vielleicht war ich einer von ihnen.
„Ist doch witzig“, sagt mein Vater. „Dein ganzes Leben wolltest du die Gegend verlassen, jetzt bist du wieder hier.“
„Klingt für mich eher wie eine Tragödie“, sage ich.
Er deutet zu den Häusern.
„Hat da nicht dein Nachhilfelehrer gewohnt?”
Peer war für zwei Dinge bekannt. Dass er Noten auch kurz vor Prüfungen um mindestens zwei Punkte anheben konnte. Außerdem für starkes Rauchen. Merkwürdig, dass Eltern das damals egal war. Peer hat uns allen die erste Zigarette gegeben. Wir haben heimlich bei ihm geraucht. Deshalb war ich bei Peer. Nicht wegen der Noten.
„Ja“, sage ich und blicke auf meine Zigarette. „Stimmt schon.“
Kilometer drei: „Sei nett“
Finde zunehmend Gefallen an der Landschaft und komme jetzt, nach dem fünften Bier, auch deutlich besser in die Gespräche rein. Habe zum Beispiel nicht mehr das Gefühl, was im Gesicht zu haben, während ich mit Leuten spreche. Ulli erzählt mir zweimal die Geschichte, wie er einen Schauspieler kennenlernte und dann in die VIP-Loge im Weserstadion rein durfte. Gebe mich höflich und auch beim zweiten Mal noch überrascht. Kommen am Haus meines Fahrlehrers vorbei, bei dem ich kürzlich meinen Motorradführerschein gemacht habe. Jürgen hält die Truppe an.
Wir nähern uns langsam meinem Dorf, wobei ich mich ernsthaft frage, warum ich noch „mein“ sage. Als ich hier das letzte Mal wandern musste, war ich vielleicht acht. Sonntags mussten wir immer lange mit Papa spazieren gehen, damit Mama mal frei hatte. Mein Vater liebt die Wälder. Manchmal blieb er wortlos stehen und sagte dann, nach endloser Zeit der Stille: „Ein Specht!“ Wenn er uns mit seiner Hi-8-Handkamera filmte, wie wir durch den Rasensprenger rannten, sagte er: „5. Mai 1989. Die Kinder spielen im Garten.“ Und dann filmte er minutenlang Blumen und kratziges Gestrüpp und vielleicht noch den Hund und die Katze, und manchmal sprach er mit ihnen, während er sie filmte, bis sie die Köpfe wegdrehten.
„Papa“, sagte ich mal. „Wie spricht man ein Mädchen an?“
In der Schule mehrten sich die Gerüchte, dass man sie einladen und erobern müsse, man müsse stark sein und sportlich und entschieden. Ich meine: In meiner Kindheit hatte ich ein abgeklebtes Auge, ich war mehr ein furchterregender Pirat als eine gute Partie. Aber furchterregend im Sinne von: Wer ist das merkwürdige Kind? Andere Kinder steckten Pornohefte in meine Schultasche und sagten dann der Lehrerin Bescheid.
Mein Vater überlegte eine Weile und sagte dann: „Sei nett. Frag sie einfach.“
Ich folgte seinem Ratschlag. Die nächsten Tage verbrachte ich heulend auf dem Gästeklo. Aber mein Vater hat nie gesagt: „Ist nichts passiert“, oder: „Hör auf zu heulen“, oder: „Sei ein Mann.“ Es war immer okay, dass ich heulte. Also hab ich geheult.
Kilometer sechs: Bin ich zufrieden?
Es ist dunkel und ich habe mitunter Schwierigkeiten, den Kinderwagen zu erreichen, zwecks Biertausch. Er ist immer einen Tick schneller um die Kurve als ich. Nostalgie jetzt aber auf dem Höhepunkt.
Wir biegen in die Straße ein, in der ich Fahrradfahren lernte, meine erste Freundin hatte, mir den Arm brach und damit den Urlaub meiner Eltern versaute. Der erste Kuss und auf dem Rückweg Hand in Hand, das Ufer entlang, mit dem Gefühl, ein wirklich gutes Leben in Aussicht zu haben.
Überlege, wie mein Vater mich sieht. Gehe hinter ihm und denke, gar nicht so einfach, in seine Fußstapfen zu treten.
Frage mich auch, ob ich zufrieden bin. Bin ich zufrieden?
Jürgen hat das Ausschenken aufgegeben: „Wer noch will, der nimmt sich.“
Ulli sagt, ohne fachgerechte Betreuung würde er den Weg auch nicht mehr finden.
Diese Straße sind wir mit unserem alten, grauen Volvo gefahren. Ich auf der Rückbank. Mein Vater mit vollen, schwarzen Haaren vorne. Wie er den Rückspiegel richtet und mich ansieht. So voller Stolz. Sind meine Eltern zufrieden mit mir? Würden sie sagen, wenn es nicht so wäre?
Hinter den Häusern, irgendwo am Feld steht noch das Haus meiner Eltern. Sie haben sich getrennt, als ich etwa 18 war. Es war der erste Tag, an dem ich meinen Vater habe weinen sehen. „Wer will mich denn noch?“, hat er gefragt. Und ich sagte: „Papa, alle.“
Wie es wohl heute aussieht? Ob es sich immer noch so dunkel und lichtlos über die Felder erhebt wie damals, als mein Vater schon alleine war und ich vom Studium kam? Es ging mal das Gerücht rum, dass im Kinderzimmer noch die alten Poster an den Wänden hängen. Strange Vibrations, jetzt mit dem Alkohol irgendwie.
Am Ende kommt alles wieder hoch
In der Gaststätte werden Teller voller Fleisch und Kohl gereicht. Am Nebentisch randaliert eine Gruppe in meinem Alter. Erlaubt sind nach den Corona-Regeln maximal zehn Personen. Neben meinem Vater am Tresen steht einer, der trägt einen Schweinekiefer um den Hals, auf dem alle Grünkohlkönige seit 1987 vermerkt sind. Bin froh, dass mein Vater mein Vater ist und nicht der König.
Frage den König, was an Kohltouren so besonders sei. Es sei eben Tradition, sagt er. An die müsse man sich halten. Man könne sich von seiner Vergangenheit nicht lösen.
„Schön, dass du dabei warst“, sagt mein Vater, als ich mich verabschiede. „Ich hoffe, es hat dir was gebracht.“
Ich nehme ihn fest in den Arm.
„Ja“, sage ich. „Schön wars.“
Als ich draußen auf dem Parkplatz stehe und mich im Rückspiegel eines parkenden Autos sehe, rufe ich einen Freund an. Ob er mich abholen könne.
Während ich mit der letzten Zigarette durch den düsteren Ort wandere, überkommt mich das Gefühl, dass es schön ist, dass ich nicht hier geblieben bin. Dann wäre das nicht nur meine Vergangenheit, sondern mein ganzes Leben.
Vielleicht stimmt das, was der Typ gesagt hat: Dass man sich von seiner Vergangenheit nicht trennen kann. Dass man laufen kann, aber sie holt einen ein. Und vielleicht will ich einfach nur wie mein Vater sein, weil das gut genug wäre für ein Leben, und vielleicht ist das Glück meines Lebens schon damit erklärt, dass ich ihn hatte.
Dass ich weinen durfte.
Dass er mich beschützt hat, wenn ich meine Brille getragen habe.
Dass er meine Mutter so liebte und so tief respektierte und dass er sie heute noch liebt, wenn man sieht, wie er sie manchmal anschaut. Vielleicht bin ich auch einfach nur besoffen. Vielleicht ist das der Sinn der Kohltour: Das alles wieder hochkommt. Schnaps oder Erinnerungen.
Ich drücke meine Zigarette in der Bushaltestelle vor unserem Haus aus. Dann betrete ich leise die Einfahrt. Seltsamerweise erinnere ich mich genau an das Gefühl des Klingelknopfes unter dem Finger.
Kein Licht brennt.
In meinem Zimmer, das im Erdgeschoss lag, hängen tatsächlich noch meine gelben Gardinen. Auf dem Klingelschild neben der Tür steht noch unser Name, blass und verschlissen, aber man kann ihn lesen.
Als die Scheinwerfer in die Einfahrt fallen, steige ich ein und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen.
„Wo willst du hin?“, fragt mein Freund.
„Einfach nach Hause“, sage ich.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert