Es ist Samstagabend, wir sitzen um den Wohnzimmertisch wie eine Gruppe Dinosaurier unmittelbar vor dem Asteroideneinschlag. Das Deckenlicht blendet. Ich bin gekommen, um mit meiner Mutter und ihren Freundinnen darüber zu reden, was sie sich von einem Mann wünschen, weil mir die Vorbilder fehlen. Und ich dachte, mit der Hilfe emanzipierter, erfahrener Frauen welche finden zu können. Doch es ist schwerer, als ich dachte: Sie werden sich einfach nicht einig.
Gisela haut auf den Tisch. „Die Achtundsechziger!“, sagt sie.
„Auf wessen Kosten ging denn die sogenannte freie Liebe?“, fragt meine Mutter spitz über ihr Weißweinglas. „Auf Kosten der Frauen! Wenn ich Langhans schon sehe. Es ist doch von den jungen Mädchen erwartet worden, dass sie sich ausziehen.“
„Auf meinem Bauernhof hat sich niemand ausgezogen“, sagt Anke. „Das galt sicher nur für die studentischen Milieus.“
Ich bin ein wenig überfordert. Es ist nicht so, dass ich meine Mutter nicht gerne besuche. Auch ihre Aufläufe sind mit den Jahren immer weniger trocken geworden. Aber mit ihr über Männer zu sprechen, noch dazu, inwieweit ich selbst in diese Kategorie falle, ist mir doch einigermaßen unangenehm. Vor allem, weil ihre Freundinnen dabei sind. Ich fühle mich wie auf meinem eigenen Debütantinnenball.
Wenige Minuten vorher hatte die Diskussion begonnen. Meine Mutter, Gisela, Anke und Andrea, das sind die Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin. Obwohl mein Vater einen beträchtlichen Teil meiner Erziehung zu verantworten hat, waren es maßgeblich sie, die mich geprägt haben. Heute sind sie Rentnerinnen und treffen sich ab und an zum Rummy spielen. Und heute darf ich dabei sein.
„Worum ging es nochmal?“, fragt mich Gisela.
„Männer“, sagt meine Mutter.
„Männer“, sagt Gisela. Ob ich dazu eine Frage hätte?
Ich blättere durch die leeren Seiten meines Notizbuchs. Ich hatte auf die jahrzehntelange Erfahrung meiner Mutter und ihrer Freundinnen mit Männern gesetzt. Und obwohl es mir peinlich ist, frage ich jetzt doch:
„Was ist denn für euch ein echter Mann?“
Gisela haut auf den Tisch. Einmal, und dann nochmal
Meine Mutter sagt, Frauen hätten früher nur ein Taschentuch fallen lassen müssen, dann wären zehn Männer gesprungen. Heute täten Männer das nicht mehr. Und sie glaubt auch zu wissen warum: aus Angst, das sei bereits justiziabel.
„Das sehe ich anders“, sagt Gisela und haut wieder auf den Tisch. „In welchem Jahrhundert soll das bitte gewesen sein?“
Gisela ist 1938 geboren. Sie ist die Tochter eines Oberkreisdirektors, also aus wohlhabendem Haus. Sie ist beinharte Linke, sieht in Technik ausschließlich Überwachung, weshalb sie ohne Handy durch Berlin irrt, und als die Polizei sie mal anhielt, weil sie bei Rot über die Ampel gefahren war, gab sie lieber eine falsche Hausnummer an. Sie war Journalistin beim Rundfunk und hat zwei Söhne.
Die Petticoat-Jahre unter Adenauer seien das Schlimmste gewesen, was man den Frauen hätte antun können, sagt sie, wumms, und haut noch mal auf den Tisch. Sie erinnere sich an einen Schlager aus den Fünfzigern, der hieß: „Ein Mann muss nicht immer schön sein, darauf kommt es gar nicht an.“
„Worauf denn sonst?“, fügt sie hinzu.
„Es hilft zweifellos“, sagt meine Mutter.
Meine Mutter ist recht schön. Ich sage das hier mal so verschämt, wie das klingt. Sie brauchte nach eigenen Angaben zehn Jahre, um ihre erzkatholische Erziehung loszuwerden und war eine der ersten Frauen an einer juristischen Fakultät. Ihr Examen habe sie bestanden, weil der Professor a) zweifellos in sie verliebt gewesen sei und b) weil sie ihrem Vordermann die vorgeschriebenen Lösungen als Spickzettel mit einer Nadel in den Rücken gepinnt habe. Sie war Richterin am Landgericht und zog zwei Söhne groß. Mich und meinen Bruder. Das Dorf nannte sie, eine der wenigen berufstätigen Frauen, eine „Rabenmutter“.
Mein Vater ist ein zurückhaltender Mann. Nach meiner Geburt bat meine Mutter ihn erschöpft, ihr ein Glas Wasser zu holen. Nach zwanzig Minuten soll er vom Krankenhausgang wieder hereingekommen sein und gesagt haben: „Da war keiner.“ So erzählt es zumindest meine Mutter.
Aber er war auch ein richtig heißes Eisen. Meine Mutter sagt nicht ohne Stolz, dass jede in der Stadt diesen Mann wollte. Und wenn ich die Bilder von mir sehe, wie ich als kleiner Pilz neben ihm liege, eingekauert in seinen Leistungsschwimmerkörper, kann ich das alles sehr gut nachvollziehen. Außerdem kocht er fantastisch.
Meine Mutter sagt: „Ich wollte im Studium nie zu den Blaustrümpfen gehören. Diesen Frauen ohne Reize.“ Schon als junge Assessorin am Landgericht hätten sie und ihre Kollegin in der Mittagspause die Akten zugeschlagen und seien rausgegangen, um sich von den Bauarbeitern vor der Tür hinterher pfeifen lassen. Heute, beklagt meine Mutter, seien Männer so unsicher.
Ich werde oft mit meiner Mutter verglichen. Aber jetzt, wo sie das alles so erzählt, fühle ich mich meinem Vater doch näher. Ich habe manchmal auch das Gefühl, über leere Gänge zu streichen.
Wenn ich doch nur ein Vorbild hätte
Junge Männer heute seien viel freier, sagt Gisela und lässt wieder die Handkante auf den Tisch fallen. Sie habe wenig Verständnis für Männer und ihre vermeintlichen Sorgen. Die Frauen hätten es nie leicht gehabt, daher sei ihr Mitleid begrenzt. Wir Männer hätten wenigstens Geschichtsbücher voller Vorbilder.
„Das verstehe ich“, sage ich. „Aber die Männer in den Geschichtsbüchern hatten den Erfolg zumeist auf Kosten ihrer Frauen. Das taugt für mich so begrenzt.“
Meine Mutter war als berufstätige Frau gezwungen, ihre Urteile frühmorgens zu diktieren. Oder mein Bruder und ich mussten nachmittags mal vor den Fernseher, während sie oben im Flur saß. Sie hatte kein Büro, sondern saß dort im Flur, wo auch ihre Bücherregale standen. Darin standen zumeist Bücher von Frauen. Atwood, Munro, Bachmann.
„Ich dachte, du hattest Vorbilder“, sage ich zu meiner Mutter.
„Wen zum Beispiel?“, fragt meine Mutter.
„Ingeborg Bachmann?“, frage ich.
„Hat sich im Bett angezündet“, sagt meine Mutter.
„Simone de Beauvoir?!“
„Ach, Simone de Beauvoir“, sagt sie. „Die ist schwer ausgenutzt worden von Sartre.“
Ich tippe mit meinem Stift im Notizbuch rum. Ich habe fast nur weibliche Vorbilder. Gut, als kleiner Junge waren das auch mal Fußballer wie Mehmet Scholl und so. Aber mit den Jahren hat sich das ausgeschlichen. Ich lese weit mehr Frauen als Männer. Arbeite lieber mit Frauen. Ich habe keinen besten Freund, aber eindeutig eine beste Freundin. Vielleicht bin ich meiner Mutter viel ähnlicher, als ich dachte – und habe das wirklich nie gesehen.
Meine Mutter hatte in ihrer Generation kaum weibliche Vorbilder für ihr Leben als moderne Frau. Und ich habe kaum Vorbilder für mein Leben als moderner Mann. Sie hat sich nach Männern orientiert – ich orientiere mich nach Frauen.
Wieso hat meine Mutter mir nicht beigebracht, wie man aufräumt oder im Haushalt hilft?
Gisela hat zwei Söhne, meine Mutter auch. Anke hat einen Sohn. Nur Andrea hat keine Kinder.
„Habt ihr in der Erziehung auf unser Männerbild eingewirkt?“, frage ich.
Sie habe mal eine Puppe gekauft, erinnert sich meine Mutter. Eine schöne Puppe mit Echthaar, die sie als Kind gerne selbst gehabt hätte. Nach zwei Minuten hätte ich die Puppe aus dem Kinderbuggy befördert und meinen kleinen Bruder hineingesetzt, um ihn gegen die Wand zu fahren. Da habe sie aufgegeben.
„Warum hast du so schnell aufgegeben?“, frage ich.
„Wir haben uns einfach nicht die Gedanken gemacht wie ihr heute“, sagt Anke. Es gab weniger Ratgaber. Das Umfeld hätte Ausnahmen weniger geduldet. „Heute kann man tun und lassen, was man will. Das war damals noch nicht so.“
Ich erinnere mich gut an unser Aufwachsen. Ankes Sohn war mein Nachbar. Anke schrieb als Journalistin kettenrauchend für unsere Lokalzeitung. Oft amüsierte Glossen über uns. Dabei schrieb sie immer über die Wunder, die kleine Kinder taten, nie über die Vergehen. Wir spielten alleine an der Straße, wir fuhren heimlich mit dem Boot raus auf den See. Wenn es dämmerte, hörten wir den Ruf zurück ins Haus. Aber wenn wir uns wehtaten, sagte nie jemand: Ein Junge weint nicht. Ich glaube, wenn ich meine Mutter gefragt hätte, hätte sie mir jederzeit ein Kleid gekauft. Heute finde ich das eigentlich ganz cool.
„Aber du hast uns nie das Aufräumen beigebracht, oder dass wir etwas im Haushalt tun sollten“, sage ich.
„Das stimmt“, sagt meine Mutter. „Das war ein Fehler. Aber das habe ich nicht getan, weil es keine Jungenarbeit ist, im Gegenteil. Ich habe es einfach versäumt.“
Gisela hat es zumindest probiert: „Das war eine konflikthafte Zeit!“
Trotzdem bin ich der Mann, der ich heute bin. Ich wechsele Windeln, ich bringe meine Kinder zu Kita, ich will in einer gleichberechtigten Beziehung leben. Meine Mutter hat vielleicht nicht versucht, alles richtig zu machen. Aber sie hat offenbar aus Versehen auch nicht so viel falsch gemacht.
„Es war einfach eine andere Zeit“, sagt meine Mutter. Wir Kinder hätten uns immer gewünscht, dass mein Vater mehr zu Hause gewesen wäre. „Und lange dachtet ihr vielleicht, er wollte nicht“, sagt sie. „Er wollte bestimmt. Aber wenn er bei der Arbeit gesagt hätte, dass er sich mehr um die Kinder kümmern will, wäre er entlassen worden. Das war undenkbar.“
Auch der Mann sei in ihrer Jugend zwar mächtig, aber nicht frei gewesen, da sind die Freundinnen sich einig. Er habe zwar die Zeugnisse unterschreiben dürfen, aber …
„Er durfte sich nicht aussuchen, ob er in den Krieg möchte“, sagt Anke.
„Ob er seine Kriegstraumata ertragen kann“, sagt Andrea.
„Ob er der alleinige Ernährer sein wollte“, sagt meine Mutter.
Die Sehnsucht nach dem starken Mann
Meine Mutter sagt, sie finde es toll, dass ich heute wüsste, wo die Windeln sind, und das ich darauf achte, dass die Kinder etwas zu trinken dabeihätten.
„Natürlich hätten wir uns auch solche Partner gewünscht“, sagt meine Mutter.
„Du musst dich einfach nur an deinen Vater halten“, sagt Anke. „Der war und ist doch eigentlich der moderne, sensible Mann, den du suchst.“
„Ja“, sage ich, „in gewisser Weise schon. Aber weißt du, was ich nicht verstehe?“
„Was denn?“, fragt Anke.
„Er ist ja nicht mehr der Mann meiner Mutter.“
Meine Mutter blickt mich fragend an.
„Naja. Also. Du sagst, so einen sensiblen Partner hättest du dir immer gewünscht.“
Meine Mutter seufzt.
„Weißt du“, sagt meine Mutter, „als ich ein junges Mädchen war, war mein Idol Clark Gable. In meiner Vorstellung war das ein richtiger Mann.“ Clark Gable, Hollywoodstar der 1930er, war als Schauspieler für seine Ruppigkeit bekannt. Er spielte Draufgänger, Verbrecher oder Schürzenjäger und war der, den spätestens seit „Vom Winde verweht“ viele Frauen anschmachteten. „Natürlich fand ich nicht gut, dass er in Filmen Frauen die Treppen runtergeschmissen hat oder sie schlug“, sagt meine Mutter. „Aber ich denke, das ist die Ambivalenz, die man aushalten muss.“
Ein bisschen viel Ambivalenz, denke ich. Aber ich weiß, was meine Mutter meint: Starke Frauen möchten auch starke Partner.
Im ersten Moment stocke ich. Dann denke ich an meine Frau, die auch unglaublich stark ist. Bin ich es dann auch?
Meine Mutter hält mir die Tür auf.
„Ich möchte übrigens keineswegs als Anti-Feminstin gesehen werden“, sagt sie. „Ich bin absolute Feminstin. Frauen müssen solidarisch sein und dankbar für das, was für sie geleistet worden ist.“
Vielleicht müsst ihr jungen Männer euch auch emanzipieren, hatte Anke gesagt, als wir alleine eine Zigarette geraucht hatten.
„Mama“, sage ich und drehe mich nochmal um. „Wofür brauchen wir Männer, wenn nicht Krieg ist und die Dachpappe nicht runterkommt und die Männer mit ihren Rollen hadern, und überhaupt?“
„Der Mann per se ist ein liebenswertes Geschöpf“, antwortet sie. „Er ist sicher nicht immer nützlich, aber ohne meine Männer wäre das Leben trostlos und einsam.“
„Also?“, frage ich.
„Für die Liebe, Alexander. Für die Liebe.“
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert