Vanlife in der Wüste; die Protagonistin des Films „Nomadland“ läuft an ihrem Van vorbei im Gegenlicht der untergehenden Sonne.

© Searchlight Pictures/ The Walt Disney Company

Leben und Lieben

Das #Vanlife meiner Mutter

In dieser Woche läuft der oscarprämierte Film „Nomadland“ in den deutschen Kinos an. Meine Mutter lebt das Leben, das im Film erzählt wird.

Profilbild von Mitchell Johnson

Dieser Text ist zuerst bei The Drift erschienen. Wir haben ihn übersetzt, gekürzt und veröffentlichen ihn, weil er die Geschichte hinter dem US-Film „Nomadland“ erzählt, hinter den Menschen, die in Wohnmobilen durch die Weiten der USA ziehen. „Nomadland“ hat einen Oscar als „Bester Film“ gewonnen und läuft in diesen Tagen auch in Deutschland an.


In den ersten paar Monaten der Finanzkrise klebte ich vor dem Fernseher. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, schaltete ich die Nachrichten ein, meist CNN, um mich über den Finanzkollaps zu informieren. Im Fernsehen waren immer die gleichen Leute zu sehen: schluchzende Familien und Banker und Finanzminister Hank Paulson. Reporter tourten durch verlassene Sackgassen in Las Vegas auf der Suche nach dem Durchschnittsamerikaner. Ich wusste, dass ich Zeuge von etwas Historischem wurde, aber in der Mittelstufe fühlte sich das Beobachten des wirtschaftlichen Zusammenbruchs wie das Beobachten von etwas anderem an – eine schlechte VH1-Show oder ein Schneesturm.

Schließlich kam der Zusammenbruch in unserer Stadt an: Yreka, Kalifornien, eine kleine Gemeinde in einem abgelegenen Tal direkt südlich der Grenze zu Oregon. Als die ersten Geschäfte schlossen – der Buchladen, der Donut-Laden – fühlte es sich an, als würde man ein Filmset betreten. Aber schon bald wurde das Gefühl schal. Aus dem Walmart wurde ein Super Walmart, und dann wurde er zum Hauptgeschäft in der Stadt. Die Rezession war nicht mehr interessant, weder für die Nachrichten noch für mich. In der Highschool schlich ich mich nachts raus und traf mich mit meinen Freunden in der verlassenen, halbfertigen Wohnsiedlung in den grasbewachsenen Hügeln vor der Stadt. Wir brachen in die Häuser ein und wanderten mit unseren Handy-Taschenlampen herum. Einige waren fast fertig, ausgestattet mit Beleuchtungskörpern und Teppichböden. In einem Haus fanden wir eine Kiste Bier und tranken sie aus. In einem anderen entdeckten wir Essensreste im Kühlschrank und sprinteten hinaus.

Wir hörten einfach auf, die Hypothek auf das Haus zu bezahlen

Nach ein paar Jahren war unser eigenes Haus weniger als die Hälfte dessen wert, was meine Mutter an Hypotheken schuldete. In dem Büro, in dem meine Mutter zwanzig Jahre lang gearbeitet hatte, wurde darüber gesprochen, ihre Stelle zu streichen. Sie verbrachte viel Zeit damit, die Bank davon zu überzeugen, die Tilgung ihres Kredits zu reduzieren, aber das Beste, was die Bank anbot, war eine Verlängerung – eine Hypothek über vierzig Jahre statt über dreißig. Meine Mutter hatte alles getan, was man tun sollte. Sie hatte ein Haus im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit einer überdurchschnittlichen Hypothek gekauft, arbeitete in einem festen Job mit Krankenversicherung und Rentenplan, und trotzdem saß sie in der Falle.

Die Hedge-Fonds-Manager, die die Wirtschaft in den Abgrund getrieben hatten, fanden einen Weg, ihren Schulden zu entkommen, und so auch meine Mutter. Es war ganz einfach: Sie hörte auf, die Hypothek zu bezahlen.

Millionen von Menschen im ganzen Land kämpften darum, ihre Häuser zu behalten, aber wir versuchten, unseres abzuschütteln. Im Internet fand meine Mutter Foren voller Menschen, die auch raus wollten. Sie erfuhr, dass die Bank, wenn sie selbst Hilfe vom Staat bekam, verpflichtet war, jeden Antrag zu bearbeiten, egal wie aussichtslos er war. Einmal abgelehnt, würde der Prozess der Zwangsvollstreckung wieder beginnen. Diese Bemühungen verschafften uns Zeit. Als ihr Arbeitgeber meine Mutter schließlich in den Vorruhestand drängte, übernahm sie eine neue Rolle als Schachspielerin. Ihr Gegner: die Bank.

Sie plante es so, dass die Zwangsräumung stattfinden würde, nachdem ich zum College gegangen war. Sie machte die notwendigen großen Anschaffungen, bevor ihr Kredit den Bach runterging. Alles verlief so reibungslos, dass wir glauben konnten, wir hätten die ganze Zeit die Kontrolle.

Im Sommer 2014 fühlten wir uns wie Hausbesetzer. Wir wurden von strengen Briefen und so vielen Anrufen belagert, dass wir das Telefon ausstöpselten. Jedes Klopfen an der Tür ließ uns ein wenig den Atem stocken. Im Juli funktionierte unsere Klimaanlage nicht mehr, aber keiner von uns machte sich die Mühe, sie zu reparieren. Wir ließen das Gras im Garten über unsere Knöchel und dann über unsere Waden wachsen. Wir verbrachten warme Abendstunden auf der Terrasse, umgeben von verwilderten Dingen.

Endlich kam der Brief, der wichtige Brief, und wir mussten bis zum 16. September raus sein. Wir veranstalteten einen Hofverkauf und feilschten um unsere Möbel. Ich fuhr zum College am anderen Ende des Landes; meine Mutter brachte Kisten in den Lagerraum. Eine Woche später brannte eine Stadt in der Nähe bei einem Waldbrand nieder, und ein Großteil des Landkreises musste evakuiert werden, aber da war sie schon weg.

Sie tat, was zu diesem Zeitpunkt sinnvoll war: Sie zog in ein Wohnmobil und machte sich auf den Weg.

Zwei weiblich gelesene Personen liegen mit Gesichtsmasken in Campingstühlen in Mittenn der Prärie.

Eigentum haben die modernen Nomaden nicht, aber einander. Sie treffen sich regelmäßig in Arizona wie die Pelzjäger des 19. Jahrhunderts. © Searchlight Pictures/ The Walt Disney Company

Das Leben im Wohnmobil stellte anfangs ein neues, glamouröses Ideal dar

Dieses Jahr stehen Menschen wie meine Mutter im nationalen Rampenlicht der USA. Sie ist Mitglied jener Gruppe von Menschen, die im Mittelpunkt von „Nomadland“ stehen, dem Film, der den Goldenen Löwen in Venedig, einen Golden Globe und den Oscar als bester Film gewann. „Nomadland“ spielt vor einem Jahrzehnt, kurz vor der Rezession im Jahr 2011. Als meine Mutter anfing, in ihrem Wohnmobil zu leben, war der Niedergang nicht in irgendeinem bedeutenden Sinne beendet, aber der Untergang der frühen Jahre war einem seltsamen Wohlstand gewichen. In dieser Atmosphäre konnte die Entwurzelung nicht als Notlage, sondern als Chance betrachtet werden. In den sozialen Medien katalogisierten vor allem die jungen Leute unter dem Hashtag #vanlife die Abenteuer der selbstgewählten Wohnungslosigkeit. Das Wohnmobil (oder der Teardrop-Anhänger oder der Sprinter-Van) wurde zum Symbol der Inspiration und zu einer Quelle für Werbeeinnahmen. Frauen mit breitkrempigen Hüten und Leinenhemden verkauften Detox-Wasser oder Bluetooth-Lautsprecher vom Rücksitz ihrer Volkswagen-Busse aus, aber das eigentliche Produkt war natürlich der Lebensstil.

Das Leben in einem Van stellte ein neues, glamouröses Ideal dar, unbelastet von Wohneigentum und einem festen Job – losgelöst sogar von der physischen Welt selbst. Wenn ein eigenes Zuhause nicht mehr möglich war, gab es unendlich viel Platz auf Instagram.

In weniger bekannten Ecken des Internets diskutierte eine andere Gruppe von Menschen über das Leben im Van. Der Verkehr auf Websites wie CheapRVLiving.com boomte, da vor allem ältere Amerikaner ihren Auszug planten. Ein beliebtes Yahoo-Nachrichtenbord mit dem Titel „Live In Your Van 2“ verdoppelte seine Mitgliederzahl in den Jahren nach der Rezession und wuchs auf über achttausend Personen an. Das Reddit-Forum r/vandwellers startete 2010 und gewann schnell Zehntausende von Anhängern. (Heute hat es 1,2 Millionen.) Nach der Rezession stieg der Verkauf von Vans, Wohnmobilen und Wohnanhängern sprunghaft an, da immer mehr Menschen in Vollzeit in diese Fahrzeuge einzogen. Das waren die Nomaden.

Es ist schwierig, genaue Statistiken über die Anzahl der Vandwellers in den USA zu finden. Bei der Zählung der Obdachlosen werden sie oft übersehen, da sie nicht in Notunterkünften auftauchen oder auf der Straße schlafen. Viele sind ständig im Übergang – sie leben einen Teil des Jahres in einem Van, während sie saisonal arbeiten, suchen eine Wohnung in einer neuen Stadt oder parken vor dem Haus eines Freundes, während sie auf die Beine kommen. Aber viele, wie meine Mutter, sind für eine lange Zeit dabei.

Meine Mutter besuchte ihren offiziellen Wohnsitz in South Dakota nur einmal

Ihr Wohnmobil war ein Itasca Sundancer von 1996, acht Fuß breit und 29 Fuß lang. Vom vorderen Fahrerhaus aus konnte man in weniger als fünf Sekunden durch das Wohnzimmer, die Küche, am Bad vorbei und in das hintere Schlafzimmer gehen. Ein kleiner Dachboden über dem Fahrerhaus beherbergte ein weiteres Bett, in dem man mit ein paar Zentimetern Abstand zwischen der Nase und der Decke liegen konnte. Wenn ich zu Besuch war, schlief ich dort oder in einem Zelt draußen.

Meine Mutter verlegte ihren Wohnsitz nach South Dakota, das nur wenige Anforderungen an einen legalen Wohnsitz stellt und deshalb bei Wohnmobilisten beliebt ist. Sie besuchte den Staat in den nächsten sieben Jahren nur einmal und übernachtete eine Nacht in einem Motel, bevor sie zur Zulassungsstelle ging. Und sie begann einen Blog. In der Woche, bevor sie anfing, schrieb sie:

„Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, stelle ich fest, dass die meisten großen Veränderungen Dinge waren, die ‚einfach so passiert sind.‘ Dieses Mal ist es eine Entscheidung. Ich habe über vier Jahre lang von dieser Veränderung geträumt und seit 2012 aktiv die Schritte unternommen, um sie zu verwirklichen. Es hat lange auf sich warten lassen, und ich könnte nicht aufgeregter sein! Ich würde mir gerne einen Namen für mein neues rollendes Zuhause ausdenken. Wenn Sie einen Vorschlag haben, hinterlassen Sie ihn bitte in den Kommentaren. Ich lade Sie ein, mich auf dieser Reise zu begleiten, während ich den nomadischen Lebensstil annehme und lerne, Erfahrungen gegenüber Dingen zu priorisieren.“

Der nomadische Lebensstil kam mit seiner eigenen Kultur und seiner eigenen Sprache. Boondocking bedeutet, auf öffentlichem Land zu übernachten, ohne Anschlüsse für Versorgungseinrichtungen, während Stealth Parking bedeutet, in Städten oder Dörfern über Nacht zu campen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. (Walmart erlaubt es oft, auf seinen Parkplätzen zu schlafen – eine Praxis, die Wallydocking genannt wird – aber das ändert sich, da immer mehr Menschen das Nomadenleben annehmen). Die Mitglieder dieser Bewegung haben viele Namen – Nomaden, Rubbertramps oder Vandalen – aber meine Mutter zog es vor, Vagabund genannt zu werden.

Die Menschen, die nicht nur in Vans lebten, sondern auch an der Vagabunden-Kultur teilnahmen, entsprachen meist einem einheitlichen demografischen Typ. Sie waren im Großen und Ganzen ehemalige Mitglieder der Mittelschicht. Sie waren überwiegend weiß, hatten eine Affinität zum Camping und konnten ohne Angst in ländliche Gegenden reisen. Sie waren Boomer, entfremdet von einer Wirtschaft, die älteren Menschen immer weniger Schutz bietet, und versuchten oft, von den mageren Leistungen der Sozialversicherung oder einer Rente zu leben. Jahrzehnte zuvor hatten einige ihrer Altersgenossen versucht, aus der Gesellschaft auszubrechen, aber die meisten endeten damit, feste Jobs anzunehmen, Kinder zu bekommen und Häuser zu kaufen. Jetzt erinnerte das Vandwelling an eine frühere Gegenkultur.

Ein Van fährt auf einer Staße ins Nichts einer Gebirgskette entgegen.

Natürlich: die Weite. Rauskommen wollen die Nomaden, nicht nur aus ihrem alten Leben. © Searchlight Pictures/ The Walt Disney Company

Nomaden leben in der Natur und auf weiten, leeren Parkplätzen

Aber weit entfernt vom Idealismus der 1960er Jahre oder der „Blissed-out“-Mentalität des #vanlife, tendieren die Nomaden zum Praktischen. Vandwelling-Foren sind voll von Ratschlägen, wie man mit 500 Dollar im Monat leben kann, wie man Schikanen der Polizei vermeidet und wie man billige kieferorthopädische Behandlungen in Mexiko durchführen lassen kann. Die Foren sind auch mit breiteren sozioökonomischen Analysen gespickt. Bob Wells, der Gründer von CheapRVLiving, ist so etwas wie der Theoretiker der Bewegung. In einem Eintrag aus dem Jahr 2012 mit dem Titel „Thriving in a Bad Economy“ legt er die aufkommende Vandwelling-Weltanschauung dar. „Es ist schwer, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass sich unsere Welt verändert, und zwar nicht zum Besseren“, schreibt Wells. „Früher gab es einen Gesellschaftsvertrag, der besagte, dass alles in Ordnung ist, wenn man sich an die Regeln hält (zur Schule geht, einen Job hat und hart arbeitet). Das ist heute nicht mehr so.“ Die Gemeinschaft hat eine latente Eschatologie, die nicht nur auf das Ende des eigenen Lebens, sondern auf das Ende der Welt ausgerichtet ist. „Geh raus, so schnell du kannst!“, schreibt Wells in „Vandwelling: Ein Weg, dem Missbrauch der Gesellschaft zu entkommen“. In einem anderen Beitrag erklärt er: „Ich glaube an den globalen Klimawandel und an Peak Oil und ich glaube, dass es sehr, sehr schlimm werden wird.“

Abgesehen von speziellen Wohnmobilstellplätzen besteht die Geografie des Nomadentums meist aus weiten, leeren Parkplätzen, auf denen man unbemerkt schlafen kann, und aus öffentlichem Land, auf dem man bis zu vierzehn Tage lang kostenlos bleiben kann. Da es im Westen der USA mehr öffentliches Land gibt, tendieren Nomaden dazu, auf dieser Seite des Kontinents zu bleiben. Diese Orientierung und ihre koloniale Perspektive sickert auch in das nomadische Ethos ein. Wohnmobilhersteller zum Beispiel scheinen eine Leidenschaft für indianische Stammesnamen zu haben: Itasca, Winnebago, Chinook. Soziologen haben die Tendenz von Wohnmobilisten festgestellt, sich angesichts von lokalen Regierungen und Anwohnern, die sie als obdachlos oder mittellos ansehen, mit den frühen Pionieren zu vergleichen. Das größte jährliche Treffen der Nomaden, das „Rubber Tramp Rendezvous“, wurde 2010 von Bob Wells gegründet und findet jedes Jahr auf öffentlichem Land außerhalb von Quartzsite, Arizona, statt. Wells orientierte sich dabei an ähnlichen Zusammenkünften von Pelztierjägern im 19. Jahrhundert.

„Es war besser, als ich gehofft hatte“

Wie die frühen amerikanischen Siedler bringen die Nomaden sowohl einen Pessimismus gegenüber der menschlichen Gesellschaft als auch eine tief empfundene Romantik gegenüber dem Land zum Ausdruck. Für viele ist es die Verbundenheit mit der Natur, die das Ganze lohnenswert macht. Land zu besitzen ist vom Tisch, aber es zu erleben, ist kostenlos. „Wie Thoreau“, schreibt Bob Wells in einer Depesche aus dem Sierra National Forest, „ist unsere kleine Gruppe in die Wälder gegangen, um bewusst zu leben, um zu lernen, was das Leben uns wirklich lehren will.“ Die freie Natur birgt für viele Vandwellers ein erlösendes Potenzial.

Das ist es, was meine Mutter zum Leben im Wohnmobil gebracht hat; sie war nie ein Fan von Menschenmengen. Unterwegs verbrachte sie ihre Zeit damit, ihre Umgebung zu fotografieren – die natürliche Welt zu dokumentieren, wie sie es ausdrückte, solange sie noch da ist. Sie verkaufte Abzüge ihrer Fotos im Internet, was ihr gelegentlich ein kleines Zubrot einbrachte. „Und dieses Mal ist es wirklich Neuland“, begann sie einen Blogbeitrag, wie ein Pioniertagebuch. „Bis jetzt war es sogar besser, als ich gehofft hatte. Und jetzt frage ich mich, warum ich so lange gebraucht habe, um den Traum zu leben.“

Das Empire ist weg. Das ist das erste, was wir in „Nomadland“ erfahren. Die Titelkarte des Films informiert uns über den Niedergang von Empire, Nevada, einer ehemaligen Industriestadt, die von der Firma United States Gypsum gegründet wurde. Das Werk wurde 2011 geschlossen, und die Stadt Empire blutete langsam aus, als ihre Bewohner, die fast alle in der Mine beschäftigt waren, wegzogen. Chloé Zhao, eine in Peking geborene Regisseurin, deren letzter Film von einem kämpfenden Lakota-Rodeo-Star handelte, dreht gerne Filme aus der Perspektive eines Außenseiters. Im Fall von „Nomadland“ ist ihre Position nicht nur außenstehend, sondern auch sie steht auch auf der anderen Seite: Sie ist die Tochter eines Stahlmagnaten, der zum Immobilienentwickler wurde.

„Nomadland“ ist die bisher profilierteste kulturelle Auseinandersetzung mit dem Nomadenphänomen und wurde als der Film für die Zeit nach der Rezession gelobt, „eine wunderschöne Reise durch die Trümmer des amerikanischen Versprechens“, so The Atlantic.

Im dunkelnden Abendrot läuft eine weiblich gelesene Person mit einer Campingleuchte dem Nachtlager einiger Camper-Nomad*innen entgegen.

Wer sesshaft ist, glaubt, dass die Nomaden sich auch danach sehnen, wieder sesshaft zu werden. Aber das stimmt nicht. © Searchlight Pictures/ The Walt Disney Company

Sie besuchen das Land nur, sie beanspruchen es nicht

Frances McDormand spielt die fiktive Nomadin Fern, der die Geschichte über den Verlauf eines Jahres folgt, in dem sie irgendwann nach dem Tod ihres Mannes in einem Sprinter-Van durch den amerikanischen Westen wandert. Die Landschaft des Films ist übersät mit großen Farmen, entkernten Kleinstädten und fluoreszierenden Big-Box-Stores. In diesem Westen gibt es nur noch wenige Orte, an denen Fern bleiben kann. In einer Szene versucht sie, auf einem Parkplatz zu schlafen, bevor ein Wachmann laut an ihre Tür klopft und ihr mitteilt, dass sie dort nicht schlafen kann. „Ich gehe! Ich gehe!“, schreit Fern instinktiv.

„Nomadland“ basiert auf dem gleichnamigen Sachbuch der Journalistin Jessica Bruder aus dem Jahr 2017, die das Vandwelling in die Zeit der Gig-Economy einordnet. Während die Nomaden Geld sparten, indem sie nicht in Häusern lebten, erkannten Unternehmen, dass sie ebenfalls Geld sparen konnten, indem sie permanent mobile Mitarbeiter anstellten. Es war eine alte Taktik, die durch neue Technologien und laxe Arbeitsgesetze erleichtert wurde. In den Vandwelling-Foren bieten Listen mit empfohlenen Jobs für Nomaden einen Überblick über die Unternehmen, die am meisten für diese Entwicklung verantwortlich sind: Uber, Amazon, Fiverr.

In der Filmversion verbringt Fern die meiste Zeit mit langweiligen, schlecht bezahlten Jobs – als Teil von Amazons CamperForce (der temporären, saisonalen Belegschaft des Unternehmens), als Campingplatzbetreiberin in den Badlands und bei der Ernte von Zuckerrüben in Nebraska.

Wenn „Nomadland“ ein Pioniersubjekt hat, dann fehlt ihm ein Objekt – es gibt kein Land zum Besiedeln, keine Zukunft, auf die man hinarbeiten kann. Es hat die emotionale Textur einer Grenzgeschichte, die von der ursprünglichen Bedeutungsquelle dieser Geschichte losgelöst ist: dem Besitz. Stattdessen hat Fern kurze Erlebnisse im Kontakt mit der Natur, Berührungen mit dem romantischen Erhabenen. Die meiste Zeit des Films ist ihre Figur emotional zurückgezogen, aber in der Natur wird sie lebendig, blickt mit kindlichem Staunen auf einen Mammutbaum oder rennt an einer Meeresklippe entlang, überwältigt von ihren Gefühlen. Aber diese Momente treten in regelmäßigen Abständen auf und unterbrechen die Plackerei der harten, körperlichen Arbeit. Frühere Pioniere mögen das Land für sich beansprucht haben, aber das meiste, was Fern tun kann, ist, es zu besuchen, kurz bevor sie zu ihrem nächsten Auftritt aufbricht.

Der Film geht an der Lebenswirklichkeit vorbei

Während die Zeit vergeht und die frühere Lebenslust von der zunehmenden Einsamkeit von Fern überschattet werden, wird ihr Charakter zunehmend von der Trauer um ihren Mann und der Sehnsucht nach ihrem alten, stabilen Leben bestimmt. Das sind alles vernünftige Gefühle, aber ihre Charakterisierung entspricht eher den Erwartungen eines wohlmeinenden liberalen Publikums als dem Selbstverständnis und der Selbstbeschreibung von Nomaden. Die daraus resultierende Melancholie – die Trauer um einen festen Job, eine Ehe und ein eigenes Haus – geht am Thema vorbei. Der Punkt ist, wie Bob Wells es ausdrücken würde, dass diese Dinge von Anfang an unbefriedigend waren.

Obwohl „Nomadland“ versucht, aus der ökonomischen Not einen Western zu spinnen, stößt er immer wieder auf den ewigen Stolperstein für Pioniergeschichten: die Priorisierung dessen, was die Figuren symbolisieren, gegenüber dem, was sie zu sagen haben. Fern soll, wie die Protagonisten vieler Frontier-Geschichten, nichts Geringeres als das nationale Projekt selbst repräsentieren – seinen Triumph und, im Falle dieses Films, seinen Niedergang.

Diese Erzählungen wurden immer entpolitisiert, ihre Ursprünge im Völkermord weggewischt, ihre reaktionärsten Elemente weggesteckt. Wir werden aufgefordert, uns in den Pionier als universelles amerikanisches Subjekt auf eine Weise einzufühlen, wie wir es bei Geschichten über banalere Formen von Armut oder Obdachlosigkeit oder die anhaltende Enteignung von indigenem Land nicht tun. Grenzgeschichten sind wie die öffentlichen Ländereien, die der Film genießt – hübsch, aber verwurzelt in einer Gewalt, die ihre Hübschheit nur verschleiert.

Diese Erzählung ist nicht immer befriedigend, auch nicht für die Nomaden. Es gibt eine Szene gegen Ende des Films, in der Fern bei ihrer Schwester in der Vorstadt bleibt, nachdem ihr Van kaputtgegangen ist. (Fern, wie meine Mutter, wie viele andere Nomaden, hat immer noch ein Netz von Verbindungen zu der Mittelschicht, die sie hinter sich gelassen hat.) Beim Abendessen im Hinterhof streitet Fern mit einem Freund ihrer Schwester, einem Immobilienmakler, darüber, wie er den Leuten Häuser verkauft, die sie sich nicht leisten können. „Wir sind nicht alle in der Lage, einfach alles hinzuschmeißen und loszuziehen“, sagt er ihr. Fern verteidigt sich: „Oh, du denkst, das ist es, was ich getan habe?“

„Ich fand den Film zu traurig“, sagte mir meine Mutter, nachdem sie „Nomadland“ gesehen hatte. Sie hatte sich für eine kostenlose Testversion bei Hulu angemeldet, nur um den Film zu sehen. Für uns beide fühlte es sich besonders an, dass es eine Mainstream-Darstellung ihres Lebens gab. Aber für sie schwelgte der Film zu sehr in den traurigen Seiten des Nomadentums und enthielt wenig von der Freude, die sie auf der Straße erlebt hat. Auf CheapRVLiving reagierten einige positiv auf den Film, aber andere stimmten meiner Mutter zu. „Ich fand den Film deprimierend, einsam, uninspirierend, ohne Storyline“, schreibt ein User. „Nicht eine Person oder ein Charakter ließ dich ihren Lebensstil wollen oder gab dir das Gefühl, dass sie glücklich sind mit dem, was sie tun.“ Zumindest, so das Fazit des Posters, wird der Film die Wohnmobilstellplätze nicht weiter überfüllen, indem er mehr Menschen zum Nomadenleben inspiriert.

Meine Mutter gibt zu, dass sie naiv war, als sie anfing, auf der Straße zu leben. Nach ein paar Wochen, so erzählte sie mir, wurde ihr klar, dass viele Menschen nicht freiwillig in ihren Vans leben, sondern aus Verzweiflung. Alles in allem hat sie Glück gehabt. Sie musste nicht über längere Strecken heimlich parken und hatte keinen Ärger mit dem Gesetz. Sie musste nicht für Amazon oder auf einer Fabrikfarm arbeiten. Sie hat in einigen Wildschutzgebieten gearbeitet, um dort kostenlos parken zu können. Das bedeutete stundenlange unbezahlte Arbeit, aber sie konnte an ihren freien Tagen die Wildtiere fotografieren. Wenn alle Nomaden, meine Mutter eingeschlossen, an der verschwommenen Grenze zwischen Unabhängigkeit und Ausbeutung leben, dann hatte sie im Vergleich weit mehr Wahlmöglichkeiten als viele andere.

Was die Nomaden anstelle von Eigentum finden, ist einander

Als ich „Nomadland“ sah, wollte ich, dass Fern die Angebote annimmt, die sie für eine Bleibe erhält. Jahrelang wollte ich, dass meine Mutter auch sesshaft wird. Ich war überzeugt, dass ihre Geschichte eine des falschen Bewusstseins war, dass sie nicht sah oder sich weigerte zu sehen, dass sie in ein Leben eintrat, das ich als ein viel weniger verzeihendes Leben ansah. Dass ihre Wahl überhaupt keine Flucht war. Aber das ist von außen betrachtet zu einfach zu sagen. Die meisten Nomaden sehen sich nicht nur als Opfer, und das sollten sie auch nicht. Sie greifen, denke ich, nach dem, was ihnen zur Verfügung steht, nach Geschichten, die es ihnen erlauben, sich, wenn auch nur vorübergehend, frei zu fühlen. Geschichten, in denen so etwas wie Autonomie außerhalb der Grenzen des Eigentums gedeihen kann, wie ein Unkraut auf einem verlassenen Grundstück. Wenn es eine Lektion gibt, die man von den Nomaden lernen kann, dann vielleicht in diesem Bruch mit dem uralten Grenzmythos, dass der Besitz von Land einen erst zur Person macht.

Was die Nomaden anstelle von Eigentum finden, ist einander. Das ist das Leben, das meine Mutter kennengelernt hat, und das ich auf meinen Reisen mit ihr erlebt habe. Einmal habe ich sie über Silvester in Benson, Arizona, begleitet. Wir gingen zu einer Party in einem großen Speisesaal auf dem Wohnmobilpark und trafen Dutzende anderer Nomaden, die alle in Kostümen erschienen waren. Wir tranken Fireball und tanzten Linedance. Um 20.45 Uhr zählten wir zur Freude der älteren Leute die Sekunden bis Mitternacht in Neufundland herunter.

Vor etwa eineinhalb Jahren beschloss meine Mutter, dass sie nicht mehr reisen wollte. Sie war, wie sie mir sagte, das ständige Umziehen und die überfüllten Campingplätze leid. Sie wollte ein Bad in einer Badewanne nehmen. Sie parkte ihr Wohnmobil in einem ländlichen Ort im Südosten von Oregon, wo Häuser billig sind und wo sie die umliegende Natur liebt – ein Flussbecken, in dem es von Weißkopfseeadlern, Haubentauchern und Rotschwanzfalken wimmelt. Sie wollte ihre verbleibenden Rentenersparnisse nutzen, um ein Haus mit einem Kredit zu kaufen. Die Häuser dort sollten billig sein, aber letztes Jahr konnte sie sich keines leisten; die Pandemie hat zu einem Anstieg der Immobilienpreise auf dem Land geführt, und der Immobilienmarkt boomt, überall im Land. Sie versucht es dieses Jahr wieder. Wir scherzen, dass die Waldbrände mit etwas Glück die Immobilienpreise wieder sinken lassen.


Übersetzung und Redaktion: Henrike Freytag, Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert

Das #Vanlife meiner Mutter

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