Als Christian an einem kühlen Apriltag auf dem Weg zum Markt war, fiel ihm eine Frau auf. Sie saß auf dem Bürgersteig im Schatten, die Beine von sich gestreckt. Christian zögerte, dann fragte er, ob alles okay sei. Die Frau erzählte, dass sie seit zwei Wochen auf der Straße lebe, sie sprach von Drogen, davon, wie sie sich mit ihrem Betreuer zerstritten habe, dass sie ihre Eltern lange nicht gesehen habe.
„Das Leben ist scheiße“, sagte sie.
Christian schlug ihr vor, sich in die Sonne zu setzen, da sei es nicht so kalt. Das war das Erste, was ihm einfiel. Doch die Frau glaubte, Christian wolle sie verjagen. Sie sprang auf und wollte gehen, er erklärte ihr die Situation. „Ich wusste nicht, wie ich mit diesem riesigen Haufen an Informationen, an schlimmen Sachen, die ihr widerfahren sind, umgehen soll“, erzählt Christian am Telefon. „Meine Schublade im Kopf war leer. Ich wusste nicht, was ich machen soll.“
Christian ist Krautreporter-Mitglied. Er hat uns diese Geschichte beschrieben, weil er sich fragt: Wie helfe ich einer hilflosen Person eigentlich richtig? Welche Nummern sollte ich eingespeichert haben? Wie kann ich dafür sorgen, dass die Schublade in meinem Kopf nicht leer ist?
Ich habe seine Frage an die KR-Community weitergeleitet und über 100 Antworten bekommen. Manche kennen Christians Unsicherheit aus ähnlichen Situationen, manche sind Notfallsanitäter:in und allzeit bereit, andere haben Fortbildungen gemacht, um Konfliktsituationen im Alltag entschärfen zu können.
Thomas schreibt: „Ich bin mal nachts an einer Frau vorbeigefahren, die weinend am Kanalufer lag. Ich habe mich so über den unerwarteten Anblick erschrocken, dass ich weitergefahren bin, anstatt ihr meine Hilfe anzubieten.“
Barbara schreibt, dass sie schon als Jugendliche einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hat und später in die Johanniter-Unfall-Hilfe eingetreten ist: „Das hat mir geholfen, mich unerwarteten Situationen sofort zu stellen.“
„Besser handeln als zögern“, meint Su und Carsten rät: „Einfach die Bedenken oder den Termin hintenanstellen und den Menschen vor einem sehen, der ein Gespräch oder ein Abschleppseil benötigt.“
Hilflose Menschen begegnen uns allen immer wieder auf der Straße. Sei es ein medizinischer Notfall oder eine psychische Krise. Aber wie gewappnet sind wir eigentlich?
Laut einer Umfrage wissen nur etwa 22 Prozent aller EU-Bürger:innen, dass man mit der Nummer 112 in der gesamten EU einen Notruf absetzen kann. Und: Wie ging nochmal die Herzdruckmassage? Reicht der Erste-Hilfe-Kurs damals vom Führerschein überhaupt noch aus? Dieser Text soll in zwei Situationen helfen: bei medizinischen und bei psychischen Notfällen auf der Straße.
Um euch einen Fahrplan für medizinische Notfälle an die Hand zu geben, habe ich mit David Josuttis gesprochen. Josuttis ist Anästhesist, Notfallmediziner und stellvertretender Kreisvorsitzender beim Deutschen Roten Kreuz im Kreisverband Berlin-Zentrum.
Das sagt der Notfallmediziner
„Die Top 3 der Ersten Hilfe sind ganz klar: Herzdruckmassage, Herzdruckmassage, Herzdruckmassage“, sagt Josuttis ohne zu zögern am Telefon.
Stellt euch folgende Situation vor: Eine Person liegt auf der Straße und reagiert nicht, wenn ihr sie ansprecht. Was jetzt zu tun ist, ist ganz einfach, sagt Josuttis: „Die Person anfassen, sie rütteln und wecken. Wenn die Person nicht erweckbar ist, dann ist sie bewusstlos und das ist schon per se ein lebensbedrohlicher Notfall. Und zwar immer.“ In dem Moment muss definitiv schon mal die 112 gerufen werden. Entweder ihr macht das, oder ihr bezieht Umstehende mit ein, und beginnt selbst mit dem nächsten Schritt.
Das ist die Frage: Atmet die Person oder nicht? „Schon ein minimaler Zweifel daran, ob die Person ausreichend atmet, reicht aus, um die Herzdruckmassage zu starten“, sagt Josuttis. Er wiederholt das mehrmals im Gespräch. Wenn ihr euch die Herzdruckmassage selber zutraut, solltet ihr jetzt damit beginnen. Wenn nicht, ruft die 112 an. Dort gibt es Anweisungen. Und falls niemand in der Nähe ist, der an eurer Stelle helfen könnte, müsst ihr selber ran.
Bei der Herzdruckmassage geht es nicht primär darum, jemanden wiederzubeleben. Es geht darum, das Gehirn weiterhin mit Sauerstoff zu versorgen. Schon nach vier Minuten, in denen das Gehirn zu wenig Sauerstoff bekommt, fängt es an, irreparablen Schaden zu nehmen.
Aber innerhalb von vier Minuten kommt kein Rettungswagen.
So also funktioniert die Herzdruckmassage: Die Person auf den Rücken legen. In die Mitte des Brustkorbs drücken. Fest drücken. Wirklich fest. Ungefähr fünf Zentimeter tief. Dazu kann man Songs mit ungefähr 120 Beats per Minute als Takt benutzen. Etwa „Staying alive“, „Highway to hell“, oder „Die Biene Maja“ (hier eine Liste). Das heißt: Zweimal die Sekunde drücken. Wenn ihr die 112 am Telefon habt, dann helfen euch die Menschen, einen Takt zu finden.
Ihr denkt jetzt: „Fünf Zentimeter sind ja wirklich tief“? Richtig. „Es wird knacken zu Anfang, aber keine falsche Scheu“, sagt Josuttis. Das ist nämlich kein Problem, der Brustkorb kann nicht auseinanderspringen. Es entstehen nur knorpelige Verletzungen, aber die sind in der Notfallsituation irrelevant. „Und wenn die Person die Augen aufschlägt und sagt: ‚Aua, das tut weh‘, dann ist ja alles erreicht, was man wollte.“
Diejenigen, die sich die Mund-zu-Mund Beatmung zutrauen, die Kapazität dafür haben oder sich unter Umständen sogar mit jemandem abwechseln können, sollten dann abwechselnd jeweils 30-mal Herzdruckmassage und zweimal Beatmung durchführen.
Aber: Die Mund-zu-Mund-Beatmung ist nicht essentiell. „Ziel ist immer, die Herzdruckmassage zu machen.“ Es ist also nicht dramatisch, wenn ihr die Mund-zu-Mund-Beatmung nicht machen könnt.
Die wichtigste Botschaft: Man kann nichts falsch machen
Josuttis empfiehlt, dann einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen, wenn man sich unsicher fühlt, mindestens alle zehn Jahre, im Idealfall alle zwei bis drei Jahre. „Die meisten Leute haben Angst, überhaupt etwas zu machen. Sie haben auch Angst, rechtlich belangt zu werden, sollten sie etwas falsch machen.“
Aber einfach nichts zu unternehmen und zu warten, dass andere helfen, ist der größte Fehler, sagt Josuttis. Seine wichtigste Botschaft: „Man kann erstmal nichts falsch machen.“ Im medizinischen Notfall gilt: Jede Sekunde zählt. „Kein professioneller Rettungsdienst kann aufholen, was der Ersthelfer nicht gemacht hat“, sagt David Josuttis.
Was aber tut man, wenn man wie Christian einen psychologischen Notfall auf der Straße miterlebt? Angela Hofmeister ist Sozialpädagogin und Familientherapeutin und arbeitet beim Berliner Krisendienst. Sie hat mir dazu einige Ratschläge gegeben.
Das sagt die Beraterin vom Krisendienst
„Wir im Krisendienst schätzen das sehr, wenn Menschen sich Sorgen machen“, sagt Hofmeister.
Wenn zum Beispiel eine Person still und betrübt am immer gleichen Ort sitzt, oder jemand besonders bestürzt und hilflos aussieht, dann ist es erstmal wichtig herauszufinden, ob dieser Mensch überhaupt Hilfe haben möchten. Also: Höflich bleiben, Abstand halten und fragen: „Benötigen Sie Hilfe? Kann ich Ihnen Hilfe vermitteln?“ Und wichtig: „Wenn sich jemand abwendet oder gar nicht darauf eingeht, dann soll man es auch dabei belassen.“
Wenn die Person euch dann doch erzählt, was mit ihr los ist, und dass sie gerne Hilfe annehmen würde, ist es erst einmal wichtig zu signalisieren: „Ich sehe, dass Sie Probleme haben, ich höre, dass Sie in Not sind. Ich gebe ihnen jetzt eine Telefonnummer oder eine Adresse, wo Sie Hilfe bekommen können.“ Und da kommt der Krisendienst oder der Sozialpsychiatrische Dienst ins Spiel. Daher lohnt es sich immer, sich zu erkundigen, ob es in eurer Stadt einen Krisendienst gibt, dessen Nummer ihr speichern könnt. Ansonsten hilft immer auch die Nummer vom Sozialpsychiatrischen Dienst. Der ist ein Angebot vom Gesundheitsamt und ist wochentags immer von 8 bis 16 Uhr tätig. Beide Dienste sind kostenlos.
Vielleicht wird euch die hilfesuchende Person fragen, ob ihr für sie anrufen könnt, oder ihr bietet es von vornherein an. Dann wird euch über das Telefon gesagt, wie ihr weitermachen könnt. Vielleicht übernimmt der Krisendienst, vielleicht kommt er sogar selbst zu dem Ort, an dem sich die Person befindet.
Vertrautheit könnt ihr mit den Menschen aufbauen, indem ihr immer respektvoll mit der hilflosen Person umgeht. „Wenn jemand verwirrt ist, wirkt die Welt bedrohlicher“, sagt Angela Hofmeister. Sie rät: Auf keinen Fall die Person anfassen. Lieber: „Freundliche, kurze Sätze. Weil alles andere nicht mehr aufgenommen werden kann. Und vielleicht auch mal eine klare Ansage wie: ‚Ich rufe jetzt den Krisendienst für Sie an. Setzen sie sich bitte hierhin.“
Jeder Mensch hat das Recht, sich zu verhalten, wie es ihr oder ihm beliebt
Und bei den Menschen, die sehr auffällig wirken? Die nicht ruhig und traurig in der Ecke sitzen? „Erst einmal muss man davon ausgehen: Jeder Mensch hat das Recht, sich zu verhalten, wie immer es ihr oder ihm beliebt“, sagt Hofmeister. „Schräg zu wirken. Am Bahnsteig brüllen. Das dürfen die.“ Wenn ihr euch aber unsicher fühlt und nicht einschätzen könnt, ob jemand bedrohlich ist oder nicht, dann könnt ihr auch von euch aus den Krisendienst oder den Sozialpsychiatrischen Dienst anrufen und die Situation schildern.
Akuter Handlungsbedarf besteht dann, wenn Menschen sich selbst oder andere gefährden. Wenn sie zum Beispiel aggressiv werden oder auf der Straße stehen und den Verkehr regeln möchte. Hier empfiehlt Hofmeister, sich der Person nicht zu nähern, sondern die Polizei zu rufen. Alternativ geht auch die Feuerwehr, „gerade, wenn jemand desorientiert und hilflos wirkt“, sagt Angela Hofmeister. Am Telefon solltet ihr dann genau beschreiben, dass sich jemand gerade selbst gefährdet. Denn so eine Situation erfordert einen Notdienst, der schnell da sein kann.
Das sagen die KR-Mitglieder
Die KR-Mitglieder, die an meiner Umfrage teilgenommen haben, haben verschiedene Wege gefunden, um sich auf Notfälle vorzubereiten. Es gibt dabei nicht nur Erste-Hilfe-Kurse und Telefonnummern, sondern auch Methoden für subtilere Interventionen. Nina zum Beispiel sagt: „Ich habe einen Kurs für Kommunikation in Gewaltsituationen gemacht. Der war wirklich super.“
Robert hat eine Ausbildung beim Rettungsdienst gemacht. Dort hat er gelernt: „Vorbereitung und Übung sind ein ganz wichtiger Teil, um in unvorhersehbaren Situationen etwas tun zu können. Manchmal gehe ich Szenarien im Kopf durch und überlege, was ich tun würde.“ Zu Christian meint er: „Ich glaube, er ist schon auf einem guten Weg. Sich diese Gedanken zu machen, hilft vielleicht beim nächsten Mal, die Sicherheit zu finden und einfach hinzugehen. Ich finde es auch okay, sich mit der Situation noch einen Moment zu nehmen, um Mut zu sammeln.“
Claudia hat noch ein paar sehr praktische Maßnahmen getroffen, um immer bereit zu sein: „Ich bin Notfallseelsorgerin und für Krisensituationen ausgebildet. Im Alltag habe ich stets dabei: Traubenzucker (für Unterzuckerte), Taschentücher (um jemand Weinendem eines zu reichen), wichtige Telefonnummern, ein für Unfallsituationen ausgestattetes Auto, aufgeladenes Smartphone und die Grundbereitschaft, mich in meiner Tagesplanung von einer Notsituation unterbrechen zu lassen.“
Es gibt viele Möglichkeiten, sich auf Notfälle vorzubereiten. Wichtig ist, und da sind sich David Josuttis, Angela Hofmeister und die KR-Mitglieder einig: Hilfe anbieten oder die 112 anrufen, sind immer besser, als nichts zu machen. Falsch machen könnt ihr nichts.
Herzlichen Dank an Christian und alle KR-Leser:innen, die sich beteiligt haben: Katja, Carsten, Birgit, Stephan, Anne, Manuela, Astrid, Frank, Katrin, Beeke, Johannes, Su, Maraike, Annabelle, Anna, Jonathan, Daniel, Coletta, Nils, Robert, Robert, Jan, Nicola, Nina, Konrad, Christel, Volker, Jasmin, Dagmar, Rainer, Jens, Nina, Ioanna, Anja, Henderik, Bea, Doris, Tobias, Stefan, Conny, Barbara, Claudia, Conny, Leander, Katrin, Anna, Sonja, Anna, Martin, Elke, Tom, Lily, Gerti, Sabine, Christina, Bernd, Daniel, Sally, Bernd, Bianka, Susanna, Ilka, Thomas, Günter, Sabine, Andrea, Martin, Corinna, Martin, Julia, Günter, Julia, Alexandra, Nina, Isabel, Claudia, Frank, Claudia, Christina, Aycan, Emilia, Sandra, Lilian, Bettina, Tom, Andreas, Barbara, Peter, Wibke, Lars, Thorsten, Carlo, Falk, Christian, Julius, Ben, Johanna, Lisa, Ute, Birka
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert.