Angela Merkel wendet sich von ausschließlich männlichen Kollegen, die sie umringen, ab.

© Till Rimmele

Leben und Lieben

Kommentar: Frau Merkel, unter uns: Sie sind doch Feministin!

Bald wird die erste Bundeskanzlerin ihr Amt abgeben. Mir als Feministin wird sie fehlen, auch wenn sie nie explizit Politik für mich gemacht hat. Für Frauen hat sie trotzdem etwas erreicht.

Profilbild von ein Kommentar von Esther Göbel

Bald endet in Deutschland die Ära Merkel. Nach 16 Jahren. Nach einer langen Zeit also, in der eine Frau das mächtigste Amt in Deutschland innehatte.

Für viele Frauen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis fühlt sich das seltsam an. Unvorstellbar, wie ein Rückschritt. Für mich auch. Dazu muss ich sagen: Meine Freundinnen sind keine Fans der CDU. Ich auch nicht. Dafür bin ich Feministin. Wieso also blicke ich wehmütig auf den Abschied von Angela Merkel? Einer Kanzlerin, die die erste Frau im Amt war – und sich in der ganzen Zeit ihrer Macht nie besonders für Frauen eingesetzt hat?

Die Liste von Merkels frauenpolitischen Versäumnissen ist lang

Viele Feministinnen erwarteten genau das von ihr, als sie ihr Amt antrat. Eine weibliche Person, die selbst in einer Machtposition sitzt, muss sich für andere Frauen einsetzen, so lautet die implizite Regel. Getreu dem Satz, den die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright einmal sagte: „In der Hölle gibt es einen eigenen Ort für Frauen, die andere Frauen nicht unterstützen.“

Hat die Kanzlerin Angela Merkel den Frauen geholfen?

Nun ja. Die Liste frauenpolitischer Versäumnisse Merkels liest sich beeindruckend – beeindruckend negativ: Nach 16 Jahren ihrer Regierungszeit existiert in Deutschland noch immer das Ehegattensplitting (aus dem Jahr 1958), das nachweislich verheiratete Frauen eher in Teilzeitbeschäftigung hält und nicht-verheiratete Mütter im Vergleich zu verheirateten steuerlich benachteiligt. Alleinerziehende Mütter sind zudem besonders armutsgefährdet. Unter Merkel wurde das Betreuungsgeld eingeführt, die „Herdprämie“ – die später vom Verfassungsgericht wieder gekippt wurde. In Deutschland fehlen fast 350.000 Kita-Plätze. Noch immer existiert ein Lohn-Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen, noch immer leisten Frauen einen Großteil der unbezahlten Erziehungs- und Pflegearbeit. Zehn Jahre nach der Geburt eines Kindes verdienen Mütter in Deutschland sage und schreibe 61 Prozent weniger als im Jahr vor der Geburt. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland noch immer strafbar. Jede Stunde werden im Durchschnitt 13 Frauen Opfer partnerschaftlicher Gewalt. Alle zweieinhalb Tage wird eine Frau getötet, von ihrem Partner oder Ex-Partner.

Der Anteil weiblicher Führungskräfte in Deutschland liegt unter dem EU-Durchschnitt. Wenn Angela Merkel dem Bundestag den Rücken kehrt, wird sie ein Parlament verlassen, dessen Frauenanteil bei gerade einmal 31 Prozent liegt. Und in ihrer eigenen Partei sieht es noch schlechter aus: Nur rund ein Viertel aller CDU-Mitglieder ist weiblich (düsterer ist es für Frauen nur noch bei der CSU, der FDP und der AfD).

Immerhin: Die Mütterrente wurde eingeführt in der Merkelschen Regierungszeit. Und im vergangenen Jahr einigte sich die Große Koalition dann doch noch auf eine verbindliche Frauenquote in Unternehmensvorständen und Aufsichtsräten.

Das hatte sich Merkel alles leichter vorgestellt in Sachen Gleichberechtigung

Besonders ermutigend liest sich all das für mich nicht. Ines Kappert, die Leiterin des Gunda-Werner-Instituts für Feminismus und Geschlechterdemokratie in Berlin, stellt der Kanzlerin in einem Interview ebenfalls ein schlechtes Zeugnis aus. 2019 sagte sie im Deutschlandfunk: „Angela Merkel hat diese langen Zeiträume nicht dafür genutzt, hat auch ihre Machtfülle nicht dafür genutzt, der Gleichstellung näherzukommen.“

Merkel selbst sagt zum Thema Gleichstellung: „Das hatte ich mir 1990, als ich in die Politik ging, alles einfacher vorgestellt, muss ich ganz ehrlich sagen.“ So zitierte die Zeit die Kanzlerin vor Kurzem. Funfact: Zu Beginn ihrer Karriere von 1991 bis 1994 war Merkel sogar Bundesministerin für Frauen und Jugend. Ausgerechnet!

Merkel war „das Mädchen“ (CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl), „Miss Germany“ (Bild-Zeitung), oder – nicht weniger diskriminierend, dafür umso unverschämter – die „Mutti“ (diverse Pressestimmen). Was Merkel aber tatsächlich nicht war: selbsternannte Feministin. Sie wollte es auch nicht sein.

Es gibt diesen einen Auftritt, der das mehr als alle anderen Szene zeigt: Es ist 2017, Merkel sitzt im Rahmen des W20-Frauengipfels unter anderem mit Ivanka Trump, US-Unternehmerin und Tochter des damaligen Präsidenten Donald Trump, und Christine Lagarde, damals geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, auf einer Podiumsdiskussion in Berlin. Man spricht über zu wenige Frauen in Führungspositionen weltweit, über Maßnahmen der Weltbank, über die Frauenquote. Irgendwann fragt die Moderatorin Merkel, ob sie selbst eigentlich Feministin sei. Das Publikum jubelt, Christine Lagarde reckt kämpferisch die Faust mehrmals in den Himmel – und Merkel?

Schweigt. Sie wirkt peinlich berührt. Lagarde lacht und klatscht ihr aufmunternd entgegen, als wolle sie sie auffordern: „Ach, komm Schwester, nun sag schon, dass du es bist, natürlich!“ Aber Merkel lässt sich nicht zu einem Bekenntnis hinreißen. Sie eiert herum, sucht nach Worten, setzt zu einer längeren Erklärung an. Sie erläutert, wie sehr Feministinnen wie Alice Schwarzer gekämpft hätten, dass sie sich mit diesen Federn nicht schmücken wolle. Dann sagt sie etwas kryptisch, ans Publikum im Saal gerichtet: „Ich habe keine Angst; wenn Sie finden, dass ich eine [Feministin] bin, stimmen Sie ab, okay.“

Für mich als junge Frau war Merkel wichtig

Stets blieb Merkel vage, wenn sie auf das Thema Feminismus angesprochen wurde. Gegen Ende ihrer politischen Karriere sprach sie sich dann öfter und deutlicher für paritätische Verhältnisse und die Teilhabe von Frauen in allen Bereichen aus, so zum Beispiel in diesem Interview oder in ihrem Podcast zum diesjährigen Weltfrauentag, in dem sie sagt: „Es kann nicht sein, dass Frauen unsere Gesellschaften maßgeblich tragen, und gleichzeitig nicht gleichberechtigt an wichtigen Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beteiligt sind.“

Trotz solcher Aussagen spricht am Ende Einiges dagegen, in Merkel eine Feministin zu sehen. Ihre eigene Verweigerung eines klaren Bekenntnisses, aber viel mehr noch die Liste ihrer Versäumnisse, siehe oben. Und doch: Für mich ist sie eine.

Weil sie als Frau mit ihrem Amt und schon davor einen Weg ging, der abseits dessen liegt, was die (westdeutsche) Norm für eine Frau vorsieht: Merkel ist Physikerin. Sie hat promoviert. Sie wirkt nicht über ihr Aussehen, verweigert sich damit dem männlichen Blick. Sie ging in die Politik. Sie strebte nach dem höchsten Amt und der größten Macht im Land. Mit 51 Jahren – so jung war vor ihr kein deutscher Bundeskanzler gewesen. Sie hat keine Kinder. Man könnte daraus schließen: Sie suchte die Erfüllung in ihrer Arbeit, nicht in der Familie. All das in einer patriarchal geprägten Gesellschaft, wie sie Deutschland ist, noch immer.

Nicht nur viele Männer hat das provoziert, auch manche Frau. Oder wie es die britische Althistorikerin und Feministin Mary Beard jüngst in einem Interview sagte, in dem es um mächtige Frauen wie Margaret Thatcher und Angela Merkel ging: „Schon der Auftritt der Frauen in der Öffentlichkeit ist ein Regelbruch.“

Macht ist für Frauen immer noch schwieriger zu händeln als für Männer

Und dann ist da jene Provokation, die qua Amtes noch obendrauf kam: Eine Frau, die führt. Ein ganzes Land! Die diese Macht für sich beansprucht – und sich zutraut. Die sich in Männerrunden behauptet. Und sogar durchsetzt! Ohne das Gockel-Gehabe eines Bundeskanzlers Gerhard Schröder, ohne die große raumgreifende Geste, wie sie viele Männer so gerne an den Tag legen; im Büro, zuhause, im öffentlichen Raum. Stattdessen trat Merkel mit einer von vielen als kühl beschriebenen Analytik auf, mit der Ratio der Naturwissenschaftlerin und einem gefestigten Pragmatismus. Auch das eher Eigenschaften, die als männlich gelten. So erkämpfte sie sich einen Platz im politischen Raum, der immer noch von Männern dominiert ist. Macht ist für Frauen heute noch immer schwieriger zu händeln als für Männer. Weil die Erzählung einer patriarchalen Gesellschaft lautet: Macht ist keine Frauensache.

Ich will hier keinen falschen Eindruck vermitteln: Ich bin nicht zufrieden mit Merkels frauenpolitischer Arbeit – wie sollte ich es auch sein, angesichts dessen, was versäumt wurde? Vieles regt mich auf. Aber Merkel als Kanzlerin war wichtig für mich.

Als sie 2005 ins Amt kam, war ich 21 Jahre alt. Heute bin ich 37. In dieser ganzen Zeit war eine Frau die Kanzlerin Deutschlands; irgendwann schien diese Tatsache fast normal zu sein (obwohl sie es natürlich nie war.) Es fiel mir nicht weiter auf; ihr Geschlecht machte in meiner Wahrnehmung irgendwann keinen Unterschied mehr. Merkel war die eine große Ausnahme, die sich in meinem Kopf über die Jahre als Selbstverständlichkeit festsetzte.

Man kann diese Wahrnehmung als sehr naiv kritisieren. Und sicherlich war ich das in früheren Jahren auch noch. Aber dass mir eine Frau an der obersten Spitze des Landes als selbstverständlich erschien, hatte eine Signalwirkung auf mich. Eine Frau in der Führung? In einem solchen Amt? Aber sicher! Wieso auch nicht?!

Daher rührt meine Wehmut. Ich wünsche den jungen Frauen, die heute 21 sind, keinen Kanzler Laschet. Auch keine Politiker wie einen Friedrich Merz (CDU) oder Christian Lindner (FDP, der, wir erinnern uns kurz, erst seine Generalsekretärin Linda Teuteberg rauswarf, um sie dann auch noch mit einer chauvinistischen Zote zu verabschieden.) Diese Männer, sie wirken wie aus der Zeit gefallen. Was sollen die jungen Frauen denken? Dass so die Zukunft Deutschlands aussieht?

Auch das hätte eine Signalwirkung. Aber keine gute.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger

Frau Merkel, unter uns: Sie sind doch Feministin!

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App