Auf der Illustration ist ein Mann zu sehen, der im Bild steckt, als stecke er in einer großen Box fest. Aus seinem Bauch guckt ein Männchen heraus.

© Sebastian König

Leben und Lieben

„Für mich war der Lockdown ein Segen“

Kommt bald ein neuer Lockdown? Diese drei Krautreporter-Mitglieder fänden das gar nicht so schlimm. Sie erzählen, wie die Kontaktbeschränkungen ihr Leben besser gemacht haben.

Profilbild von Protokolle von Lisa McMinn

Lockdown sollte man es ja nicht nennen. Stattdessen sprachen wir von Kontaktbeschränkungen, Teil-Lockdown, die Bundesregierung warb für die AHA+L+L-Regel. Wenn ihr auch nicht mehr wisst, wofür diese Abkürzung steht, geht es euch wie mir. Leider könnte sie aber wieder relevant werden: Denn jetzt, im Herbst 2021, dem Herbst, von dem wir dachten, dass alles zumindest wieder einigermaßen normal sein würde, sind wir erneut mitten drin in der Corona-Diskussion. 2G-Plus heißt das Zauberwort. Zumindest im Moment.

Den Krautreporter-Mitgliedern Dennis, Stefanie und Sebastian macht das nichts. Sie sorgen sich vielmehr darum, dass der Rest der Welt so schnell wie möglich zur alten Normalität zurückkehren will. Denn ihre Leben sind durch die Kontaktbeschränkungen aus ganz unterschiedlichen Gründen lebenswerter geworden. Woran das liegt und was sie nun fordern, haben sie mir erzählt.


„Als würde ich jede Woche sieben Stunden und dreißig Minuten an Lebenszeit gewinnen“

Dennis Westphal, 34, lebt in Berlin

Normalerweise vermeide ich es, nach Berlin-Mitte zu fahren. Die vielen gehetzten Menschen, durch die ich mich hindurchwurschteln muss. Das Zischen der Tram. Die Werbeaufsteller, die mir den Weg versperren. All diese Eindrücke strengen mich an. Aber manchmal geht es nicht anders, so wie im März 2020.

Als ich aus der Bahn stieg, erschrak ich. Denn ich hörte erst einmal: nichts. Die Zombie-Apokalypse?, dachte ich kurz und musste über mich selbst lachen. Nein, natürlich nicht. Die Hektik war einfach weg. Das Chaos verschwunden. Dann hörte ich Vögel zwitschern. Mitten auf der Friedrichstraße. Und plötzlich fühlte es sich an wie Urlaub auf dem Land.

Ich bin blind. Deshalb orientiere ich mich vor allem akustisch: Wo steht ein Mensch im Weg? Wo fährt die Bahn entlang? Für meine täglichen Wege habe ich eine Art Karte im Kopf. Wenn ich zur Arbeit fahre, taste ich mich mit meinem Blindenstock so lange die Gehwegplatten entlang, bis sie riffelig werden. Das ist der Bodenindikator der Bushaltestelle. Also, ab in den Bus. Ich gehe immer durch bis zum Gelenk. Da steht meistens niemand, weil der Boden so wackelig ist. So habe ich genug Platz.

Um in die U-Bahn zu wechseln, muss ich durch einen kleinen Park laufen. Hier muss ich auf Radfahrende achten. Das ist besonders schwierig, weil sie so leise unterwegs sind. Manchmal kommt es vor, dass die Ansagen in der U-Bahn nicht laut genug sind oder durch Fahrgeräusche und die anderen Fahrgäste übertönt werden. Dann muss ich die Haltestellen zählen. Das letzte Stück bis ins Büro gehe ich zu Fuß. Das ist oft ein Hindernislauf: Baustellen, gedankenlos abgestellte E-Scooter, sogar ausrangierte Bettgestelle. Wenn ich im Büro angekommen bin, habe ich schon 45 Minuten volle Konzentration hinter mir.

In den vergangenen eineinhalb Jahren habe ich mir diesen Weg gespart. Eine dreiviertel Stunde hin, eine dreiviertel Stunde zurück. Es fühlt sich an, als würde ich in jeder Woche sieben Stunden und dreißig Minuten an Lebenszeit gewinnen. Ich arbeite jetzt aus dem Homeoffice. Das ist für mich ein großes Glück. Die Konzentration und die Kraft, die ich normalerweise für den Arbeitsweg aufwenden muss, fallen weg. Seitdem ich von zuhause arbeite, fange ich früher an und bin früher fertig. Ich arbeite als Business Developer in einer kleinen Web-Agentur. In der Ruhe meiner Wohnung kann ich mich viel besser konzentrieren und arbeite effizienter. Am Nachmittag setze ich mich auf den Balkon und lese oder gehe in den Park. Der Puffer ermöglicht es mir auch, unvermeidliche Überstunden gelassener wegzustecken.

Durch die Distanz hat sich mein Arbeitsalltag verändert. Wenn alle im Büro sitzen, werfen sich Kolleg:innen auch mal schnelle Blicke zu, kommunizieren durch Gestik und Mimik. Jetzt müssen wir alle chatten oder treffen uns in Videokonferenzen. Darin teilen wir nicht nur arbeitsrelevante Inhalte, sondern auch alltägliche Dinge. Paradoxerweise habe ich das Gefühl, dadurch endlich mitten drin zu sein. Die Arbeitsweise meiner Kolleg:innen ist meiner eigenen dadurch viel ähnlicher. Ausgerechnet durch die Distanz haben wir uns angenähert. Noch dürfen wir im Homeoffice arbeiten. Ob das auch in Zukunft so bleibt, ist noch nicht entschieden. Aber was ich will, das weiß ich: Ich möchte zuhause bleiben.

Versteht mich nicht falsch: Ich bin auch gerne unter meinen Kolleg:innen. Aber Strukturen sind, nur weil sie schon immer da waren, nunmal nicht für alle gleich gut. Für mich ist der neue digitale Umgang miteinander eine Errungenschaft. Die Pandemie hat die Arbeitswelt revolutioniert. Mein Leben hat sich dadurch verbessert.


„Ich habe oft das Gefühl, dass unsere Welt den Extrovertierten gehört.“

Stefanie R., 48, lebt in Dresden

Für mich war der Lockdown ein Segen. Es ist nämlich so: Ich bin introvertiert. Es kostet mich viel Energie, unter Menschen zu sein, die ich nicht gut kenne. Bitte verwechselt das nicht mit Schüchternheit. Schüchtern bin ich nämlich überhaupt nicht. Es bereitet mir keinerlei Probleme, fremde Menschen anzusprechen oder mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich genieße es sogar. Aber nur, wenn ich selbst beeinflussen kann, wie intensiv die Begegnung ist und wie lange sie dauert. Ich trinke gerne gemütlich einen Kaffee mit einer Freundin und, ja, auch mit einer Person, die ich weniger gut kenne. Aber je mehr Menschen um mich herum sind und je mehr soziale Interaktion notwendig ist, desto mehr strengt die Begegnung mich an.

Ich arbeite im Marketing. Wir sind ein recht großes Team von etwa 30 Personen. Ein Teamtag ist für mich fast unerträglich: Konferenzen und Besprechungen von morgens bis abends, kaum Erholungspausen und wenig Rückzugsmöglichkeiten – danach fühle ich mich wie nach einem langen Wandertag: ausgepowert und groggy. Den Rest der Woche bin ich weniger leistungsfähig, habe weniger Antrieb, bin weniger kreativ und gehe früher ins Bett als sonst.

Die meisten meiner Kolleg:innen sind eher extrovertiert. Von ihnen weiß ich, dass sie Energie daraus ziehen, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Sie fühlen sich danach erfüllt und zufrieden. Sie verbringen gerne die Feierabende miteinander. Von mir wird oft erwartet, dass ich mitkomme. Das macht mir Druck. Schließlich mag ich meine Kolleg:innen. Aber solche Treffen strengen mich nunmal an. Ich hatte vor der Pandemie deshalb oft Angst, nicht zu genügen.

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Ich war schon als Kind gern allein. Aber je älter ich wurde, desto mehr musste ich diese Zeit für mich verteidigen. Ich habe oft das Gefühl, dass unsere Welt den Extrovertierten gehört. Ausgehen zu wollen und unter Menschen zu sein, wird von vielen als wünschenswert und „normal“ angesehen. Wer zuhause bleiben will, ist schnell der Spaßverderber.

Mein Privatleben habe ich so eingerichtet, dass es zu meiner Zurückgezogenheit passt. Mein Partner lebt ebenfalls eher in sich gekehrt. Und mit meiner Familie habe ich Tacheles geredet: Mein Vater liebt große Familienfeiern. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht bei jeder Party dabei sein kann. Wenn etwa ein runder Geburtstag ansteht, zu dem viele Menschen eingeladen sind, muss ich das planen: Dann nehme ich mir den Tag davor und danach frei, um mich von all den Begegnungen zu erholen. Aber in meinem Berufsleben habe ich das bisher nicht hingekriegt. Ich habe die Zähne zusammengebissen – bis die Corona-Maßnahmen kamen.

Durch die Kontaktbeschränkungen verschwanden die sozialen Erwartungen an mich. Ich musste mich nicht mehr rechtfertigen, wenn ich nicht noch auf ein Bier mitkommen wollte. Für mich war das eine Erleichterung. Plötzlich fühlte ich mich frei. Dass wir nun alle zuhause an unseren Laptops saßen, machte mir nichts aus. Ich kann problemlos eine ganze Woche allein vor mich hinarbeiten, ohne mit jemandem zu sprechen. Videokonferenzen sind für mich leichter zu ertragen als große Gruppentreffen. An den Abenden während der Lockdowns bin ich spazieren gegangen, habe meine Lieblingsserien geschaut und durfte für mich sein – ganz ohne schlechtes Gewissen.

Es kann sein, dass es Menschen gibt, die in dieser Zeit Ängste entwickelt haben und denen es nun schwerfällt, aus ihrem sicheren Versteck wieder herauszukommen. Oder Menschen, die sich einsam fühlten. Aber es gibt eben auch Menschen wie mich. Die nicht mehr bedingungslos bereit sind, das Diktat der Extrovertierten mitzumachen, seit sie gemerkt haben, wie gut ihnen, eine andere Art zu leben, tut.

Nun, da die Beschränkungen aufgehoben werden, steigt bei mir wieder der Druck. Die Erwartungshaltungen kehren zurück und damit die sozialen Zwänge. Einen Teamtag gab es vor Kurzem schon wieder und ein weiterer war geplant. Er wurde wegen der steigenden Corona-Zahlen abgesagt. Ich weiß, es klingt womöglich sarkastisch, aber ich habe gejubelt, als ich die Mail gelesen habe.

Beim nächsten Mitarbeitergespräch werde ich meinen Chef auf meine Bedürfnisse ansprechen. Ich habe das Gefühl, es ist nun der richtige Zeitpunkt dafür. Der Lockdown hat introvertierten Menschen wie mir Kraft verliehen. Wir trauen uns jetzt aus unserer Deckung.


„Die meisten wollen zur ‚Normalität‘ zurück. Aber was ist schon ‚normal‘?“

Sebastian Marsching, 37, aus Baden-Baden

Mein Gehirn funktioniert ein bisschen anders als das der meisten der Menschen. Ich bin sehr lichtempfindlich, Geräusche können schmerzhaft für mich sein und ich kommuniziere anders. Das wird zum Beispiel an meiner Mimik sichtbar. Wenn mir jemand etwas Trauriges erzählt, verzieht sich mein Gesicht automatisch zu einem Ausdruck, der an ein Grinsen erinnert. Dabei möchte ich gar nicht lachen. Ich habe zwar mit der Zeit gelernt, wie ich ein betroffenes Gesicht mache, aber ich muss mich sehr darauf konzentrieren, und es gelingt mir nicht immer. Das hängt damit zusammen, dass ich Autist bin.

Wenn ich mich an die Kontaktbeschränkungen der Lockdowns erinnere, denke ich: Eigentlich war es doch ganz schön. Für mich war die Umstellung entlastend. Die Rückkehr zum Präsenz-Prinzip hingegen sehe ich mit Sorge. Natürlich freut es auch mich, Freunde und Familie wieder persönlich treffen zu können. Aber ich finde es schade, wenn im beruflichen Kontext digitale Kommunikation abgewertet und zur „Notlösung“ deklariert wird.

Wenn viele Menschen durcheinander sprechen, kann ich mich nicht auf ein Gespräch konzentrieren. Den Worten meines Gegenübers zu folgen, kostet mich viel Kraft. Weil ich für den Prozess so lange brauche, antworte ich verzögert, falle anderen ins Wort oder komme selbst gar nicht zum Zug. Auch Blickkontakt zu halten, fällt mir schwer. Ich weiß, dass ein fester Blick in einem Gespräch dazu gehört. Aber manchmal muss ich mich so sehr darauf konzentrieren, was meine Augen machen, dass ich nicht mehr richtig zuhören kann.

Zum Glück muss ich bei meinem Job nicht allzu viel reden. Ich arbeite als Softwareentwickler und erstelle Steuerungssysteme für Teilchenbeschleuniger. Aber wenn ich auf einer Tagung bin, fühle ich mich oft unwohl. Wenn sich Grüppchen bilden, etwa in der Mittagspause, weiß ich nicht: Wo schließe ich mich jetzt an? Und wie mache ich das überhaupt?

Ich bekomme manchmal sogar schon Angst, wenn ich jemanden anrufen muss, den ich nicht kenne. Dann mache ich mir im Vorfeld viel zu viele Gedanken und bin schließlich überzeugt, dass sicher irgendetwas schiefgeht. Ein Arzt hat mir gesagt, das seien Anzeichen einer sozialen Phobie. Aber ich glaube, das ist einfach eine Folge von Erfahrungen, wo es wirklich schiefgegangen ist.

Erst als der Stress weg war, ist mir richtig bewusst geworden, wie anstrengend es für mich ist, in Besprechungen zu sitzen. Tatsächlich habe ich dank der Kontaktbeschränkungen sogar an einer Fachtagung teilgenommen, die online stattfand und an der ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht teilgenommen hätte, wenn sie in Präsenz stattgefunden hätte.

Schon vor der Pandemie habe ich oft um schriftliche Kommunikation gebeten. Für mich ist eine E-Mail keine Notlösung, sondern eine klare und verbindliche Kommunikationsform. Von nicht-autistischen Menschen habe ich dann oft gehört, ihnen gehe in der schriftlichen Kommunikation etwas „verloren“. Zum Beispiel Ironie. Ich muss sagen, dass ich darauf gut verzichten kann. Ich nehme diese Zwischentöne nämlich auch im Gesprochenen oft kaum wahr.

Mit Corona mussten dann plötzlich alle ins Homeoffice; auf einmal funktionierte, was ich mir seit jeher wünsche: weniger Besprechungen und persönliche Kontakte und mehr ungestörtes Arbeiten ohne ständige Unterbrechungen. Nun sorge ich mich, dass mit dem Ende der Kontaktbeschränkungen Videoprogramme, Chats und Mails wieder weniger eingesetzt werden und ich wieder mehr vor Ort sein muss, weil viele Kolleg:innen zur „Normalität“ zurückkehren wollen. Aber was ist schon „normal“? Ich bin Autist. Und selbst wenn ich die Wahl hätte, würde ich es bleiben wollen.


Vielen Dank an Stefanie, Sebastian, Dennis, LaSzl0, Lena, Andrea, Caren, Astrid, Pia, Christine, Rachel und Cornelia für eure Hilfe bei dieser Recherche.

Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Illustration: Sebastian König, Audioversion: Christian Melchert

"Für mich war der Lockdown ein Segen"

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