Ich habe 466 Freund:innen. Ich habe welche in Nordrhein-Westfalen, in Bayern, in New York, in Syrien, Libanon, Jordanien, Irland und einigen anderen Gegenden dieser Welt. Nur leider nicht in Leipzig. Dort nämlich sitze ich gerade in meiner Wohnung und fühle mich ein bisschen wie Tom Hanks in dem Film „Cast Away – Verschollen“, in dem er alleine auf einer Insel hockt und mit einem Volleyball namens Wilson spricht. 466 Freund:innen, das klingt wie ein Hohn.
Ich bin alleine. Aber nicht auf diese Romcom-Art mit einem Eimer Eis und traurigen Liebesliedern, sondern so, als hätte ich gefragt: „Hey, kommst du raus zum Spielen?“, und keiner will mit raus.
Ich wäre in solchen Momenten gerne wieder 15, das Festnetztelefon neben mir, und würde gern mit Christoph telefonieren. Christoph und ich haben das oft gemacht. Telefonieren ohne zu reden: Jeder hat sein Ding gemacht, aber zu wissen, dass der andere da war, hat gereicht.
Christoph hat heute zwei Kinder. Er hat ein Haus gebaut und das letzte Mal, als wir Kontakt hatten, habe ich ihn über eine Messenger-App nach einem Staubsaugerroboter gefragt.
Ich bin jetzt 33 Jahre alt, ich habe zwei Jahre Pandemie hinter mir, meine Unizeit ist etwas länger her, aber ich erinnere mich, dass es sich mal angefühlt hat, als ob ich ständig unter Menschen gewesen wäre. Aber mit jedem Umzug wurden es weniger: Erst habe ich meine Schulfreund:innen verloren, dann die Mitbewohner:innen und Kommiliton:innen. Und mit dem Homeoffice auch die Kolleg:innen.
Ich brauche neue Freunde. Nur: Wie finde ich die?
Meinen besten Freund Konstantin habe ich am ersten Tag der Uni kennengelernt, als die Referate verteilt wurden. Die folgenden fünf Jahre haben wir nebeneinander gelernt, sind nachts durch Jena gewandert und haben persönliche Krisen in stundenlangen Gesprächen gelöst. Ich glaube, es gibt keinen Menschen auf der Welt, der so viel über mich weiß – nicht einmal meine Familie.
Wenn Konstantin und ich zusammen sind, verhalten wir uns wie in einem einstudierten Tanz. Was wir essen, was wir tun, all das passiert in einem Rahmen, der uns vertraut ist. Das unterscheidet diese Freundschaft von Bekanntschaften in Leipzig: Geheimnisse und Gewohnheiten.
Ich weiß, dass ich mit meiner Situation nicht alleine bin. Auf Reddit, einem großen Online-Forum, lese ich immer wieder Beiträge von Menschen, die ihre Trauer und Einsamkeit beschreiben. Einer erzählt, wie sein Zimmer immer mehr verdreckt, er immer weniger für die Uni macht und einfach nur noch schläft: „Ich hätte so gerne einfach ein normales Leben, Freunde, soziale Kontakte und Motivation, überhaupt noch aufzustehen. Ich möchte das nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“
Ein anderer beschreibt ein Leben, das mich an meines erinnert hat: „Ich habe immer schnell Kontakt gefunden und es haben sich mehr oder minder feste und gute Freundschaften gebildet. Zu 95 Prozent dieser Menschen habe ich keinen Kontakt mehr. Es gab nie Streit oder einen Moment, in dem die Freundschaft endete. Man hat sich (meist ich) einfach irgendwann nicht mehr gemeldet oder aufgrund von anderen Situationen (Wegzug in eine andere Stadt etc.) auseinandergelebt.“
Eines haben alle Beiträge gemeinsam. Sie schließen mit den Fragen: Wo lerne ich Menschen kennen? Wie entsteht eine Freundschaft?
Für diesen Text habe ich auch eine Umfrage unter KR-Mitgliedern gemacht. Ich war überrascht, wie viele Teilnehmer:innen darin angaben, sie hätten zu wenig Freund:innen: 56 Prozent. Viele belastet das, sie schreiben von der gescheiterten Suche nach neuen Freund:innen, von oberflächlichen Bekanntschaften, aus denen nie echte Freundschaft wurde.
Freundschaft ist eine der „fundamentalen Infrastrukturen“ unserer Gesellschaft. Das erklärt mir Janosch Schobin. Er forscht an der Universität Kassel zu Freundschaften und Freundschaftsnetzwerken. Ohne die Geschichte der Freundschaft wäre unsere Gesellschaft, so wie sie heute existiert, nicht möglich.
In dem Buch „Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte“ schreiben die Forscher:innen: „Mit anderen Menschen verbunden zu sein, das eigene Leben mit anderen zu teilen, gute und enge Beziehungen zu haben, ist allen Frauen und Männern ein angeborenes Bedürfnis.“ Es ist ein banaler Satz. Aber Freundschaften haben im Laufe der Menschheitsgeschichte wichtige Rollen eingenommen. Sie halfen dabei, sich gegen den Staat abzusichern. Oder, wenn nötig, sogar gegen die eigene Familie.
In der Moderne ist Freundschaft sehr viel emotionaler. „Mit Freund:innen spricht man über sein Innenleben, darüber, wie es einem wirklich geht. Sie nehmen eine wichtige Rolle ein, indem sie uns affektiv durch Gespräche, vor allen Dingen aber auch durch Gesten der Zärtlichkeit stützen“, sagt Schobin.
Eine Stütze. Genau so etwas suche ich. Menschen, mit denen ich nicht nur über den neuen Supermarkt um die Ecke reden kann, sondern über meine Zukunftsplanung. Die mich in den Arm nehmen, wenn ich traurig bin, weil meine Redakteurin meinen Lieblingssatz gestrichen hat.
Wenn solche Bindungen in unserem Leben fehlen, passiert das, was Benjamin in seinem Text beschrieben hat: Wir fühlen uns einsam, sind anfälliger für Depressionen, wir fangen an, körperlich zu leiden, bis hin zu einer erhöhten Sterblichkeitsrate.
Ich bin in der Rushhour des Lebens
Warum ist es also ausgerechnet jetzt, wo ich über 30 bin, auf einmal so schwierig mit den Freundschaften? Schobin nennt mein Alter die „Rushhour des Lebens“. Einen Vergleich, den ich sehr gut nachvollziehen kann. Ich stelle mir das so vor: Meine Freund:innen und ich sitzen in unseren Autos und fahren los. Ich biege als erstes auf die A4 Richtung Jena und schlussendlich Richtung Leipzig ab, weil ich über den Osten schreiben will. Meine Freund:innen von früher bleiben auf der A46 und der A1 und pendeln zwischen Köln und Wuppertal. Dann fahren die ersten ab in die verkehrsberuhigte Wohnsiedlung, weil sie Kinder haben wollen. Andere wollen beruflich weiterkommen und nehmen deswegen die Landstraße. Das Resultat: Ich bin 500 Kilometer von ihnen entfernt und neben mir fahren auf einmal ganz andere Autos.
„Wer gerade eine Familie gründet, findet Anschluss an Leute, die auch gerade Kinder bekommen, weil man diese Lebensphase zusammen bewältigen muss“, sagt Schobin. Da kommen also neue Freund:innen hinzu und der alte Freundeskreis verändert sich.
Die anderen Freund:innen aber, Leute wie ich, die für ihren Job umziehen und eben noch keine Kinder haben wollen, bleiben auf der Strecke. Nun ist es aber so, dass junge Menschen immer mobiler werden und sich immer seltener für Kinder entscheiden. Gerade für die, so erklärt es Schobin, ist das ein doppeltes Problem. Mein doppeltes Problem sozusagen.
Wer Freunde sucht, muss raus aus der Komfortzone
Für diesen Text habe ich die KR-Community gefragt, wo sie ihre Freund:innen kennengelernt haben. Unter den über 570 Menschen, die teilgenommen haben, gab es eine Antwort, die immer wieder aufgetaucht ist: Hobbys! Chor, Sportverein, Lachyoga, Fitnessstudio, Kirche, Kneipenquiz, Bouldern oder sogar Klima-Demos.
Ich muss gestehen: Ich halte mich für introvertiert. Bei einem Workshop in der Krautreporter-Redaktion wurde ich mal als „stiller Beobachter“ beschrieben, der wartet, bis er etwas Substantielles beitragen kann. Das klingt nett, aber bisher habe ich noch keine Freund:innen über einen pointierten Satz in einer Gruppendiskussion gefunden.
Dazu kommt: Fast alles, was ich gerne mache, kann ich auch alleine tun. Wenn mich Menschen fragen, was meine Hobbys sind, stottere ich ein bisschen vor mich hin und nuschele irgendetwas übers Lesen, Kochen und Fotografieren. Dann erzähle ich meistens von meinem Beruf und dass mein Hobby sei, so viele Dinge aus der Welt wie möglich aufzusaugen. Deswegen verbringe ich einen großen Teil meiner Tage damit, Dinge über die Welt zu lernen. Bücher, Zeitungsartikel, Videos, Radiobeiträge, Memes: Irgendeine Information, irgendeinen Zusammenhang finde ich immer, der mir spannend erscheint. Aber mir ist das Problem schon bewusst: Freund:innen finde ich nicht auf meinem Sofa oder am Schreibtisch. Also muss ich raus aus der Komfortzone meiner Wohnung.
Ich höre bei Susanne nach: Sie hat an meiner Umfrage teilgenommen und ein ähnliches Problem wie ich. Über Hobbys hat sie zwar Kontakt zu einigen Menschen, die sie auch „ganz nett“ findet, aber am Ende bleibt es immer bei den wenigen Stunden in der Woche, die sie sich sehen. „Am Ende gehe ich da eben hin, um Sport zu machen und führe keine Gespräche über meine Gefühle, dabei ist das auch wahnsinnig wichtig in einer Freundschaft“, schreibt sie, was ich gut verstehen kann.
Doch am Ende ist Freundschaft auch nur Wahrscheinlichkeit: Je mehr und häufiger du Menschen triffst, desto wahrscheinlicher findest du auch Freund:innen. Denn so erhöht man seine Chance. Das kann auch der Mensch sein, der dich gerade beim Judo auf die Matte haut.
2018 hat eine Meldung aus Großbritannien für Aufmerksamkeit gesorgt: Eine Einsamkeitsministerin sollte den neun Millionen Brit:innen helfen, die einsam sind. Aktuell achtet Diana Barran darauf, dass neue Gesetze die bestehende Einsamkeit nicht verschlimmern und fördert Projekte, die Menschen miteinander verbinden. In Dresden dachten sich die Mitglieder der Stadtratsfraktion „DissiDDenten“, das sei eine gute Idee, und schlugen eine:n Einsamkeitsbürgermeister:in für die Stadt vor. Michael Schmelich hat den Plan ausgearbeitet. Er sagt: „Wir brauchen in Dresden jemanden, der oder die sich um das Seelenleben der Bewohner:innen kümmert.“
Vielen Menschen fehlen in der Stadt die Kontakträume, Orte, an denen sie gleichaltrige Menschen treffen können. Schmelich möchte, dass diese:r Einsamkeitsbürgermeister:in das ändert: „Der enge Lebensraum – der Kiez sozusagen – ist der entscheidende Punkt. Hier entstehen Dialog und persönliche Begegnungen, die den Menschen helfen.“
Dabei geht es Schmelich nicht nur um die Organisation von Stadtteilfesten. Sicherlich kommt das auch vor. Aber ähnlich wie in Großbritannien soll es eher darum gehen, jedes Handeln der Stadt auf den Einsamkeitsscore abzuklopfen.
Wer Freund:innen finden will, darf nicht zu wählerisch sein
Ich habe aber auch gemerkt, dass ich in vielen Momenten zu kritisch war. Im vergangenen Jahr etwa habe ich mich mit einem Kollegen getroffen. Wir saßen zusammen in einem Café und das Gespräch floss von Corona über den Journalist:innen-Beruf hin zur eingehenden Zimmerpflanze und ein paar Mal deutete sich sogar Deep-Talk an. Aber jeder Witz hat mich zusammenzucken lassen: Der Kollege lacht wahnsinnig laut, es ist fast ein Scheppern, das durch den halben Laden hallte. Mir war das so unangenehm, dass ich mich bis heute nicht mehr mit dem Kollegen getroffen habe. Chance vertan.
Ein Psychologe hat mir mal diesen Tipp gegeben: „Viele Eigenschaften von Menschen nerven uns am Anfang, aber Freundschaft entsteht erst mit einer gemeinsamen Geschichte. Irgendwann gehören diese Eigenschaften zu den Menschen dazu.“ Also vielleicht auch das laute Lachen meines Kollegen.
Vor Kurzem hat mir jemand die Frage gestellt, ob ich mich heute noch mit meinem besten Freund anfreunden würde. Ehrlich gesagt: vermutlich nicht. Wir sind sehr unterschiedlich: Er besitzt einen Ordner für wichtige Dokumente, ich verschiedene Stapel mit vielleicht-mal-wichtigen Dokumenten. Während ich immer in einer Großstadt leben möchte, stresst ihn schon der Einkauf im vollen Supermarkt. Er will irgendwann eine Familie gründen, ich nicht.
Trotzdem würde ich niemals auf diese Freundschaft verzichten wollen. Einerseits durch die viele Zeit, die wir schon miteinander erlebt haben. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, dadurch kann ich ihm vertrauen. Andererseits kann ich auch immer ganz ich selbst sein, wenn wir zusammen sind. Seine Eigenschaften, auch die weniger guten, gehören für mich dazu und erzeugen oft verbindende Elemente – wenn wir uns zum Beispiel mal in die Haare bekommen. Manchmal bringt mich seine Meinung, so wenig nachvollziehbar sie auch in dem Moment für mich sein mag, am Ende zu einer Erkenntnis. Er ist ehrlich zu mir. Das kann übrigens auch schon bei der Wahl der Brille helfen.
Dieses Verständnis, dieses Vertrauen und die Emotionalität nicht sofort bei neuen Menschen zu erwarten, würde beim Freund:innen finden sicher helfen. Wer in die Tiefgründigkeit eintauchen will, muss halt erstmal in den See springen. Zumal ich auch Angewohnheiten habe, die mich unerträglich machen – meine vollkommen unterentwickelte Fähigkeit, Dinge länger als zwei Wochen im Voraus zu planen, gehört sicher dazu.
Es gibt nämlich ein Problem bei der Suche nach Freund:innen. Ich nenne es das Dagobert-Duck-Phänomen: Wer viele Freund:innen hat, findet auch viele Freund:innen. Genau wie aus viel Geld sehr viel leichter noch mehr Geld wird, sind Freund:innen ermöglichende Elemente: hier ein Kaffee, bei dem die eine Freundin noch jemanden mitbringt. Da die Frage: „Kommst du mit auf die WG-Party, ich kenne da selbst kaum wen?“ Wissenschaftler Schobin erkennt das Paradoxe daran: „Natürlich ist so eine Situation schwierig für Menschen, die nicht in einer Freundesgruppe sind.“
Warum das so ist? Schobin erklärt es anhand der von ihm untersuchten Freundesnetzwerke: „Die wenigsten Freundesnetzwerke sind perfekte Cliquen, wie es sie manchmal in der Schule gibt und wo alle eng miteinander befreundet sind.„ Meistens stehe eine Person eher in der Mitte und hat mehr Freund:innen als die übrigen. Ein Freundeskreis ist also kein Netzwerk, sondern eher eine Spinne mit Beinen. Wer selbst nicht Spinnenkörper ist, sondern nur ein Bein, verliert einen ganzen Freundeskreis, wenn der Körper etwa wegzieht oder Kinder kriegt. Schobins Urteil ist hart: „Wir haben es mit einer Struktur zu tun, die Beziehung sehr schlecht verteilt.“
Digitale Freundschaftssuche ist ein Trend
In vielen Städten hängen zurzeit mal wieder Werbeplakate für Dating-Apps. Es gibt Apps, bei denen Frauen zuerst schreiben müssen, Apps für Akademiker:innen, Apps für kurvige Menschen, für reiche Menschen, eine, auf der man nur über Sprachnachrichten kommunizieren kann. Kurz: Für jedes Töpfchen ein Deckelchen. Von Freund:innen ist in dieser Werbung keine Rede.
Trotzdem haben in meiner Umfrage viele Teilnehmer:innen erzählt, dass sie Freund:innen über Apps oder Internetangebote gefunden haben. Das hat mich erstmal überrascht. Ich muss gestehen: Ich habe längere Beziehungen geführt, die über Tinder entstanden sind, ich hatte auch verrückte Abende, bei denen Sex keine Rolle gespielt hat, die in verrauchten WGs endeten, in denen ich niemanden kannte und wo Weltschmerz-Anfang-Zwanziger auf durchgesessenen Sofas komplette Lebensläufe austauschten. Eine Freundschaft ist dabei aber nie entstanden.
Obwohl ich jetzt schon lange im Internet unterwegs bin, als Kind auf Chat-Portalen wie Knuddels.de Nachmittage verbracht, mich in meiner World-of-Warcraft-Zeit sogar mit einigen Mitspieler:innen getroffen habe: Internet und Freundschaft sind zwei verschiedene Dinge für mich.
Ich frage Janosch Schobin nach seiner Meinung. Er hat die Daten einer App untersucht, die explizit für die Freundinnen-Suche gemacht ist. Er erzählt, dass seit der Corona-Pandemie die Zugriffszahlen massiv gestiegen sind und die Nutzerinnen viel mehr schreiben. „Es findet ein Haltungswechsel statt. Einerseits bieten immer mehr Apps auch die Möglichkeit, Freund:innen zu suchen, andererseits ist die Akzeptanz bei den Menschen gestiegen.“
Er beobachtet aber eine Tendenz. Aktuell ist die Mehrheit der Nutzer:innen weiblich. Entweder Frauen gehen ihre Einsamkeit eher an oder akzeptieren solche Apps einfach früher, sodass die Männer später nachziehen. So zumindest vermutet es Schobin. Vielleicht wird es in Zukunft eben doch akzeptierter sein, Freunde über das Internet zu finden. So wie viele Leute lange Zeit verschwiegen haben, ihre Partner:in über eine Dating-App gefunden zu haben.
Wer Freundschaften aufbauen will, muss selbstbewusst und mutig sein
Seit ich angefangen habe, für diesen Text zu recherchieren, hat sich in mir etwas verändert: Ich sage jetzt häufiger: „Ja.“ Zu Kaffee-Spaziergängen, für die ich quer durch die Stadt radeln muss, zu sonntäglichen Wochenausklang-Bieren, obwohl die Nacht davor deutlich zu lang war. Ich sagte auch Ja, als ein paar Leute mich besuchen wollten, nur um meinen Kühlschrank zu plündern. Alles für die Freunschaft. Und was soll ich sagen? Es ist anstrengend, aber es funktioniert! Ich habe jetzt zwar kein Essen mehr im Kühlschrank, aber immer wieder Momente erlebt, in denen ich das Gefühl genossen habe, Menschen um mich herum zu haben. Sind das Freundschaften? Noch nicht. Aber vielleicht bald.
An vielen der Beiträge auf Reddit hat mich erschrocken, wie negativ sich die Menschen selbst sehen. Einige sagen, sie seien „langweilig“ und dadurch für andere nicht interessant genug. Die Folge: Selbst wenn sie mal Kontakt haben, fehlt es an Mut, nach einem Treffen zu fragen. Emotionalität gewissermaßen einzufordern oder Zärtlichkeit selbst zu initiieren. Immer schwingt die Angst mit, den anderen zu verschrecken. Manche unterstellen anderen sogar, böse Absichten zu haben, selbst wenn es dafür überhaupt keine Hinweise gibt.
Das verhindert Freundschaften. Der wissenschaftliche Begriff dafür ist „Fehlattribution“ und der Freundschaftsforscher Schobin erklärt, dass solche Eigenschaften oft auch dazu führen, in Konflikten Beziehungen zu schnell abzubrechen.
Ich telefoniere mit Ramona. Sie hat einen Tweet geschrieben, in dem sie beschreibt, dass sie nie gelernt hat, Freund:innen zu finden. Ich frage sie, was genau ihr daran so schwerfällt. Sie sagt: „Ich habe immer das Gefühl, ich bin zu wenig oder zu viel.“ Also in manchen Momenten nicht interessant genug und in anderen zu kompliziert, zu anstrengend.
Es ist leicht, aber nicht hilfreich, Menschen wie Ramona zu sagen: „Denk doch nicht so negativ.“ Das wäre nur ein weiterer Vorwurf, mit dem sie umzugehen hätten. Stattdessen sollte man sich fragen, auf welchem Grundgedanken ihre Aussage basiert. Warum glaubt sie, nicht genug zu sein? Und wie kann man an ihrer Überzeugung etwas ändern?
In der Psychologie spricht man an dieser Stelle von „Glaubenssätzen“, die wir schon als Kinder bilden und die uns als Erwachsene noch immer beeinflussen können. Hilfreicher ist es, das Selbstvertrauen zu stärken. Krautreporter-Mitglied Susanne schreibt zum Beispiel: „Nur Mut. Auf Menschen zugehen. Fast alle Menschen sind gut zu anderen Menschen. Es lohnt sich, auf sie zuzugehen.“
Und Bettina fasst das Problem mit den negativen Gedanken passend zusammen: „Auf keinen Fall persönlich nehmen, wenn jemand abweisend ist. Dafür gibt es Trilliarden möglicher Gründe, die allerwenigsten davon beziehen sich auf dich! Frag dich einfach mal, wie du es findest, wenn jemand freundlich Kontakt aufbaut.“ Ich stelle mir die Frage selbst. Eigentlich finde ich es immer toll, wenn das jemand macht.
Eine Freundschaft ist wie ein Bärtierchen
Schobin macht mir aber auch noch an anderer Stelle Hoffnung. Denn als ich ihn frage, wie Freundschaften eigentlich enden, erklärt er mir, dass das nur in seltenen Fällen passiert. Im Kindergarten mag ein „Du bist nicht mehr mein:e Freund:in!“ uns das Herz gebrochen haben, später kommen solche offen ausgesprochenen Freundschaftskündigungen nur sehr selten vor. Sie kommen bei schweren Vertrauensbrüchen vor, etwa wenn die beste Freund:in Sex mit dem Partner:in hatte.
Stattdessen schleichen sich Freundschaften aus. Wir haben mit Freund:innen weniger Kontakt, wenn die Lebenslage sich ändert. Ein Kind etwa fordert Aufmerksamkeit, die Zeit ist knapp und mit den Bekannten aus der Kinderkrippe kann man die Baby-Probleme besser besprechen. Darunter leiden Freundschaften. Schobin nennt das „Freezing“. Die Freundschaft ist in Wartestellung, solange andere Dinge ihr im Weg stehen.
Doch zum Glück ist Freundschaft so beständig wie das Bärtierchen. Das kann notfalls auch in einem Vakuum ohne Nahrung und Wasser überleben und dort auf bessere Zeiten warten.
Etwa, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dann tauen Freundschaften wieder auf, Gruppen treffen sich wieder und aus einer alten wird eine neue Freundschaft, mit viel Nachholbedarf.
Freundschaft braucht Zeit (und Geheimnisse)
Ich kenne meinen besten Freund jetzt seit ziemlich genau 13 Jahren. Wie viele Stunden wir miteinander verbracht haben, kann ich beim besten Willen nicht mal schätzen. Sicher ist: Es sind mehr als 80. So viele braucht es einer Studie nach ungefähr, damit aus einer Bekanntschaft eine engere Freundschaft wird. Ja, das ist nur ein Durchschnittswert. Und auch die Qualität der Treffen ist sehr wichtig. Aber die Studie zeigt sehr deutlich: Freundschaft braucht Zeit.
Erstens braucht sie tatsächlich miteinander verbrachte Zeit. Zeit, in der man miteinander witzelt, ernste Gespräche führt oder beim Wasserskifahren gemeinsam scheitert. Denn diese Zeit ermöglicht etwas: Geheimnisse zu teilen. Die sind die Währung für Freundschaften. Schobin erklärt das so:
„Früher haben die Menschen symbolisch Dinge ausgetauscht, zum Beispiel einen Stadtschlüssel oder eben Blut, um Freundschaften zu festigen und die eigene Verwundbarkeit zu zeigen. Heute passiert das oft über Geheimnisse, die Freund:innen austauschen.„ Vereinfacht gesagt: „Wenn du mir verrätst, in wen du verknallt bist, erzähle ich dir, mit wem ich letzte Woche geknutscht habe!“ Was auf den ersten Blick nach Kuhhandel klingt, ist aber ein extrem verbindender Moment und prägt Freundschaften. Man macht sich verwundbar – und schafft so Vertrauen.
Um aber überhaupt Zeit miteinander verbringen zu können, braucht man: Zeit! Und hier ist die Studie relativ eindeutig: Wir haben deutlich weniger Kontrolle darüber, ob eine Freundschaft entsteht oder nicht. Denn um Zeit miteinander zu verbringen, müssen sich sowohl du als auch dein:e potentielle:r Freund:in dafür entscheiden. Was wie eine schlechte Nachricht klingt, ist eigentlich eine gute: Wer dann nämlich tatsächlich Zeit investiert, zeigt, dass er oder sie bereit ist, die eigene knappe Zeit in den Aufbau dieser Freundschaft zu investieren. Wir müssen das Investment dann nur annehmen.
Vielen Dank an alle 583 Teilnehmer:innen meiner Umfrage. Eure Geschichten haben mich motiviert, berührt und nachdenklich gemacht. Ich hoffe, ihr findet euch auch ein bisschen in diesem Text wieder.
Redaktion: Lisa McMinn; Schlussredaktion: Susan Mücke; Illustration: Sebastian König; Audioversion: Christian Melchert