Ich war gerade im Auto auf dem Rückweg von der Arbeit, als mein Vater mich anrief: „Ich kenne mich nicht aus, ich weiß nicht, wo ich hingehen soll“, sagte er. Es war 2016, mein Vater war zu Besuch bei mir in Braunschweig und hatte einen Spaziergang machen wollen. In den zwei Tagen davor hatte er dafür eine Skizze benutzt, auf der ich den Weg von meiner Wohnung zur Fußgängerzone beschrieben hatte. An diesem Tag verlief er sich. „Beschreib mir, wie es um dich herum aussieht, und ich komme zu dir“, sagte ich. Als ich meinen Vater fand, stand er an einer Straße und hielt sich an einem Verkehrsschild fest. Er war ganz wackelig auf den Beinen. Ich wusste, dass mein Vater an Demenz erkrankt war, die Diagnose hatte er sechs Jahre vorher bekommen. Bis dahin hatte er noch selbstständig leben können. Auch sein guter Orientierungssinn war ihm geblieben. Bis jetzt.
„Ich fahr nirgendwo mehr hin, das war es jetzt“, sagte mein Vater ein paar Tage später. Er war sichtlich traurig, dass er jetzt auch nicht mehr alleine reisen konnte. Aber uns beiden war an diesem Tag klar, dass das vorbei war.
Ich wollte die Zeit nicht verpassen, in der mein Vater mich noch erkennt
Eigentlich hatte ich mir nach Jahren in der IT-Abteilung bei Volkswagen (VW) ein Sabbatical nehmen wollen, um nach Australien zu reisen. Nach dem Besuch meines Vaters wurde ich unsicher.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon viel über Demenz gelesen und wusste, dass die Erinnerung von Demenzkranken sich plötzlich dramatisch verschlechtern kann. Ich dachte: Wenn ich jetzt reise, ist das Risiko sehr groß, dass er mich nicht erkennt, wenn ich wieder da bin. Mein Entschluss war klar: Ich muss jetzt Zeit mit meinem Vater verbringen. Reisen kann ich auch dann noch, wenn die Demenz so weit fortgeschritten ist, dass er mich nicht mehr erkennt.
Das ist vier Jahre her, mein Vater ist jetzt 78 Jahre alt. Anfangs hätte ich nicht gedacht, dass ich mir so lange freinehmen würde, um bei meinem Vater zu sein. Das Sabbatical-Modell von VW lässt zu, dass ich jederzeit in meinen alten Job zurückgehen kann. Das ist eine große Absicherung. Ein Gehalt bekomme ich aber nicht. Im ersten Jahr habe ich noch Arbeitslosengeld erhalten. Inzwischen lebe ich von meinem Erspartem und meinen Anlagen an der Börse. Außerdem bekomme ich Pflegegeld, das reicht aber gerade so für meine Versicherungen. Ich sehe meine Situation trotzdem als Privileg. Klar, von meinem Ersparten hätte ich auch einen neuen Mittelklassewagen kaufen können. Aber ich habe mir lieber Zeit mit meinem Vater gekauft.
Demenz ist eine chemische Störung der Hirnfunktion und läuft in drei Phasen ab. In Phase eins verliert man das Kurzzeitgedächtnis. In Phase zwei gehen ältere Erinnerungen verloren, also: Wo habe ich früher gewohnt? Wer war mein Lebenspartner? Die dritte Phase ist das, was man oft im Fernsehen sieht. Leute, die apathisch im Rollstuhl sitzen, sich nach innen zurückziehen.
Die Demenz verläuft bei meinem Vater atypisch. Das heißt, sie verschlimmert sich nur langsam. Er ist jetzt in Phase zwei. An Stanisław Lem erinnert er sich nicht mehr, das war früher sein Lieblingsautor. Und auch nicht an den Todestag meiner Mutter.
Mein Vater macht lieber Witze, als Fragen zu stellen
„Er wird ein bisschen tüddelig.“ Das sagte meine Mutter schon 2010 über meinen Vater. Er hat öfter mal den Schlüssel liegen gelassen oder beim Einkaufen Dinge vergessen. Dann fing er an, sich in Unterhaltungen zu wiederholen. Meine Mutter ist mit ihm ins Krankenhaus gegangen, um ihn testen zu lassen. Dort bekam er die Diagnose: Demenz. Er war 67 Jahre alt. Die Ärzt:innen sagten ihm, dass er ab sofort regelmäßig Medikamente nehmen muss.
In schwierigen Situationen reagiere ich sehr lösungsorientiert. Als meine Mutter mich anrief und von der Diagnose erzählte, fragte ich, wie ich helfen konnte. Erstmal aber übernahm meine Mutter alles. Sie war früher Kinderkrankenschwester und hat lange als Altenpflegerin gearbeitet. Sie versorgte meinen Vater hingebungsvoll, achtete auf seine gesunde Ernährung, und kaufte ihm Übungshefte für Senioren, die logisches Denken, lesen und rechnen trainierten. Mein Vater hatte wirklich Glück mit meiner Mutter.
Ich weiß nicht genau, wie mein Vater sich mit der Diagnose gefühlt hat. Er hat alles mitgemacht, aber nie Fragen gestellt. Vielleicht hatte er Angst vor der Antwort. Lieber machte er Witze. Den Neurologen nannte er immer „Knitterhemd“, weil der bei ihrem ersten Gespräch ein ungebügeltes Hemd angehabt hatte. Das Knitterhemd verschrieb ihm früh die Antidementiva, die er damals noch schwach dosiert nehmen musste. Inzwischen nimmt er von allen die Höchstdosis.
Beim Knitterhemd musste mein Vater bei seinen regelmäßigen Terminen auch immer Uhren aufmalen und sagen, in welchem Bundesland und in welcher Stadt er lebte. Am Anfang hat es meinen Vater verwirrt, dass er derart einfache Aufgaben lösen sollte. „Was will der denn?“, fragte er dann.
Heute, zehn Jahre später, erinnert er sich daran, dass er die Fragen doof fand. Aber er merkt auch, dass die Antworten mittlerweile schwierig für ihn geworden sind.
Nur zwei Jahre nach seiner Demenz-Diagnose starb meine Mutter plötzlich an einem Glioblastom, das ist ein Hirntumor. Von der Diagnose bis zur Beerdigung dauerte es nur drei Monate. Meine Schwester, mein Vater und ich standen auf der Intensivstation und haben uns zu dritt umarmt und geweint. Ihr Tod hat meinen Vater wirklich sehr hart getroffen. Er war Pfarrer von Beruf, wenn seine Religion den Suizid nicht untersagen würde, dann wäre er wahrscheinlich einfach meiner Mutter hinterher gegangen. Sie kannten einander über 50 Jahre.
Durch den Tod meiner Mutter sind mein Vater und ich uns näher gekommen. Vorher war ich nur zu den üblichen Feiertagen bei meinen Eltern und habe mal geholfen, wenn sie sich ein neues Auto kaufen wollten. Ansonsten haben wir parallele Leben geführt. Auf einmal war mein Vater viel verletzlicher und emotionaler. Er brauchte mich.
Ich versuche, sein Leben zu vereinfachen
Ich sage ganz bewusst, dass ich meinen Vater betreue und nicht pflege. Menschen, die eine echte Pflege machen, haben einen ganz anderen mentalen und zeitlichen Aufwand. Ich bin 20 bis 40 Stunden in der Woche bei ihm und kümmere mich um alles, was sein Leben einfacher macht. Ich mache seinen Papierkram, kümmere mich um die Krankenkasse, gehe mit ihm zum Arzt und bin da, wenn Handwerker:innen kommen. Bei Demenzkranken ist es außerdem wichtig, das Angebot zu reduzieren, denn es fällt ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen. Also sortieren wir regelmäßig zusammen die Wohnung aus. Die Hälfte seiner Bücher haben wir schon in den Sozialladen gegeben. Außerdem habe ich alle seine Handtücher durch zwei Sätze in starken Farben ersetzt, auf denen steht, wofür er sie benutzen soll. Auf den einen steht „Abtrocknen OBEN herum“ und auf den anderen „Abtrocknen UNTEN herum“.
Technikaffinität liegt bei uns in der Familie, und so konnte ich meinen Vater noch bei Youtube anlernen. Ganze Filme kann er nicht mehr gucken. Er schaut immer Musikvideos, hat mit Helene Fischer und Elvis angefangen. Inzwischen hat er auch K-Pop entdeckt. Alles, was einen guten Beat hat, begeistert ihn. Er macht immer noch gerne Scherze und liebt Reime. Wir haben es wirklich schön miteinander. Wenn wir spazieren gehen, sagen wir manchmal „Der Werwolf“ von Christian Morgenstern zusammen auf, jeder immer eine Zeile. In solchen Momenten fühlt mein Paps sich kompetent. Das passiert nicht mehr so oft. Er war ein sehr belesener Mann, mittlerweile vergisst er die Bedeutung vieler Wörter. Letztens fragte er mich, was „validiert“ bedeutet.
An die Körperpflege musste ich mich gewöhnen
Mich um seinen Körper zu kümmern ist eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste. Inzwischen schneide ich ihm seine Bruce-Willis-Frisur, weil er wegen Corona nicht mehr zum Friseur kann. Das wäre mir vor zwei Jahren noch schwergefallen.
Um ihn angemessen betreuen zu können, habe ich zwei Weiterbildungen für pflegende Angehörige bei der Krankenversicherung gemacht. Und ich lese viel über Demenz. Hätte ich Kinder, könnte ich mich sicher nicht so intensiv um meinen Vater kümmern. Daher ist es fast mein Glück, dass ich mich nie für Kinder und klassische Familienmodelle entschieden habe.
Bei meinen Weiterbildungen war mein Vater immer der leichteste Fall. Alle anderen hatten es schwerer mit ihren demenzkranken Angehörigen. Aus vielen Gründen: Geld ist ein Problem, aber natürlich auch Zeit und Bildung. Nicht jeder kann sich einfach mal ein paar Bücher über Demenz kaufen und durcharbeiten. Die dementen Angehörigen der anderen hatten außerdem wirklich schwierige Verhaltensmuster. Sie waren aggressiv oder hatten Verfolgungswahn, liefen weg und versteckten Dinge. Solche Menschen zeitlich und emotional zu betreuen, ist ein riesiger Aufwand.
Viele können sich die Pflege auch beruflich nicht leisten. Für gewöhnlich bleibt das an den weiblichen Familienmitgliedern hängen. Da pflegst du zehn Jahre lang, hast in der Zeit kein Geld verdient und kriegst auch noch eine schlechtere Rente. Gesellschaftspolitisch muss sich da noch Einiges ändern, die Kassen möchten ja, dass Angehörige pflegen. Denn es ist preiswerter für die Kasse, sie zahlt dann nur das halbe Pflegegeld, im Vergleich zur professionellen Pflege.
Ich habe Glück mit meinem Vater. Er ist sehr gutmütig und immer noch sehr selbstständig. Er kann auch mal einen Tag allein sein. Dann steht er von selbst auf, wäscht und rasiert sich, holt die Zeitung und macht sich Frühstück. Das Frühstück muss immer exakt gleich sein, jeden Morgen: ein Vollkorntoast mit Honig und ein Vollkorntoast mit Sauerkirschmarmelade. Er liest auch noch die Zeitung, nur vergisst er den Inhalt gleich wieder. Vor der Pandemie ist mein Vater oft nach dem Mittagsschlaf auf der Hauptstraße spazieren gegangen, hat sich auf eine Bank gesetzt oder hat eingekauft. Er führt keine Liste, sondern kauft ein, was gerade so gebraucht wird, Marmelade, Käse oder Brot. Manchmal mehrmals am Tag. „Ich muss doch was zu tun haben“, meint er. Bevor er sich abends schlafen legt, geht er jeden Abend in das Zimmer meiner Mutter, guckt ihr Bild an und denkt fünf Minuten lang an sie.
„Du passt auf mich auf“
Schwer wird es, wenn ich meinem Vater Dinge wieder und wieder erkläre, und ich merke, dass er sie verstehen will, es aber einfach nicht klappt. Das stresst ihn. Und der Stress führt dazu, dass er plötzlich sein Telefon oder seine Fernbedienung nicht mehr benutzen kann. Manchmal läuft er in solchen Momenten sogar schlechter. Oft sagt er dann: „Du passt auf mich auf“. Ich antworte: „Klar, Paps“. Und sehe, wie sehr er erleichtert ist.
Ich stelle mir das Leben mit Demenz so vor: Du bist als Tourist zum ersten Mal in Tokio und steigst an der falschen Haltestelle aus. Du kannst kein Japanisch und es gibt kein einziges Straßenschild auf Englisch. Dieses Gefühl der Verlorenheit kann Demenzkranke überall ereilen, auch in vertrauten Umgebungen. Sie kaufen sich in der Eisdiele ein Eis, setzen sich auf eine Bank – und plötzlich sind sie innerlich in Tokio.
Manchmal merkt er, dass er abbaut. Dann sagt er: „Das haste eben schon gesagt, oder? Mann, bin ich hinüber. Da siehste mal, was dein Vater für ein alter Knacker ist!“ Ich sage dann immer: „Macht ja nichts, Paps, das ist Gehirnchemie, dafür kannst du nichts. Ich erklär es dir gern auch noch drei Mal.“
Hin und wieder fragt mein Vater, ob ich nicht wieder arbeiten muss. Dann antworte ich, dass ich vielleicht irgendwann wieder in Teilzeit arbeiten werde, aber trotzdem immer noch viel bei ihm sein werde. Wie es weitergeht, kann ich ihm auch nicht sagen. Es tut mir weh zu sehen, dass ihm die Zukunft Angst macht.
Es gibt ja drei mögliche Verläufe: Es bleibt alles so, wie es ist, und er kann mit Hilfe eines Pflegedienstes in dieser Wohnung bleiben. Oder seine geistige Leistung lässt so sehr nach, dass er nicht mehr alleine wohnen kann, weil er sich selbst oder andere gefährdet. Ja, oder er stirbt unerwartet, das kann ja immer passieren.
Mein Vater war ein sehr intellektueller Mann
Es ist klar, dass mein Vater immer mehr Pflege brauchen wird. Eine Vollpflege kann ich nicht leisten. Ich habe nicht das nötige Wissen, um zum Beispiel Wundliegen bei ihm zu vermeiden, falls er bettlägerig wird. Wenn es nicht anders geht, werde ich die Pflege in andere Hände geben. Ich würde das jetzt mit einem deutlich besseren Gewissen tun als früher. Ich bin dankbar, dass ich so lange Zeit hatte, mich darauf vorzubereiten, dass mein Vater mich irgendwann nicht mehr erkennen wird. Und dann ist es auch okay.
Ich werde meinen Vater aber sehr vermissen. Es macht mich jetzt schon sehr traurig zu sehen, dass der Mann, der mein Vater war, immer mehr verschwindet. Im Studium sprach er Hebräisch, Griechisch und Latein, später lernte er noch Niederländisch und Polnisch. Davon ist schon viel verloren gegangen. Trotzdem hat er immer noch neue Interessen: Er hat jetzt angefangen, Eulen zu sammeln, als Figuren, Karten, Kerzen und Plüschtiere. 343 Eulen hat er inzwischen. Die stehen im Bücherregal, wo früher seine Bücher waren.
Viele finden es krass, dass ich meinen Vater pflege. Es stimmt schon, Vorstand werde ich jetzt nicht mehr. Ich höre aber auch immer wieder, dass Leute sich von mir inspiriert gefühlt und sich auch eine Auszeit genommen haben, sei es für die Kinder, für die Eltern oder zum Reisen. Ich sehe mich als Utilitarist, mir geht es um Glücksmaximierung. Wenn ich irgendwann mal tot überm Zaun hänge, geht es nach ein paar Tagen im Büro einfach weiter. Für meine Familie und meine Freunde aber bin ich ein Mensch, nicht ein Arbeitnehmer.
*Der Name des Protagonisten wurde geändert, ist der Autorin aber bekannt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert