Nach zwei Jahren Entzug hätte die Schlange auch mehrere Kilometer lang sein können. Es wäre mir egal gewesen. Lang ist sie trotzdem: Erst zweispurig, dann einspurig die Treppen herunter, vorbei an den weißen Plastiktischen, bis zum kleinen, flachen Durchgang, in dem man sich die Füße vor dem Baden sauber laufen soll. Es riecht nach Chlor. Dann liegt es vor mir: das glitzernde, hellblaue Freibadwasser. Long time no see, old friend.
Dass ich gleich reinspringe, ist natürlich nur vorgeschoben. Der wahre Grund, warum ich 25 Minuten in sengender Hitze in der Schlange draußen gewartet habe, ist gelb, klein und fettig. Schwimmen im Freibad – zugegeben, ganz nett. Um was es wirklich geht: die Freibadpommes!
Deswegen verziehe ich mich nach zehn Alibibahnen Brust und Kraul auf die Liegewiese und nehme mein Ziel ins Visier: den Kiosk. Er ist kaum zu erkennen, so viele Leute stehen an.
Deutschland wartet 2021 mit Abstand. Und wie sie alle so stehen, könnten sie hier auch seit März 2020 warten, seit Beginn der Pandemie. Auf Lockerungen, Normalität, Entwarnung – und Freibadpommes. Deutschland schwimmt sich gerade frei. Auch im Prinzenbad in Berlin.
Freibadpommes sind dabei immer auch Freizeitpommes. In Zeiten, in denen das Schlafzimmer zum Büro und die Küche zum Pausenraum geworden ist, fällt die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit immer schwerer. Die Trennung zwischen Arbeit und Pommes hingegen ist relativ deutlich. Ich frittiere meine Arbeit nicht.
Vielleicht niemals zuvor waren das Freibad und seine Pommes wichtiger als in diesem Sommer, dem zweiten mit Corona, in dem zwar kaum noch was verboten ist, sich vieles aber doch irgendwie unangebracht anfühlt (Hallo, UEFA!). Das Freibad ist in der Pandemie eingezäunter Mallorca-Ersatz, Leichtigkeitsspender via Völlegefühl, Seelenstreichler via Magenzugang. Ferien am Beckenrand. Dieses Jahr erst recht.
Muss man eine Ode schreiben an etwas, das sowieso von allen geliebt wird? Freibadpommes schmecken immer und jedem. Viel mehr muss man über sie eigentlich nicht wissen. Ein bisschen was aber doch noch.
Denn im Prinzenbad bekomme ich eine Ahnung davon, wie schön und frei das Leben vor Corona war. Und wie eng. Corona selbst gibt sich auch die Ehre, in Form von Schildern (Abstand halten!) und Security, die mit Walkie-Talkies genau im Blick behält, wie viele Menschen im Schwimmbereich sind. Als ich das Ticket online buche, sind noch über 500 weitere Tickets zu haben. Sie scheinen alle verkauft worden zu sein, die Liegewiese stöhnt.
Vor mir in der Schlange steht ein kleiner Junge, er bibbert und tropft auf die heißen Steine, in der Hand hält er vier Euro, das reicht. Hinter mir steht ein älterer Herr in Badehose, Hemd und Krawatte. Cool. Eine Mutter drängelt sich vor, beachtlich, um mindestens 40 Warteschlangenplätze. Es ist mir egal.
Dann bin ich dran. Ich bestelle. „Eine Portion Pommes rot-weiß.“ Eigentlich will ich „Pommes Schranke“ sagen und noch eigentlicher einfach nur eine Portion Glück bestellen, aber das versteht ja niemand. Das Glück kommt dann trotzdem, in einer weißgewellten Pappschale.
Auf einmal bin ich wieder zwölf Jahre alt und im Itzehoer Freibad. Es sind 35 Grad und die Sonne knallt mir auf den Kopf. Das Gras klebt in den Kniekehlen. Ich stelle meine Freibadpommes auf das nasse Handtuch und verteidige sie gegen Ameisen und Wespen. 30 Meter weiter sitzt mein Schwarm Paulina mit ihren acht Schwestern (kein Spaß) und macht dasselbe.
Die Freibadpommes in deinem Kopf
Wie kann eine kleine Portion Pommes so etwas auslösen? Forscher:innen vergleichen das menschliche Gedächtnis gern mit einer Art Bücherregal, in dem jedes Buch für eine Erinnerung steht, das man aus dem Regal nehmen und aufschlagen kann.
Das Bild ist aber stark vereinfacht, denn eine einzelne Erinnerung wird über das ganze Gehirn verteilt gespeichert. Auch die Freibadpommes. In den Nervenzellen des olfaktorischen Cortex liegt die Speicherkarte, auf der geschrieben steht, wie die Pommes riechen: nach billigem Ketchup, Sonnencreme, Gras und Fritteuse. Im visuellen Cortex – also am anderen Ende des Gehirns – ist gespeichert, wie die Pommes aussehen: goldbraun, glänzend, im Idealfall knackig. Und im gustatorischen Cortex hat unser Gehirn freundlicherweise die Erinnerung an den Geschmack hinterlegt: salzig, mit Ketchup süßlich, mit Currypulver süßlich-scharf. All diese Nervenzellen zusammen formen die Erinnerung an die Freibadpommes.
Und weil das ganze Gehirn mitmacht, wenn wir da liegen, als Erwachsene im Freibad, erinnern wir uns neben den Pommes noch an so vieles mehr: Luftanhalten um die Wette (immer verloren), vom Zehner springen (nie getraut), rutschen (schon eher meine Disziplin) und Esspapier (bäh!). Auch Emotionen werden mit aktiviert. Denn Essen ist emotional. Und wer versucht, das zu leugnen, tut sich damit keinen Gefallen. Wie meine Kollegin Theresa Bäuerlein in diesem Text schreibt: „Nur zu essen, wenn man Hunger hat, ist ein bisschen so, wie nur Sex zu haben, wenn man ein Kind zeugen will.“
Allerdings: Unser Gedächtnis ist nicht wie eine Videokamera, die alles aufzeichnet, was wir tun. Unser Gedächtnis ist eher wie Instagram: Ständig legen wir Filter über die Bilder, die unsere Aufnahmen zwar schicker, aber nicht realistischer machen. Nie war der Sommer wärmer, das Wasser klarer und die Pommes besser als in unserer Kindheit – behauptet unser Gedächtnis. Aber wie das so ist mit Instagram: Die Realität sieht anders aus. Komplexer.
Der Körper braucht Energie
Ich muss euch deswegen mit den folgenden Fakten enttäuschen. Enttäuschung Nummer eins: Die Pommes im Prinzenbad waren so lala. Maximal. Zu kurz frittiert, zu wenig Salz. Meine Meinung. Das liegt aber nicht nur an den Pommes. Ich habe auch einen Fehler gemacht: Zehn Bahnen sind zu wenig. Freibadpommes schmecken auch deshalb so gut, weil das Schwimmen zuvor anstrengend ist, auch das Planschen.
Das Wasser ist nur 22 bis 28 Grad warm – der Körper muss richtig ackern, um seine normale Temperatur von 36 bis 37 Grad aufrechtzuerhalten. Wir müssen Wärme produzieren, dafür wird unser Stoffwechsel aktiviert und unser Energiebedarf steigt. Beim Schwimmen werden dann fast alle Muskelgruppen des Körpers beansprucht, in einer Stunde verbrennen wir ungefähr 500 Kilokalorien. Unsere Kohlenhydrat- und Fettspeicher werden mit jedem Schwimmzug leerer.
Das kann man wahnsinnig technisch beschreiben: Die Schwimmleistung ist das Ergebnis der Umwandlung der Stoffwechselleistung des Schwimmers in mechanische Leistung mit einem bestimmten energetischen Wirkungsgrad. Meine Schwimmleistung kann man so beschreiben: plumpes, zehnminütiges Treibenlassen. Danke, reicht schon.
Logisch, dass die Pommes danach nicht so gut schmecken, wie sie könnten.
Die Freibäder sterben und mit ihnen die Pommes
Enttäuschung Nummer zwei: Die Freibäder und Naturbäder sterben. Im Jahr 2000 gab es noch 3.238 Freibäder in Deutschland, 2019 waren es nur noch 2.686.
300.000 Euro kostet ein Freibadbetrieb durchschnittlich pro Jahr. Das kann man mit Badegästen allein nicht bezahlen. Wenn ein Freibad nicht zum privaten Erlebnisbad mit Palmen, Sauna und 23 Euro Eintritt werden soll, braucht es deshalb Zuschüsse: von den Kommunen, vom Land, vom Bund. Wenn die Kommunen pleite sind, wird das zum Problem. Im Freibad liegen fast alle Klassen. Es treffen sich unterschiedliche soziale Gruppen, unterschiedliche Generationen, es kommen ganze Dörfer, Gemeinden und Kieze zusammen.
Wenn Freibäder sterben, hat das Folgen. Laut Zahlen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft sind 59 Prozent der zehnjährigen Kinder in Deutschland keine sicheren Schwimmer:innen. 100 Prozent hingegen sind sichere Pommesesser (Krautreporter-Schätzung). Und das sollte auch so bleiben.
Freibadpommes sind ein Klebstoff unserer Gesellschaft. Die Kartoffelstärke, das Ketchup und die Mayo halten uns zusammen. In der Schlange sind wir alle gleich (also bis auf die Mutter, die sich vorgedrängelt hat).
Gehen ein FDPler, eine Linke und ein Querdenker ins Freibad. Essen Pommes. Keiner streitet. Alle glücklich. Über Freibadpommes kann man sich nicht lustig machen.
Eigentlich müsste diese Bundesregierung deshalb vor Ende der Legislaturperiode noch schnell eine Freibadpommesgarantie per Gesetz verordnen. Das könnte auch gleich die Freibäder mit retten. Ein Gute-Freibadpommes-Gesetz.
Man kann uns ja so einiges nehmen, das hat das Coronavirus unter Beweis gestellt in den vergangenen eineinhalb Jahren: den Besuch bei Freund:innen, die Lieblingskneipe, den Platz im Büro, das Klassenzimmer, die Hochzeit, das Studentenleben, die Jugendarbeit, die Freiheitsrechte.
Freiheitpommes werden uns jedes Jahr genommen, wenn der Herbst kommt. Das kennen wir schon. Das Gute ist: Sie kommen wieder. Immer.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert