Ich hatte in meiner Jugend kein Motorrad. In den Freistunden konnte ich nirgendwo hinfahren. Ich konnte keine Mädchen abholen, die ihre Haare zurückwarfen, während sie aufstiegen, und Eltern versichern, dass ich ihre Töchter um zwölf Uhr zurückbringen werde, während ich mit meinem schwarzen Helmvisier nickte und am Gasgriff drehte. Ich habe mit 17 einfach die Fahrprüfung nicht bestanden.
Ich war der blasse Kerl, der hintendrauf mitfuhr, ohne Helm, und frivol mit einer McDonald’s-Tüte jubelte. Mittlerweile bin ich 35 und bei McDonald’s esse ich nicht mehr. Aber die Idee mit dem Motorradführerschein ging mir nie aus dem Kopf. Ich bin heute Familienvater und lebe wieder in dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Und da ich mir den Zweitwagen sparen will, kam ich auf die Idee, den Führerschein einfach nachzuholen. Also habe ich meinen ehemaligen Fahrlehrer angerufen.
Ob ich nicht zwei- oder dreimal durch die Führerscheinprüfung gefallen sei, will mein Fahrlehrer wissen. Wie ich bitte auf die Idee kommen würde, trotzdem ausgerechnet bei ihm den Motorradführerschein zu machen?
Ich überlegte kurz. Jetzt wo er es so sagte, kam es mir auch ungewöhnlich vor. In meinem Kopf hatte sich alles klar und vollkommen logisch angehört: Es gibt eine neue Führerscheinvariante, für die man weniger Fahrstunden braucht, den Motorradführerschein-Zusatz B196. Voraussetzungen: Man muss seinen Autoführerschein schon mindestens fünf Jahre besitzen, mindestens 25 Jahre alt sein und neun 90-minütige Doppelstunden in der Fahrschule absolvieren – vier Theoriestunden, fünfmal Praxis. Danach bekommt man eine Bescheinigung, mit der man zum Amt geht und schon ist man Motorradfahrer. Man darf damit zwar nur die 125-cm³-Motorräder fahren, was für meine Zwecke aber vollkommen ausreichen sollte, noch dazu sind die nahezu emissionsfrei und von der Kfz-Steuer befreit. Wenn das Geld reicht, würde ich mir ein Elektromotorrad kaufen. So viel zur Theorie.
In der Praxis war alles gar nicht so einfach: Die Idee stieß bei den Frauen in meinem Umfeld zunächst auf mildes Unverständnis. Bei Freundinnen, Familie, Arbeitskolleginnen. Ob ich vielleicht eine Midlifecrisis hätte, wollten sie wissen. Ob ich wisse, wie ich Auto fahren würde, ob ich beabsichtigte, mich endgültig tot zu fahren? Was für ein verantwortungsloser Vater ich sei. Junge Väter machten keine Motorradführerscheine, junge Väter legten ihr Geld in Bausparverträge an. Offenbar gibt es für alles eine Zeit, und mein Zeitfenster für einen Motorradführerschein ist schon geschlossen.
Die Männer in meinem Umfeld reagierten ganz anders. Sie sagten: „Richtig geil, Alter!“ Oder einfach: „Wremm, wremm!“
Am Telefon meinte ich schließlich zu meinem Fahrlehrer: „Vergangenheitsbewältigung.“
Ein bauschuttartiges Lachen rutschte durch das Telefon ab, dann antwortete seine Zigarettenstimme: „Samstag um neun.“
Theoretisch ist man ziemlich schnell tot
Samstagmorgen um neun ist ein ziemlich guter Moment zum Sterben. Menschen kaufen Baumärkte leer, fällen im Zeitlupentempo Kaufentscheidungen auf dem Wochenmarkt, deponieren umständlich Lauch in Einkaufsnetze. Ich habe nicht das Gefühl, etwas zu verpassen.
Ich stehe vor dem Fahrschulgebäude, das an einer viel befahrenen Straße liegt. Es ist nicht das Fahrschulgebäude, an das ich mich erinnere, und in dem man im Theorieunterricht Nackenschläge aus der hinteren Reihe bekam. Offenbar hat mein alter Fahrlehrer angebaut. Er hat auch zwei neue Fahrzeuge und weiteres Personal. Ob ich mich auch so sehr verändert habe? Immerhin habe ich vor, meinen Führerschein dieses Mal zu schaffen.
Links neben mir warten zwei junge Frauen, sie sehen aus wie 18, rauchen und sprechen über Cross-Motorräder. Sie erzählen von Waldstrecken und orangefarbenen Kniepads.
Zu meiner rechten stehen deutlich ältere Männer. Einer ist dick, einer ist hager, einer trägt ein Hemd von Camp David. Sie bilden einen Kreis und scheinen sich zu kennen. Einer sagt, er brauche im Prinzip nur diesen Stempel, alles andere wisse er doch schon. Kann nicht jeder wie ein Gott auf die Welt kommen, sagt ein anderer. Auf mich wirkt es, als würden sie sich zart aneinander reiben, wie Wollnashörner, aber das könnte auch nur so ein Gefühl sein. Nebenbei beäugen sie die Mädels. Checken sie ab.
Der Fahrlehrer kommt heraus und begrüßt uns. Es ist nicht mein alter Fahrlehrer, sondern ein anderer. Der, der hier die Theoriestunden gibt. Es sei grundsätzlich so mit dem Motorradfahren, sagt er, als wir uns coronagerecht auf die Stuhlreihen im Klassenraum verteilt haben: man sei ziemlich schnell tot. Er streicht sich über die Glatze und fügt hinzu: Da wolle er uns keine Illusionen machen. Er habe mit dem Motorradfahren beispielsweise aufgehört, weil die Liebe zum Motorradfahren zwar groß, die Liebe zu seiner Frau aber noch größer war. Männer in der letzten Reihe verschränken kräftige, haarige Arme.
Es gäbe ganz unterschiedliche Arten, auf dem Motorrad zu sterben, fährt er fort. Lastwagen, Laub auf der Straße, plötzlich ausscherende Landmaschinen mit Mähwerk, Kies, Sand, schlecht gewartete Motorräder, Wild sowie andere Verkehrsteilnehmer, die sich ähnlich rücksichtslos verhielten. Damit, sagt er, und schaltet mit der Fernbedienung den Beamer an, wolle er überleiten zum zweiten Teil. Dem Teil, in dem er erklären wird, wie man das alles wirkungsvoll verhindere.
„Wer hat denn schon ein Motorrad?“, fragt er.
Alle Hände gehen hoch. Wenn andere sich melden, melde ich mich instinktiv auch. Das habe ich noch aus der Schule. Denn wenn alle das tun, kommt man in der Regel nicht dran. Sonst kann man sagen, dass man die Frage falsch verstanden hat.
Der Reihe nach werden wir gefragt, welches Modell wir fahren. Die Männer sagen ausschließlich Markennamen, sowie ab und an Buchstaben oder eine Zahl. Jedes Mal tippe ich sie unter dem Tisch in mein Smartphone ein. Die Google-Suche zeigt mir Supersportler, also Rennmaschinen, oder massive Touring-Schlitten mit dicken Koffern an den Seiten. Die anderen Männer sind offensichtlich nicht für den 125er-Schein hier, sondern für den großen Motorradschein. Aber die Theoriestunden sind die gleichen. Die Mädels erzählen von Crossmaschinen und Rennen am Wochenende, von Stürzen und Protektoren. Dann bin ich an der Reihe und sage: Elektromotorrad.
Ich höre die Männer hinter mir murmeln.
„Oh Gott“, sagt einer.
„Die Gemüse-Fraktion wieder“, sagt ein anderer.
„Es knallt nicht, es qualmt nicht“, sagt der Fahrlehrer und hebt andächtig den Zeigefinger, „ist aber die Zukunft.“
Er reibt sich die Hände und zeigt uns, aus aktuellem Anlass, wie er sagt, einen Film. In dem Film geht es um die Vorteile von Elektromotorrädern. Durchs Bild rauscht eine Frau auf einem ziemlich coolen Elektromotorrad. Es macht kaum Geräusche. Stattdessen hört man den Wald. Meine Ehrenrettung, denke ich. Stattdessen bricht eine Diskussion los.
Ökologisch, kaum Wartung, sagt der Fahrlehrer. Auch kein Gestank. Aber das sind alles offensichtlich keine Argumente, die die Männer überzeugen können. Geld spiele keine Rolle. Stinken solle es. Wartung mache man gefälligst selbst. Nach dreißig Minuten werde ich sehr müde und bekomme das Bedürfnis zu kippeln.
Ich wage erste Stehversuche
In Deutschland besitzen rund jeder dritte Mann und jede zehnte Frau einen Motorradführerschein. Den größten Anteil unter den Motorradfahrenden haben mit rund 40 Prozent die 50- bis 59-Jährigen. Sie fahren Chopper, Cruiser oder schwere Harleys. Motorrad fahren ist statistisch gesehen also ein Hobby alter Männer. Mehr muss man, denke ich, auch nicht wissen.
Etwa zwei Wochen später sitze ich in voller Montur auf der Maschine, die auf dem Privatparkplatz meines Fahrlehrers steht, und stelle die Rückspiegel ein. Ich stelle immer was ein, wenn ich Angst habe, mich einer Tätigkeit tatsächlich zu widmen. Mein Fahrlehrer herrscht mich über den Sprechfunk an. Ob ich den ganzen Tag stehen wolle oder Parken übe.
Ich drehe am Gasgriff und der Motor säuft ab.
Ich drehe nochmal am Gasgriff und der Motor säuft ab.
Was los sei, will mein Fahrlehrer wissen, ob ich etwa da anknüpfen wolle, wo ich in meiner Jugend erfolgreich aufgehört habe.
Ich drehe den Gasgriff, das Motorrad buckelt und säuft ab.
Mein Fahrlehrer wird ein bisschen hysterisch, wie ich finde, während er mir durch die Windschutzscheibe seines Begleitfahrzeugs auf den Rücken starrt. ICH SOLLE DAS VERDAMMT NOCH MAL MIT GEFÜHL MACHEN. Ob ich ein Mann sei oder ein Hähnchen. Da ich ihn lange genug kenne, weiß ich, dass er das lieb meint. Eigentlich ist er ein ganz fürsorglicher, umgänglicher Typ.
In den vergangenen Tagen ist mir etwas aufgefallen: Die jüngeren Fahrschüler, die ihren Autoführerschein machen, sind auffallend anders als die Motorradfahrer und mein alter Fahrlehrer. In den vergangenen Tagen haben wir sie ab und zu abgeholt, wie man das so macht, wenn eine Stunde in die andere übergeht. Die Jugendlichen sind freundlich, tragen Brillen mit runden Brillengläsern, Rollkragen oder weiße Schuhe. Sie halten höflich die Autotür auf und haben keinen saudummen Spruch auf den Lippen. Manche sind gestresst und reden von Abi, Corona oder Homeschooling. Hart, mit den Eltern auch so. Wenn sie erzählen, wie sie darunter leiden, sagen sie eilig dazu, dass es anderen aber natürlich viel, viel schlechter gehe – und sie sich daher überhaupt nicht beschweren könnten. Dann schlagen sie auf der Rückbank die Beine übereinander und blicken auf ihr Handy.
Ich schließe die Augen, atme tief durch und sage mir, du bist ein Zen-Buddhist, starte einfach diesen verfickten Motor. Der Motor dreht hoch, ich spüre, wie die Schaltung greift und sich die Räder unter mir in Bewegung setzen und langsam über den Asphalt abrollen.
Man soll auch das Positive sehen: Ich finde, ich reagiere heute viel gelassener auf Druck als früher.
Schon nach einer Woche trete ich zur Prüfung an
Nur eine Woche später fahre ich über die Landstraße. Im Motorradladen habe ich die einzige Jacke gekauft, die nicht schwarz war oder aus Leder. Sie ist grau und neongelb, und nur ein ganz bisschen schwarz. Nun reißt der Wind an ihr, neben mir zittert der Wald, Bäume fliegen vorbei und meine Finger wären nur mit Brecheisen von den Griffen zu trennen.
Vor mir erscheint in einer Kurve ein sehr auffälliger Holzlaster. Er sieht genauso aus wie der Holzlaster des Todes aus dem Theorieunterricht, unter dem man stirbt.
„Überholen“, sagt mein Fahrlehrer knarzend über den Sprechfunk.
Ich versuche, den Kopf zu schütteln, aber das geht bei dieser Geschwindigkeit nicht und selbst wenn, würde mein Lehrer es vermutlich nicht sehen. Ich habe Tränen in den Augen.
„Überholen!“, schreit mein Fahrlehrer. Aber ich reagiere nicht.
„Voll reinknallen sollst du und dann vorbei!“, brüllt mein Fahrlehrer. „Willst du dein ganzes Leben lang zögern?“
Ich mache einfach: nichts. Ich kann nicht.
Eine dreiviertel Stunde später lasse ich mein Fahrschulbike ausrollen und komme auf dem Parkplatz zum Stehen. Gut, denke ich. Jetzt wird er sagen, ich hab eh keine Eier. Wie dämlich man sich bitte anstellen könne. Aber ich möchte halt nicht Easy-Rider-mäßig mit überbreiten Fußrasten durch die Stadt cruisen. Ich möchte mich nicht auf der Autobahn durch den Stau schlängeln, als könnten alle nichts, nur ich könnte alles. Ich will bei Regen nicht überholen, ich will gar nicht überholen. Ich möchte wie ein Opa mit 60 Stundenkilometern emissionsfrei durch die Landschaft tuckern, die Felder betrachtend, und wenn ein Audi nahe auffährt, hupt und den Warnblinker zieht, wünsche ich mir Gelassenheit für uns beide.
„Was war das denn?“, fragt mein Fahrlehrer entnervt und steckt sich eine Kippe an. Ich hätte klar ein Problem mit Autoritäten. Ich will einfach nicht so einen Scheiß machen, sage ich, stelle das Bike hin und ziehe den Helm ab. „Mir doch egal, ob das männlich ist oder nicht.“
Er wollte mich nicht zum Rasen zwingen, sagt mein Fahrlehrer. Sondern mich aus einer Gefahrensituation befreien. Da müsse man auch mal die Arschbacken zusammenkneifen.
Er hatte also etwas ganz anderes von mir erwartet? Oder hatte ich es falsch verstanden? Wessen Erwartungen sind das hier eigentlich? Hatte überhaupt jemand zu mir gesagt, dass Schnellfahren männlich ist – und langsames Fahren nicht?
Vielleicht waren die Männer im Kurs weniger der Meinung, ein Mann müsse ein bestimmtes Bike fahren, als vielmehr, dass ihnen der Elektro-Trend auf die Ketten ging. Vielleicht wollte der Verkäufer im Laden nicht sagen, dass ein Mann schwarz tragen muss, als vielmehr: Wir haben halt da, was da ist. Vielleicht hat niemand etwas von mir erwartet. Vielleicht waren die Erwartungen: meine gewesen?
Ich solle das Elektromotorrad mal vergessen, sagt mein Fahrlehrer. Er überreicht mir die unterschriebenen Dokumente. Das sei viel zu schnell für mich. Lieber so einen Oldtimer, wo die Kupplung klemmt. Hätte es eine Prüfung gegeben, fügt er väterlich hinzu, wäre ich sicher durchgefallen.
Ich nicke artig und stehe da, mit dem Helm unterm Arm.
„Würdest du mit Flipflops auf dem Bike Brötchen holen fahren?“, fragt mein Fahrlehrer.
„Nein“, sage ich.
„Wirst du dich je auf die Autobahn trauen?“
„Vermutlich nicht.“
„Weißt du was“, sagt mein Fahrlehrer dann, und wir rauchen. „Vermutlich wirst du nicht sterben.“
„In Ordnung“, sage ich.
Wenn mal Zeit ist, sagt er, könne man ja mal zusammen ein Bier trinken. Und dann täten wir so, als wären wir richtige Männer. Klar, sage ich. Und dann zwinkert er so komisch und steigt ins Auto.
Ich blicke meinem Fahrlehrer nach, wie er vom Parkplatz rollt. Wieso hat er das jetzt so gesagt, meinte er mich oder uns beide?
Bevor ich diese Frage näher durchdenken kann, beginnt es zu regnen und ich steige auch ins Auto, weil ich Angst habe, dass die Unterschrift für die Führerscheinerweiterung B196 nass wird.
Demnächst werde ich also ein Motorrad kaufen gehen.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert