Seit die Olympischen Winterspiele begonnen haben, heult mein Handy dreimal täglich laut auf. Es sind Eilmeldungen, die mir in Echtzeit verkünden, welcher Deutsche eine Medaille eingesackt hat. Bei Olympia geht es nämlich gar nicht um Sport. Es geht darum, die eigene Nation zu beweihräuchern. Olympia ist Politik pur, schon immer.
In der Antike rangen Sparta und Athen bei den Spielen um die Vormacht im heutigen Griechenland. Als die Spiele im 19. Jahrhundert wiederbelebt wurden, war das erklärte Ziel: Schweiß statt Blut. Statt sich auf Schlachtfeldern zu bekämpfen, rennt man um die Wette. Fein säuberlich getrennt nach Staatzugehörigkeit. Und so ist es bis heute. Sportler:innen laufen in ihren Nationalteams auf. Wer gewinnt, fasst sich zum Klang der Nationalhymne voller Ergriffenheit an die Brust, manchmal fließen ein paar Tränen. Später verschwinden die Medaillen nach Flaggen sortiert in Tabellen und wer am meisten Sponsoren und Werbeverträge mitbringt, gewinnt.
Es so absurd wie eintönig, dass die Öffentlichkeit bei jedem Sportgroßereignis diskutiert, ob es politisch ist oder nicht. Natürlich ist es das. Wie viele Menschen starben beim Bau der Fußballstadien in Katar? Warum reist Putin zu den Eröffnungsfeiern der Olympischen Winterspiele in China, während Biden zu Hause in Washington bleibt? In Peking streiten wir nicht nur um den Schulterschluss zwischen Russland und China, sondern auch um den chinesischen Umgang mit Tibet, die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong, die Drohungen gegenüber Taiwan, die Unterdrückung der Uiguren und um die Muskelspiele einer autoritären Weltmacht, die ihre Einflusssphäre erweitern will.
Und alles ist wie immer: Medien und Öffentlichkeit debattieren, die meisten Sportler:innen bleiben leise, weil sie eben einfach nur ihrem Sport nachgehen wollen, und Europa ist sich – wie immer – nicht einig. Dabei übersehen alle, was offensichtlich ist: Auch jenseits von Regime- und Menschenrechtsfragen ist Olympia politisch. Denn ohne nachzudenken halten alle – Sportler:innen, Medien und die Politik – ein politisches Weltbild aufrecht, dessen Zeit längst abgelaufen ist: den Nationalismus.
Das ist absurd: In Zeiten von Hyperglobalisierung, weltweiter Vernetzung und 5-Euro-Ryanair-Flügen definieren sich immer weniger Menschen über den Nationalstaat, in dem sie geboren sind. Klar, im Angesicht der Vorteile einer deutschen Staatsbürgerschaft leckt man sich gern das Maul. Aber in Identitätsfragen geht es heute kaum noch darum, ob dein Pass den Bundesadler oder einen anderen Geier trägt, sondern darum, ob du dich impfen lässt oder nicht. Oder ob du konservativ bist oder progressiv, bei Fridays for Future mitläufst oder Greta Thunberg canceln möchtest. Oder ob du #BlackLivesMatter auf Insta postest oder überzeugt bist, dass man heutzutage nichts mehr sagen darf. Es geht, genau, um Identitätspolitik.
Also, Identitäten dieser Welt, zofft euch beim Rodeln! Es wird Zeit, die Spiele ins 21. Jahrhundert zu holen.
Wenn Olympia politisch bleiben will, muss es sich ändern
Früher war es so: Im Peloponnesischen Krieg instrumentalisierten Sparta und Athen die Spiele, um Allianzen mit anderen Stadtstaaten zu schmieden. Später, nachdem die Römer Griechenland erobert hatten, nutzte Kaiser Nero die Spiele für einen gehörigen Ego-Booster. Beim Wagenrennen erklärte er sich kurzerhand selbst zum Sieger, obwohl er blöderweise gefallen war. Erstaunlicherweise gewann er auch im Singen und Musizieren, obwohl er eine scheußliche Stimme gehabt haben soll. Nun, er hatte die Disziplinen selbst erschaffen.
Einer seiner Nachfolger cancelte die Spiele traurigerweise später, weil er die Wettkämpfe für heidnisch hielt. Olympia musste in den politischen Untergrund. Aber 1894 wurde die Veranstaltung wiederbelebt. Das Ziel: Die Spiele sollten die Jugend der Welt zusammenbringen und zur Völkerverständigung beitragen. Also Konflikte im Stadion statt mit Waffen beilegen. Und die Konflikte, die damals die Welt beschäftigten, waren die zwischen Nationen. Also sortiere man die Athlet:innen nach ihren Pässen.
Seitdem dienen die Olympischen Spiele der Neuzeit der friedlichen Austragung von globalen politischen Konflikten. Sport statt Krieg ist das Motto.
Zugehörigkeit wird heutzutage immer seltener über den Nationalstaat definiert
In der Antike wäre das gar nicht möglich gewesen. Nationalstaaten gab es damals noch nicht, sie entstanden erst im Zuge der französischen Revolution. Damals holten die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten überall plötzlich Fähnchen heraus, besangen das eigene Mutter- oder Vaterland in Hymnen und erzählten sich tollkühne Mythen über die eigene Gruppe.
Klar, Menschen sind soziale Wesen. Sie suchen Sicherheit in der Gemeinschaft mit anderen. Aber Gruppen definieren sich immer auch in Abgrenzung zu anderen Gruppen. Entsprechend fand und erfand man angeblich wissenschaftliche Beweise für die Existenz, Reinheit und gleichzeitige Heldenhaftigkeit eines eigenen „Volkes“. Erst zeichnete man das Bild einer gleichgesichtigen Truppe, das anschließend durch Ausschluss und Gewalt überhaupt erst zur Realität gemacht werden sollte.
Menschen wurden gewaltvoll ausgegrenzt, abgewertet und ausgebeutet und als „anders“ markiert und zwar im Namen von Volk, Vaterland und vermeintlichen Traditionen. So sind sie eben, die Chinesen. Oder die Deutschen. Oder gar die Amerikaner!
Klar also, dass nach nationalen Pässen sortierte Athlet:innen in Länderkadern noch heute fähnchenschwenkend durch ein olympisches Dorf rennen, das eine „ganze Welt“ repräsentieren soll. Dieses Spektakel mag einmal seine Berechtigung gehabt haben. Aber diese Zeiten sind vorbei. It’s over! Und das aus zwei Gründen.
Erstens: Manch einer mag jetzt mit erhobenem Zeigefinger protestieren wollen, aber es gibt sie nicht mehr, „die Chinesen“ oder „die Deutschen“ – auch wenn die vielen Sandalen- und Sockenträger:innen an spanischen Stränden einen anderen Eindruck erzeugen. Aber, um ehrlich zu sein: Es gab sie ja auch nie.
Nationale Identitäten sind eine Erzählung, sie funktionieren wie Religionen: Menschen müssen an sie glauben, damit sie an Macht gewinnen. Im 19. Jahrhundert fühlten sich viele Menschen ihren Nationen noch zugehörig. Ein junger französischer Soldat, der bei Waterloo starb, glaubte daran, dass er das seinem Mutterland schuldig sei. Heute aber ist es anders. Die Erzählung der nationalen Identität ist geschwächt. Sie schlägt vielleicht noch bei Populist:innen und einigen ewig Gestrigen an. Alle anderen bedienen sich neuer Identitäts-Erzählungen: der Menschenrechte, der queeren Bewegung, der globalen Yoga-Community. Dem eigenen Land fühlen sich viele junge Menschen dagegen nicht mehr besonders verbunden.
Die „Jugend von heute“ liest Bücher aus aller Welt, spricht in Anglizismen, binge-watcht abgekupferte TV-Serien aus anderen Ländern, fliegt am Wochenende nach Spanien und freut sich über die Abschaffung der Roaming-Gebühren während sie auf Instagram den letzten Besuch im Asian-Fusion-Kitchen-Restaurant inszeniert.
Zweitens: Die Wettkämpfe versöhnen verfeindete Nationen nicht mehr miteinander, sondern verstärken bestehende Konflikte – und provozieren sogar neue. In Peking protzt Chinas Präsident Xi Jinping mit der eigenen Stärke, während er mit Russlands Präsident Wladimir Putin beim Frühstück darüber fantasiert, wie sie sich in Zukunft die Welt aufteilen. Im Westen kritisieren die einen zaghaft die Menschenrechtsverletzungen in China, aber auch nicht zu doll, weil man dort schließlich auch noch Autos verkaufen will. Die anderen versuchen sich in einem diplomatischen Boykott, bei dem niemand mitmacht. Alle sind von der eigenen moralischen Überlegenheit überzeugt, reden aneinander vorbei und kritisieren sich gegenseitig. Die Gräben werden tiefer. Und am Ende reiben sich neben den Autokraten in erster Linie die Autohändler die Hände.
Was also tun? Ganz einfach. Olympiateilnehmer:innen nicht mehr nach den Kategorien der Moderne, sondern nach denen der Postmoderne sortieren.
Bei Olympia sollten sich Gruppen miteinander messen, die die heutigen Konfliktlinien unserer globalen Gesellschaft spiegeln
Wenn Olympia sich seinerzeit der Nation und des Nationalismus bediente, um politische Konflikte friedvoll auszutragen und verfeindete Gruppen miteinander zu versöhnen, dann sollte diese Idee endlich ein Update bekommen. Der Moment ist gekommen, die „Wir-gegen-die-Mentalität“ von sportlichen Wettkämpfen dem Zeitgeist anzupassen und die Teams entsprechend der politischen Diskurse des 21. Jahrhunderts auflaufen zu lassen – und mehr Identitätspolitik aufs Feld zu holen. Nur wie?
Neben dem Pass gibt es unzählige weitere Möglichkeiten, Menschen einer Gruppe zuzuordnen. Klar, man könnte Sportler:innen nach Haarfarben geordnet auflaufen lassen oder nach Körpergröße. Oder sortiert nach der Fußform: ägyptisch, griechisch, römisch. Aber das wäre alles langweilig. Es würde bloß offenbaren, wie willkürlich man Gruppen schaffen und gegeneinander in Stellung bringen kann. Deshalb muss eine andere Lösung her. Schön politisch soll es sein. Und voller Konflikte. Damit endlich wieder Leidenschaft dabei ist. Es sollten die Gruppen sein, die die heutigen Konfliktlinien unserer globalen Gesellschaft wirklich repräsentieren. Es ist an der Zeit, dass Athlet:innen sich nach identitätspolitischen Kategorien sortieren.
So könnte der ein oder andere Zwist auf der Rodelbahn, der Skischanze oder auf dem Eisfeld beigelegt werden. Vielleicht gäbe es hier und da heftige Umarmungen und Tränen der Versöhnung. Und manche Teams merken nach einer Niederlage endlich, dass ihre Zeit vorüber ist.
Die überzeugten Demokrat:innen könnten bei Olympia kollektiv gegen die Autoritären im Langlaufen antreten – ohne sich permanent in peinlichen diplomatischen Floskeln zu verrennen. Klimakrisen-Leugner:innen könnten mit durchgestrichenen Greta-Thunberg-Gesichtern auf den Trikots auflaufen. Es könnte sich ein queeres Team formieren und die heteronormative Truppe, die sie bis heute ausgrenzt, demütigt und abwertet, geschlossen niederringen. Menschen, die sich als nicht-männlich identifizieren, könnten dem Patriarchat gemeinsam zur Primetime auf der Piste die toxische Männlichkeit austreiben. Für jeden wäre ein Label da, mit dem er oder sie kämpfen könnte. Vielleicht gäbe es Teams, die nach Religion sortiert sind: Überzeugte Katholiken gegen Protis gegen Muslim:innen. Samuel Huntington würde das Wasser im Mund zusammenlaufen, sein viel beschworener Kampf der Kulturen würde endlich einmal Wirklichkeit werden. Daran hätten auch die Untergangsprophet:innen und neurechten Kulturkämpfer:innen der AfD ihren heimlichen Spaß – es wäre für alle etwas dabei.
Ihren religiösen Eifer könnten auch andere aufs Spielfeld tragen: Alte, männliche Comedians zum Beispiel, deren Zeit abgelaufen ist, die aber eine Meinung zum Feminismus teilen und diese in zweitklassigen TV-Sendungen kundtun. Gemeinsam könnten sie darum kämpfen, den ins Rollen gekommenen Stein aufzuhalten.
Ja, die Regeln der eigenen Zuordnung müssten ein wenig verfeinert werden, aber warum nicht ausprobieren? Wer jetzt aufschreit und sagt, das sei zu viel Veränderung auf einmal, der sei beruhigt. Denn das Ganze hätte zwei entscheidende Vorteile.
Erstens: Niemand würde mehr darüber diskutieren, ob Olympia politisch ist. Das könnten wir uns alle sparen. Athlet:innen würden nicht mehr zu einem Wettkampf anreisen, obwohl es eine politische Veranstaltung ist – sondern gerade deswegen. Und die Zuschauer:innen-Zahlen würden explodieren, weil jede:r sich mit jemandem identifizieren kann. Ich persönlich würde mir zum ersten Mal in meinem Leben Wintersport anschauen. Die Regeln wären mir egal.
Zweitens: An den realen Machtverhältnissen würde sich nichts ändern. Alle Siege und Niederlagen blieben rein symbolisch. Das ist ja der Sinn einer solchen Veranstaltung. Niemand muss darum bangen, dass die Bedeutung von Olympia ernsthaft über reine Symbolpolitik hinaus geht. Alles bleibt wie gehabt. Das bedeutet also, und das ist die positive Nachricht: Weil alles sich ändert, kann grundsätzlich alles so bleiben, wie es ist. Nur ehrlicher und leidenschaftlicher wird es.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger