Roland fragt: „Ich bin todmüde, aber mein Kumpel feiert seinen 30. Geburtstag. Muss ich hingehen oder darf ich zuhause im Bett bleiben?
Gabriel antwortet: Lieber Roland, bleib im Bett!
Wie du es auch drehst und wendest: Bleib im Bett! Es gibt hier drei Möglichkeiten – aber alle führen ins Bett.
Erste Möglichkeit: Wenn es ein Kumpel ist, wird er es verkraften, wenn du ihm schreibst, dass du todmüde bist. Wenn du einen guten Grund hast, todmüde zu sein (Erkrankung, rechtschaffene Arbeit an hehren Zielen, Kleinkinder), nenne ihm den Grund in einer Kurznachricht. Wenn du nur schlechte Gründe hast, todmüde zu sein (preisgünstige Rauschmittel, nächtliches Netflix an Werktagen, Affäre mit der Freundin deines Kumpels), nenne keine Gründe. Er wird es sich vermutlich denken.
Das moderne Leben ist eine Zumutung: Wir haben so viel Freiheit wie nie – und müssen uns ständig entscheiden. Ich helfe dir dabei. Egal, ob das kleine Dilemma oder die ganz große Frage: Schreib mir eine E-Mail an: die-bessere-Frage@krautreporter.de! In meiner Kolumne „Die bessere Frage“ nehme ich nehme die verschiedenen Seiten deines Problems in den Blick. Und wie es sich für einen Autor mit einem Philosophie-Doktor gehört, gilt für meine neue Kolumne wie so oft im Leben: Die beste Antwort ist eine bessere Frage!
Zweite Möglichkeit: Es ist nicht nur irgendein Kumpel, sondern ein richtig guter Freund. Dann verfahre wie oben, aber nenne ihm in jedem Fall die wahren Gründe. Das sollte leicht möglich sein, denn du hast nichts mit seiner Freundin angefangen, richtig?
In beiden Fällen: Du hast ein Recht darauf, deine Kumpel genau wie deine Freunde dann zu treffen, wenn es dir gut tut. Wenn du dich quälen musst, um sie zu treffen, macht es keinem der Beteiligten Spaß; lediglich aus Pflichtgefühl trifft man die Leute nicht, die einem wichtig sind. Es sei denn, es ist ernst. Aber ein 30. Geburtstag ist nicht ernst.
Freundschaft kommt unstrategisch in dein Leben. Und ist dann einfach da
Ich kenne dein Problem und verstehe deine Frage daher gut, weil ich auch sehr ungerne Sachen absage. Ich mache es mir damit nicht leicht und quäle mich lange mit Zerknirschtheitsformulierungen herum, damit das Gegenüber auch merkt, dass ich wirklich nicht leichtfertig absage.
Es gelingt mir besser, eine Einladung oder ein vereinbartes Treffen abzusagen, wenn ich ein konkretes Alternativ-Event vorschlagen kann. Also lade deinen Kumpel gleich auf ein Essen oder ein Bier ein und schlafe dann die Nacht vorher (in deinem Bett und nicht mit seiner Freundin!).
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Du hast in Wirklichkeit einfach keine Lust, deinen Kumpel (und seine Leute) zu treffen, die Müdigkeit kommt dir eigentlich gelegen (und wäre bei interessanterer Abendgestaltung vielleicht sogar leicht zu überwinden). Dann solltest du erst recht deinen Kumpel besuchen. Um dir zu verdeutlichen, dass es keinen Sinn hat, sich selbst etwas vorzumachen. Nein, natürlich nicht; dann bleibst du auch schön im Bett und denkst darüber nach, warum dein Kumpel überhaupt dein Kumpel ist.
Mit der Freundschaft – von der die Kumpelschaft ja nur eine Unterform ist – ist es nämlich so: Gemessen an ihrer Wichtigkeit kommt sie meist völlig unstrategisch zustande und ist dann einfach so und unhinterfragt in deinem Leben.
Wenn du deine langjährigen Freund:innen heute kennenlernen würdest: Katastrophe!
Wie schwer es ist, Freunde zu finden, wenn man es absichtsvoll versucht, weiß jeder, der im Erwachsenenalter in eine fremde Stadt gezogen ist (und dort womöglich noch im Heimbüro sitzen muss). Du bist befreundet mit Leuten, mit denen du in die gleiche Klasse gegangen bist, die du bei einer Erstsemester-Veranstaltung an der Uni kennengelernt hast, die das gleiche Hobby haben wie du, nebenan wohnen oder zufällig im gleichen Büro sitzen wie du.
Es sind meist diese äußeren Umstände, die Freundschaften hervorbringen. Seltener sind Leute mit Menschen befreundet, die sie online kennengelernt haben, in Foren oder auf Twitter. Aber wenn es gelingt, sind diese Menschen dann in deinem Leben, als ob es nie anders gewesen wäre.
Dass man befreundet sein kann, merkt man erst, wenn man befreundet ist. Auch wenn es schleichend passiert, kann man an einem Punkt sagen: Ja, dieser Mensch ist mein:e Freund:in. Man kann es nicht planen, man weiß es nicht vorher, Freundschaften einzugehen ist ein Leap of Faith oder anders gesagt: Freunde werden erst rückwirkend Freunde.
Der fragwürdige Glitzerspleen? Ist doch eigentlich niedlich
Wenn du die Leute, mit denen du seit Jahren befreundet bist, heute kennenlernen würdest: Es wäre eine völlige Katastrophe! Ihr würdet schon beim ersten Gespräch feststellen, dass die andere Person völlig unmöglich ist wegen ihrer politischen Überzeugungen, der indiskutablen Schuhe oder schlicht, weil sie in der falschen Gegend wohnt (in Berlin ist diese Bezirksscham eine unentwirrbare Mischung aus praktischen Erwägungen und Distinktionsgehobel). Das aber sind genau die gleichen Dinge, die du langjährigen Freund:innen durchgehen lässt. Linke, die mit Libertären befreundet sind, halten einfach beide ihren politischen Mund, wenn sie sich treffen (ja, das gibt es wirklich). Freund:innen, die in verschiedene Städte oder gar Länder ziehen, bleiben sich trotzdem verbunden; man sieht sich einfach weniger, betrinkt sich im Zweifel zusammen via Zoom. Und auf die Schuhe guckt man nach all den Jahren eh nicht mehr; man lässt der Freundin ihren Glitzerspleen, findet ihren fragwürdigen Geschmack vielleicht sogar niedlich.
So ist das bei echten Freundschaften – aber leider manchmal auch bei falschen. Mit Menschen in einen Zustand hineinleben, in dem nicht mehr klar ist, warum sie im eigenen Leben vorkommen: passiert. Nicht nur in Liebesbeziehungen. Jede:r kennt diese Leute, die sich verlässlich dann melden, wenn ihre letzte Beziehung in die Brüche gegangen ist – und die einen beim Aufkeimen der nächsten Liebschaft sofort wieder vergessen.
Diese Menschen setzen Prioritäten. Und du stehst auf ihrer Liste leider nicht auf Platz 1. Insbesondere, wenn du jemand bist, der sich darüber definiert, anderen Menschen zu helfen, führt das zu asymmetrischen Beziehungen: Die eine Person verlangt, die andere gibt.
Es liegt auf der Hand, dass so keine gute Freundschaft aussieht. Wenn das bei dir der Fall ist, könntest du das Phänomen thematisieren (aber ohne Vorwürfe, sondern als Beobachtung: „Mir ist aufgefallen, dass …“). Vielleicht lässt sich die Freundschaft ja wiederbeleben? Und wenn nicht: Lass es sein, wenn es nicht beidseitig ist. Das macht es dann auch leichter, im Bett zu bleiben.
Der Kern von wahrer Freundschaft: Man darf sich zeigen, auch in der Schwäche
Lieber Roland, der wichtigste Grund allerdings, warum du einem echten Freund (und ich hoffe mal, dein Kumpel ist ein solcher) sagen kannst, dass du zu müde für seine Geburtstagsparty bist, ist ein bestimmtes Privileg von Freundschaft: Dass man ehrlich miteinander sein kann. Dass man auch mal sauer auf die andere Person sein kann, aber weiß, dass eine etwaige Verstimmung nicht von Dauer ist. Weil eine wirkliche Freundschaft das aushält.
Ich bin der festen Überzeugung, dass der größte Wert von Freundschaft – auch der Liebesbeziehung, die ja nur eine Unterform der Freundschaft ist – darin liegt, in ihr der Mensch sein zu können, der man ist. Auch und erst recht in Momenten der Schwäche, der Scham, des Scheiterns oder eben der Müdigkeit. Eine Freundschaft ist ein Gewebe, das nicht so schnell reißt.
Wenn du also überlegst, ob du deinem Kumpel in aller Ehrlichkeit gestehen kannst, zu müde für seine Geburtstagsparty zu sein – ist das dann wirklich ein Kumpel, also eine bestimmte Art Freund?
Lieber Roland, du hattest gefragt: „Ich bin todmüde, aber mein Kumpel feiert seinen 30. Geburtstag. Muss ich hingehen oder darf ich zuhause im Bett bleiben?“
Die bessere Frage lautet: Das Leben ist kurz – mit welchen Menschen möchte ich meine Zeit wirklich verbringen?
Hast du auch ein Problem, bei dem du Hilfe gebrauchen könntest? Eine Frage, die du nur schwer lösen kannst und bei der Gabriel in seiner neuen Kolumne „Die bessere Frage“ helfen könnte? Dann schreibe unserem Autor Gabriel: die-bessere-Frage@krautreporter.de
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Illustration: Karina Tungari, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger