Das erste Lebewesen, das jemals Schnee fühlte, war wahrscheinlich ein Fisch. Das schreibt Giles Whittell in „Schnee: Alles über das weiße Geheimnis“. Für uns Menschen ist Schnee überlebenswichtig, denn seine Schmelze ist eine wichtige Wasserressource für mehr als ein Viertel der Erdbevölkerung. Und er zieht uns Menschen auch in seinen mystischen Bann, besonders im Dezember, wenn alle von weißen Weihnachten träumen.
Ich wollte wissen, ob das auch die KR-Community bewegt und habe euch gefragt: Welche Geschichten verbindet ihr mit Schnee? Zurück kamen nicht nur Anekdoten, sondern auch Fragen, etwa: Werden unsere Enkelkinder noch weiße Weihnachten erleben? Und ich fragte mich: Verbindet uns Schnee oder trennt er uns in die, die neue Skier kaufen können – und die, die auf dem Schulhof eingeseift werden?
Darüber habe ich mit euch, einem Meteorologen und einem Wettermoderator gesprochen. Eine Spurensuche nach der ganzen Wahrheit über weiße Weihnachten.
Wie stehen die Chancen dieses Jahr?
Es muss Anfang der 2000er Jahre gewesen sein, als bei KR-Mitglied Tanja an Heiligabend das Blitzeis zuschlägt. Kurz darauf fallen dicke Flocken. Tanjas Omas, der Opa, ihre Schwester, ihr Mann und die Tochter beschließen, im Haus der Eltern zu bleiben. Als sie abends durch die malerische Winterlandschaft wandern, ist die Tochter überzeugt: Die roten Lichter des Funkturms in der Ferne müssen Rudolphs Nase sein. Schließlich suchen sie Betten, Sofas und Luftmatratzen zusammen und errichten ein gemütliches Nachtlager in der pickepacke vollen Wohnung.
Heiligabend, Schnee, Familie – das ist der Traum von Weihnachten, mit dem wir aufwachsen. Die KR-Community fragt sich: Gilt das auch noch für unsere Kinder?
„Sie sind nicht der Erste, der anruft!“ Der Meteorologe Andreas Friedrich vom Deutschen Wetterdienst (DWD) klingt zunächst genervt, als ich Ende November anrufe, um mit ihm über Schnee zu sprechen. Seit Monaten bekommt er in unregelmäßigen Abständen Anrufe von Journalist:innen, die wissen wollen, ob wir dieses Jahr mit weißen Weihnachten rechnen können.
Eingeschneite Weihnachten, wie in Tanjas Geschichte, sind ein eher seltenes Ereignis, sagt Friedrich. In vielen Regionen, die tiefer gelegen sind, liege höchstens alle zehn Jahre über Weihnachten Schnee. Dass Deutschland zum Fest komplett unter einer Decke aus Schnee lag, gab es in den vergangenen hundert Jahren nur ganze sechs Mal.
Oft ist es an Weihnachten eher mild. Meteorolog:innen nennen das „Weihnachtstauwetter“. Dabei schieben sich nach einem vorherigen Schneefall warme Luftmassen aus dem Südwesten über Deutschland. Sie sorgen für Regenfälle und Tautemperaturen, die bis ins Mittelgebirge ragen können.
Weihnachtstauwetter ist eine sogenannte Singularität. Singularitäten sind Ereignisse, die zu bestimmten Zeiten im Jahr überdurchschnittlich oft auftreten. Dazu wurden häufig auch die Eisheiligen gezählt.
Werden unsere Kinder noch Schneeballschlachten machen?
Die Chance auf weiße Weihnachten ist also statistisch gering – wenn auch nicht ausgeschlossen. Aber wie ist das mit dem Klimawandel? Derzeit liegen wir etwas mehr als ein Grad Celsius über dem vorindustriellen Zeitalter. Tendenz steigend. „Werden unsere Kinder Schnee nur noch aus Erzählungen kennen?“, fragt Edith aus der Community.
Die kurze Antwort des DWD-Meteorologen Friedrich: „Nein.“
Die längere Antwort ist etwas komplizierter. Wissenschaftler:innen haben noch nicht alle Interaktionen im Wetter- und Klimasystem verstanden. Und die wenigsten lassen sich präzise berechnen.
Damit Schnee entstehen kann, braucht es Feuchtigkeit, Dampf also. Dessen Entwicklung zu berechnen, ist allein schon schwer, weil wie schnell wie viel Wasser aus einem Ozean oder einem See verdunstet, von unzähligen Faktoren abhängt. Unter anderem der Wassertemperatur und der Temperatur der Luft, der Feuchtigkeit im Boden oder gar den Pflanzen, die in einer Region wachsen.
Es könnte sein, dass der Klimawandel sogar mehr Schnee in Mitteleuropa nach sich zieht. Ein Faktor ist beispielsweise der Wind, der sich mit dem Klimawandel verändert – und beeinflusst, wie viel Schnee unsere Kinder und Enkel zu sehen bekommen.
Meteorolog:innen schauen sich unter anderem sogenannte „Spaghettidiagramme“ an, um das zukünftige Wetter zu bestimmen, erklärt mir Özden Terli. Er ist ebenfalls Meteorologe und Wetter-Moderator im ZDF. Anhand so eines Diagramms zeigt er mir, wie sich nach wenigen Tagen die spaghettiartigen Modellverläufe auseinander bewegen und die Wettervorhersage immer mehr einem Blick in die Schneekugel gleicht.
Hitzewellen sind die größere Gefahr durch den Klimawandel. Die Erderwärmung, erklärt Terli, habe noch einen weiteren Effekt: Warme Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen. Und in einer Welt, die wärmer wird, gibt es mehr Feuchtigkeit und somit auch mehr Regen und Schnee, sagt Terli.
Das bedeutet unter Umständen aber nicht nur mehr Schlittenfahren und Schneeballschlachten. Schnee birgt auch die Gefahr für Hochwasser, sobald er taut. Dass kommende Generationen sich auf erhebliche Klimaveränderungen einstellen müssen, ist unvermeidlich. In unserer Lebenszeit gibt es daher kein Zurück mehr, sagt Özden Terli. Nur verlangsamen könne man die Entwicklung.
Schnee kann tödlich sein
In meiner Schulzeit sorgten im Jahr 2010 Berge an Schnee dafür, dass viele Busse nicht mehr bis in die Stadt vordrangen. Nur ein Bruchteil der Schüler:innen schaffte es in die Klasse. Die Streber:innen, die trotzdem gekommen waren, seiften sich in den Pausen gegenseitig ein. Lediglich vor dem stellvertretenden Schulleiter, der mahnend über den Hof lief, mussten wir uns vorsehen. Er sah in jedem Schneeball ein versicherungstechnisches Risiko.
KR-Mitglied Silvia lebt im mittleren Schwarzwald. Sie erinnert sich statt an weiße Weihnachten viel mehr an den Orkan Lothar. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 fegte der mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 200 Kilometern pro Stunde auch über Südwestdeutschland hinweg. Der gewaltige Sturm kostete über einhundert Menschen das Leben.
Und auch die Bergrettung hat alle Hände voll zu tun.
Jedes Jahr kosten die Schneemassen etliche Menschen das Leben. Auch wenn die Zahlen rückläufig sind, verletzten sich in der Saison 2019/2020 zwischen 36.000 und 38.000 deutsche Skifahrer:innen.
Krautreporter-Mitglied Nina wohnt in den Salzburger Bergen und erlebt fast jedes Jahr weiße Weihnachten. Jedes Jahr gibt es dort auch schwere Skiunfälle. So viele, dass die Kliniken mit den Verunglückten einen großen Teil ihres Umsatzes machen. Nina erklärt sich den Übermut vieler Skifahrer:innen so: „Wer Schnee nur als Skitourist:in kennt, hat zu wenig Respekt davor.“ Ähnlich, wie etwa Alpenbewohner:innen oft zu wenig Respekt vor dem Meer hätten.
Schnee ist eine Klassenfrage
Ein Teil der Wahrheit über den Schnee ist auch: Schnee muss man sich leisten können.
Das zeigt schon das Preisschild einer Tageskarte für ein Skigebiet. Im österreichischen Ischgl beispielsweise, blättert eine vierköpfige Familie für einen Tag schon mal knapp 200 Euro hin – allein für den Skipass. Dazu kommen Skier, Kleidung, Anfahrt und Hotel.
Innerhalb von 30 Jahren sind in Ischgl die Kosten für den Skipass über 130 Prozent gestiegen. Doch dass Skifahren teuer ist, ist kein neues Phänomen. Gegenüber der österreichschen Rechercheplattform Addendum sagt der Tourismusforscher Peter Zellmann, Skifahren sei schon immer etwas „für das obere Drittel“ gewesen.
Im Frühjahr 2020 bricht in Deutschland die erste Corona-Welle aus. Die Skirückkehrer:innen aus Ischgl treiben das Pandemiegeschehen voran. In kurzer Zeit infizieren sich 6.000 Menschen aus 45 Ländern beim Après-Ski. Während sich in England und den USA das Virus vor allem in benachteiligten Wohngegenden ausbreitet, ist in Deutschland die erste Corona-Welle von höheren Inzidenzen in besser gestellten Wohngegenden geprägt.
Als der Schnee schmilzt, kehrt sich das Infektionsgeschehen um. Plötzlich stecken sich viel häufiger Menschen an, die in benachteiligten Regionen wohnen.
Wir Schneeflocken
Unsere Identität prägt also, wie wir Schnee erleben. Vor einigen Monaten hatte ich ein Seminar an der Uni, bei dem wir Studierenden eine kleine Fotoausstellung machten. Der damalige Chef einer Regionalzeitung, dessen Bart langsam begann, grauer zu werden, besuchte uns für eine Gastkritik – und begrub uns unter einer Lawine von Kritik.
Seine Worte waren harsch, für manche beleidigend. Einige Wochen später konfrontierten wir den bratzigen Chefredakteur mit seiner verletzenden Art. Er war verwundert und fand das übertrieben. Er hätte unter ganz anderen Bedingungen gelernt. Er nannte uns „Snowflakes“ – Schneeflocken, weil wir so sensibel seien.
Snowflakes also. Es kann bis zu einer dreiviertel Stunde dauern, bis eine Schneeflocke den Weg aus der Wolke bis auf den Boden gefunden hat. Wie bei eineiigen Zwillingen, die trotzdem einzigartig sind, weil sie unterschiedliche Erfahrungen in ihrem Leben machen, schreibt sich der Weg, den eine Flocke von der Wolke bis zur Erde nimmt, in ihre Form ein. Er ist ihr Logbuch, was sich von innen nach außen lesen lässt.
Um das Logbuch der Schneeflocken besser entziffern zu können, machten bereits Forscher:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mikrofotografien von Schneeflocken. Einer von ihnen war Ukichiro Nakaya, ein bekannter Schneeforscher aus Japan. Er erzeugte anhand verschiedener Parameter Tausende Flocken in einer Art Kältekammer und ordnete sie in einem Diagramm an: dem Nakaya-Diagramm.
Vereinfacht lässt sich sagen, je dichter der Wasserdampf bei der Bildung einer Schneeflocke ist, desto größer sind ihre Kristalle. Bei Temperaturen um den Nullpunkt fällt Schnee oft in Form größerer, lockerer Schneeflocken. Bei tieferen Temperaturen, wenn die Kälte bis auf die Knochen geht, haben die Kristalle meist die Form von Schneeprismen, Eisnadeln oder Eisplättchen.
Das sorgt auch dafür, dass fallender Schnee manchmal schön fluffig ist und sich beispielsweise gut zu einem Schneemann formen lässt oder dass er staubig ist und bereits in der Hand zerfällt.
Schneeflocken sind etwas Wundervolles. Was für eine schöne Beleidigung!
Formt Schnee das Denken? Anders, als du vielleicht denkst
Eine Geschichte darf in so einem Text über Schnee eigentlich nicht fehlen: Stimmt es, dass Inuits so viele Namen dafür haben?
Inka aus der KR-Community fragt, ob das ein Mythos sei. Einer, hinter dem eine der großen Kontroversen der Sprachwissenschaften steckt?
In den 1880er Jahren bereist ein Linguist die Indigenen auf den Baffin-Inseln im Nordosten Kanadas und bringt vier Wörter für Schnee mit. Die Stille Post der Sprachwissenschaften tut ihr Übriges, bis plötzlich von 100 oder 200 Wörtern die Rede ist. Belege hat dafür keiner. Bis die Linguistin Laura Martin dem Mythos 1986 ein Ende setzt: Sie hält die Faszination für die exotischen Schnee-Wörter für Rassismus.
Also ja: Inuits haben mehrere Wörter für Schnee. Aber die gibt es auch im Deutschen: von Sulz über Altschnee, von Firn über Harsch, von Industrieschnee bis hin zu Pappschnee. Auch bei uns streiten Sprachwissenschaftler:innen darüber, wie Sprache das Denken und Denken das Sprechen beeinflusst.
Dabei lässt sich doch jeder Disput am besten mit einer ordentlichen Schneeballschlacht austragen – wenn es denn weiße Weihnachten gibt.
Lieben Dank an alle KR-Leser:innen, die sich beteiligt haben: Cordula, Susanne, Katja, Sora, Marion, Caro, Barbara, Silvia, Marianne, Ilka, Daniela, Nina, Günter, Christina, Bea, Laura, Luise, Jan, Cora, Viktoria, Wanda, Edith, Fritz, Tanja, Kerstin, Silke und Emma.
In dem 2021 übersetzten Buch „Schnee: Alles über das weiße Geheimnis“ von Giles Whittell gibt es noch mehr spannende Geschichten über das weiße Phänomen, zum Beispiel wird der Mythos Yeti entschlüsselt.
Dieser Text wurde am 10. Dezember 2021 um 12:47 Uhr nach Hinweis des Wetterexperten Jörg Kachelmann aktualisiert und um eine Anmerkung zu den Eisheiligen ergänzt.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert