Ich wage mit diesem Text einen Frevel. In den meisten Haushalten dürften die Weihnachtsbäume schon aufgestellt und die Geschenke schon gekauft sein. Last Christmas oder das Weihnachtsoratorium dudeln vermutlich seit Wochen durchs Haus. Aber dennoch erhebe ich nicht die Krippe oder Lametta zum Ding des Monats, sondern die Yogamatte.
Komisch, denkst du jetzt vielleicht und steckst dir noch ein Stück Stolle in den Mund. Aber so komisch ist das nicht: Die Yogastunde hat nämlich bei vielen den Gottesdienst längst abgelöst. Der neue Tempel ist die Yogamatte. Zugegebenermaßen trifft das vor allem auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu und zufällig gehöre ich zu dieser Gruppe: gebildete, junge Großstädterinnen.
Mein Opa ist evangelischer Pfarrer, mein Großonkel ebenso und zwei Schwestern meiner Patentante sind Pfarrerinnen. Als Kind gehörte der Weihnachtsgottesdienst für mich also dazu. Im vergangenen Jahr fand kein Weihnachtsgottesdienst statt, wegen Corona. Aber ich wäre so oder so nicht hingegangen. Ich falle nicht mehr vor Jesus auf die Knie, sondern vor Mady oder Adriene. So heißen meine Youtube-Yoga-Gurus. Mein Morgen beginnt für mich mit ihnen auf der Yogamatte. Noch bevor ich die ersten Worte mit irgendjemandem wechsle, rolle ich sie aus, klappe meinen Laptop auf und starte ein Video. Dann dehne und strecke ich mich für mindestens zehn Minuten, und der Tag kann losgehen.
Ja, ich bin ein Klischee. Aber ich bin nicht allein. Die Yogalehrerin Adriene hat auf YouTube 10 Millionen Abonnent:innen und eine der beliebtesten Lehrerin der Deutschen, Mady Morrison, mehr als 2 Millionen. Laut Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland praktizierten im Jahr 2018 rund fünf Prozent der Deutschen regelmäßig Yoga – überwiegend Frauen und überwiegend Singles. Diese Zahl wächst seit Jahren. Die Zahl der Kirchgänger:innen hingegen sinkt. Im selben Erhebungsjahr gaben 14 Prozent der Deutschen an, regelmäßig in die Kirche zu gehen. 2007 waren es noch 21 Prozent gewesen.
Corona hat mich zum Yogi gemacht
Ich habe Anfang der Nullerjahre einen Kinder-Yoga-Kurs gemacht, bei dem ich zum ersten Mal beim Baum die Balance zu halten versuchte (einen Punkt in der Ferne fixieren!), und den Kopfstand lernte. Den Handstand leider nie. Die Übungen fand ich ziemlich langweilig. Ich ging lieber in einen Karate-Verein. Noch vor drei Jahren staubte meine Yogamatte vor sich hin. Ich sah sie noch nicht mal als Fitnessgerät, denn dafür hätte ich sie ja benutzen müssen. Erst als die Corona-Pandemie begann, rollte ich sie wieder aus. Yoga nach dem Aufstehen erleichterte mir als Morgenritual das Homeoffice. Und im Laufe der Monate wurde es mir immer wichtiger.
Die ritualisierte Abfolge von Bewegungen kannte ich aus dem Gottesdienst, bei dem sich Stehen, Sitzen und Sprechen mit Singen und Schweigen abwechseln. Es gibt keine Yogastunde ohne Sonnengruß, so wie es keinen Gottesdienst ohne Vaterunser und Glaubensbekenntnis gibt. Und das tausendfache, millionenfache Wiederholen von Bewegungen, von Wörtern, von Gesang lädt sie mit einer eigenen Schwere auf.
Genau die richtige Dosis Spiritualität
Auch wenn sich die Yogamatte nur durch ihre Dicke von einer Fitnessmatte unterscheidet – Yoga ist trotzdem immer mehr als „nur“ ein Sport. Denn Meditationen sind kein Add-on zur Yogapraxis, sondern fundamentaler Bestandteil. Genauso wie die Konzentration auf den Atem. Aber die Yogamatte lässt das Gesamtpaket zunächst vor allem wie einen Sport aussehen. Und das erleichtert Menschen wie mir, die eigentlich nicht auf der Suche nach einer neuen Religion waren, den Zugang.
Natürlich gibt es viele, viele Menschen, die hin und wieder im Fitnessstudio den „herabschauenden Hund“ oder den „Krieger Zwei“ machen, ohne sich deshalb als Yogi zu fühlen. KR-Mitglied Elisa schreibt: „Ich betreibe Yoga eher so, wie jemand manchmal im Fernsehen ein Fußballspiel beobachtet, ohne für einen bestimmten Verein zu brennen.“ Genauso wie eben manche aus Gewohnheit in den Gottesdienst gehen, um danach mit der netten Sabine zu plauschen oder weil man das an Weihnachten und Ostern nun mal so macht.
Nicht jeder, der in die Kirche geht, könnte theologische Abhandlungen über Hiobs Leiden im Alten Testament schreiben. Nicht jeder, der hin und wieder seine Matte ausrollt, ist auf der Suche nach Erleuchtung. Aber es gibt sie: die Menschen, für die ihre Matte der heilige Boden ist, der sie erdet, ihnen Halt gibt und sie trägt. Ich befinde mich da wohl im guten Mittelfeld. Aber das Praktische am Yoga ist, dass es mir genau das Maß an Spiritualität gibt, das ich brauche.
Das Spiritualitätsniveau von Gottesdiensten unterscheidet sich von Sonntag zu Sonntag nur wenig, mit Ausnahme vielleicht der Osternacht. Auf der Yogamatte kann ich mir selbst aussuchen, wie sehr und wie lange ich mich der Selbstfindungssuche und Einkehr widme. Yoga ist damit eine Choose-your-own-Adventure-Variante von Spiritualität und passt damit perfekt in unsere Zeit.
Kraft aus der Gemeinschaft – oder aus sich selbst
Beim Yoga sitze oder stehe ich alleine auf diesem Stück rutschfestem Plastik und konzentriere mich auf meinen Atem. Ich teile mir keine Bank mit anderen Gemeindemitgliedern, denn ich bin das einzige Mitglied meiner persönlichen Yogagemeinde. Und deshalb ist es auch kein so großer Verlust, dass ich pandemiebedingt fast nicht in Yogaklassen gehe und den Moment nur mit Adriene auf dem Bildschirm teile. Ich brauche die anderen gar nicht. Ich verbringe die Stunde damit, zu mir selbst zu finden, und nicht zu anderen.
Klar, Gottesdienste werden auch im Fernsehen übertragen und auf YouTube findet man auch einige Aufnahmen. Aber das Erlebnis ist ungefähr so, wie einen Konzertbesuch mit einem Mitschnitt des Konzertes zu vergleichen: Man ist im besten Fall ein bisschen neidisch darauf, dass die anderen so ein schönes Erlebnis hatten. Aber man ist eben nicht mittendrin. Das liegt an der Macht, die nur aus einer Gruppe entstehen kann. In einem Gottesdienst schöpft man Kraft aus der Gemeinde, beim Yoga schöpft man aus sich selbst.
Eine jahrtausendealte Tradition?
In der Kirche ist außer Gott und Jesus wohl nichts so wichtig, wie Heiligtümer. Selbst wenn der Altar manchmal nur wie ein Holztisch aussieht, ist es doch ein heiliger Holztisch. Dazu das Kreuz, manchmal mit, manchmal ohne Jesus und an den Wänden jahrhundertealte Bilder, auf denen Jesus und seine Jünger, Jesus und Maria oder andere Heilige abgebildet sind. Kirchen verströmen Andacht, selbst für atheistische Tourist:innen, die sie besuchen. In den letzten paar Jahrhunderten hat sich daran kaum etwas geändert.
Die Geschichte des Yoga hingegen ist ein kompliziertes Hin und Her aus Einflüssen des Ostens und des Westens. Die Gymnastikübungen eines schwedischen Nationalisten spielten dabei eine Rolle, genauso wie traditionelles indisches Wrestling. In seiner modernen Form ist es erst ungefähr hundert Jahre alt. Mit seinem Ursprung hat das heutige Yoga ungefähr so viel zu tun wie die Fertig-Bolognese von Maggi mit einem Ragú, das sechs Stunden lang kochen muss. Aber für mich ist das nicht relevant. Denn im Gegensatz zur Kirche hat Yoga sich mit denen, die es machen, weiterentwickelt. Es hat sich an uns angepasst. Vermutlich würde Jesus heutzutage auch Yoga machen.
Die Yogamatte ist der liegende Beweis dafür, schließlich ist sie nichts weiter als ein weiches Stück Plastik, dass sich gut verkaufen lässt. Es gibt, soweit ich weiß, keine Berichte von heiligen Matten berühmter Yogis, die von einer Generation zur nächsten weitergereicht werden (auch wenn es im Internet 3.000 Euro teure Matten zu kaufen gibt, deren Existenz eigentlich nicht anders erklärt werden kann).
Und trotzdem brauche ich sie.
Die Yogamatte ist genauso sehr Fitnessgerät wie Andachtsort und damit ein Allrounder. Ich brauche keine Zitate aus einem heiligen Buch lesen. Ich muss keinen gekreuzigten Mann anbeten. Ich muss keine jahrhundertealten Gebete aufsagen. Ich muss überhaupt gar kein Heiligtum verehren. Das einzige, was im Yoga heilig ist, ist der eigene Körper.
Bedanke dich bei dir selbst
Am Ende meiner Yogastunde liege ich im Shavasana, mit ausgestreckten Armen und Beinen auf der Matte und schweige. In diesem Moment dient die Matte mir, um mich zu erden. „Bedanke dich bei dir selbst und deiner Yogapraxis“, sagt Mady Morrison, als wir fertig sind und nickt mir zu.
In der Kirche hätte mich wohl der Pfarrer gesegnet. Hier segne ich mich selbst. Ich rolle die Matte zusammen, atme noch einmal tief durch und beginne meinen Tag.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger