Nach jedem Abpfiff begann für Benjamin Näßler ein Ritual. Im verschwitzten Trikot bemühte er sich, einer der ersten unter der Dusche zu sein, seifte sich mit Duschgel ein, spülte den Schaum ab, mit schnellen Handgriffen. Er achtete darauf, nie der Letzte unter der Dusche zu sein. Nach dem Duschen blieb er manchmal noch auf ein oder zwei Bier, niemals mehr.
Benjamin Näßler wollte keinen Verdacht erzeugen. Er wollte, wie er sagt, einfach normal wirken.
Als Näßler 13 Jahre später zu Mr. Gay Germany gewählt wird, gratuliert ihm der Vereinsvorsitzende seines damaligen Fußballvereins. Er schreibt auch: „Von deiner sexuellen Neigung hatten wir damals keine Ahnung.“ Benjamin Näßlers Taktik war aufgegangen: Niemand in seinem Dorfverein in Schwaben hatte ihn für schwul gehalten.
Bis er 17 war, hatte Benjamin Näßler eine Freundin. Dann kam ihm zum ersten Mal der Gedanke: „Vielleicht stehe ich auf Männer.“ Auch Thomas Hitzlsperger führte acht Jahre lang eine Beziehung mit einer Frau. Erst als er alleine wohnte, dämmerte ihm langsam: „Ich habe Gefühle für Männer.“ So erzählte er es in dieser Dokumentation der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Der Nationalspieler outete sich nach seinem Karriereende. Das war 2014, vor sieben Jahren. Viele dachten damals, dass sich nun auch andere trauen würden. Dass das endlich normal sei: Offen schwul zu sein und Fußballer.
Seit 2017 können homosexuelle Paare in Deutschland heiraten. 2018 machte ein schwuler Mann beim Rennen um den Vorsitz der größten konservativen Partei Deutschlands den dritten Platz. Dabei ging es um Jens Spahns Politik, nicht um seine Sexualität. Aber im Männerfußball scheint die Zeit stehen geblieben: Thomas Hitzlsperger ist bis heute der einzige offen schwule Fußballprofi oder Ex-Profi in Deutschland. Und er outete sich erst, nachdem er seine Karriere beendet hatte.
Was ist mit dem Männerfußball los? Warum ist Homosexualität im Männerfußball immer noch ein solches Tabu? Liegt es an den Fans? An den Sponsoren? Oder an der Dynamik eines Männerteams? Und was könnte sich der Männerfußball vom Frauenfußball abschauen, in dem lesbische Spielerinnen akzeptierter sind?
Um diese Fragen zu klären, habe ich mit einer Fanforscherin, einer Soziologin, einem Psychologen, einem Fußballjournalisten, dem Vorsitzenden eines schwulen Fanclubs, dem Fanbeauftragten des BVB und zwei schwulen Fußballern gesprochen. Außerdem haben mir in einer Umfrage über 200 Krautreporter-Leser:innen von ihren Erfahrungen in Fußballvereinen und Stadien berichtet.
1. Kapitel: Das Geschäft
Anfang April hatte Zsolt Petry, Torwarttrainer von Hertha BSC, in einem Interview mit einer ungarischen Tageszeitung kritisiert, dass sich der Torwart von RB Leipzig, Péter Gulácsi, für die Gleichberechtigung homosexueller Paare in Ungarn einsetze. Er verstehe nicht, was Gulácsi dazu bewogen habe, „sich für Homosexuelle, Transvestiten und Menschen sonstiger geschlechtlicher Identität einzusetzen.“ Hertha BSC entließ Petry.
Im Jahr 2021 ist also klar, dass bestimmte Dinge nicht mehr sagbar sind in der Öffentlichkeit, dass sie dem Image eines Vereins nicht guttun. Das war vor einigen Jahren noch anders: 2004 äußerte sich zum Beispiel Otto Barić, der damalige Trainer der kroatischen Nationalmannschaft, homofeindlich. Er sagte: „Ich weiß, dass es in meiner Mannschaft keine Homosexuellen gibt. Ich erkenne einen Schwulen innerhalb von zehn Minuten, und ich möchte sie nicht in meinem Team haben.“ An Jobangeboten mangelte es ihm dennoch nicht: Nach dieser Aussage arbeitete er als Berater bei FK Austria Wien und als Sportdirektor bei Dinamo Zagreb.
Nur, weil man mit solchen Sprüchen heute nicht mehr durchkommt, bedeutet das aber nicht, dass das Fußballgeschäft jetzt seine Moral entdeckt hat. In den Vorständen und Pressestellen ist nur allen bewusst, dass sich Regenbogenfahnen mittlerweile besser verkaufen als homofeindliche Stammtischsprüche. Der Sportjournalist Ronny Blaschke sagt: „Das ist eine Milliardenindustrie, die sich danach richtet, was gesellschaftlich angesehen und somit rentabel ist.“ Mit Moral und Idealismus habe das wenig zu tun.
Sponsorenlogik ist komplizierter. Es gelten die Regeln des Marktes. Ein Spieler, der sich outet, ist ein potenzielles Risiko für den Sponsor. Wieso? Mit einem Outing positioniert sich ein Spieler, das schränkt seine Fanbase und seine Zielgruppe ein. Produkte, die ein geouteter Fußballer verkauft, erreichen homofeindliche Fans nicht mehr.
Springen wir 30 Jahre zurück zu einem Vorfall, bei dem es nicht um Homofeindlichkeit ging, der aber die Marktlogik verdeutlicht: 1990 rutschte dem Basketballprofi und Nike-Werbeidol Michael Jordan heraus: „Republicans buy sneakers, too“, auch Republikaner kaufen Sneaker. Jordan, der sich in der Öffentichkeit immer unpolitisch gab, wurde damals gefragt, ob er sich bei den Gouverneurswahlen in North Carolina nicht gegen den republikanischen Kandidaten Jesse Helms stellen wollte, der gegen die Gleichberechtigung Schwarzer US-Bürger:innen war. Der Basketballprofi wollte das nicht und traf diese Aussage. Seit dreißig Jahren versucht er nun, seine Worte zu relativieren, er hätte sie im Witz dahingesagt, gedankenlos. Selbst wenn das wahr ist – in jedem Witz steckt ein Funke Wahrheit: die Angst, eine klare Positionierung könnte Käufer:innen abschrecken.
2. Kapitel: Die Fans
Fans haben Macht: Sie kaufen Tickets und Trikots, stellen Forderungen an ihren Verein und sie prägen die Atmosphäre im Stadion. Für viele von ihnen ist das Stadion wie ein zweites Zuhause. Für die Spieler kann es ein Zuhause sein oder die Hölle, wo sie den Pfiffen und Sprüchen Tausender ausgesetzt sind.
Hier ein paar Eindrücke aus den Stadien in Deutschland. Sie stammen aus meiner Umfrage.
Steffen, 40, ist Fan von Eintracht Frankfurt und schwul. Er beschreibt, wie er das erste Mal mit seinem Partner bei einem Auswärtsspiel der Eintracht in Hamburg gewesen sei:
„Wir haben uns nicht getraut, unsere Hände zu halten oder uns zu küssen, das war einfach nicht möglich oder denkbar. Es war eine Feindseligkeit, eine Unruhe zu spüren; kein Wohl- oder Sicherfühlen. Die folgenden Auswärtsspiele der Eintracht in Hamburg habe ich mir dann alleine angesehen.“
Annie ist 24 und Fan von Union Berlin. Sie schreibt:
„Es gibt im Stadion Idioten, die wollen einen gegnerischen Spieler beleidigen, weil der böse gefoult hat, ihre gewählte Beleidigung ist ‚Schwuchtel‘. Glücklicherweise gibt‘s dann auch die, die ‚Halt die Fresse!‘ zu dem anderen Fan brüllen.“
Mario ist 39 und hat dem Fußball den Rücken gekehrt, weil ihn das typisch männliche Gehabe genervt hat:
„Im Männerfußball leben alte Klischees und Ängste weiter, die gesamtgesellschaftlich überwunden scheinen. Auf dem Platz und hinter den Kulissen sind Männer unter sich. Und auch, wenn es im Stadion insgesamt etwas anders aussieht, bestehen auch die Fanclubs und insbesondere die Ultras in überwältigender Mehrheit aus Männern.“
Ich habe noch viele weitere ähnliche Eindrücke zugeschickt bekommen. Sie zeichnen ein Bild, das im Vordergrund Testosteron-Junkies zeigt, die trommelnd und halbnackt ihre Männlichkeit unter Beweis stellen. Nur im Hintergrund gibt es diejenigen, die mit „Halt die Fresse!“ auf homofeindliche oder andere diskriminierende Sprüche reagieren. In jedem Fall aber: rauer Ton, raue Typen.
Aber ist dieses Bild noch realistisch? Ich rufe Rolf Pohl an, einen Sozialpsychologen und Männlichkeitsforscher. Er erklärt mir die dominierende Fankultur so: „Wir schwitzen zusammen mit nacktem Oberkörper, vorne steht der Einpeitscher mit seinem Megafon, auch halbnackt.“ Pohl sagt: „Dabei entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, ein Gefühl von „Wir sind ein Körper!“ Dieser Körper sei aber kein inklusiver Körper, „dieser Körper ist männlich und heterosexuell und schließt alles Weibliche und damit auch Schwule aus.“
Rolf Pohl ist deshalb der Überzeugung, dass queere Fanclubs noch immer ein Nischendasein führen.
Uwe Zühlsdorf ist Vorsitzender der Hertha-Junxx, des ersten offiziellen schwul-lesbischen Fanclubs in Deutschland.
„Herr Zühlsdorf, führen Sie ein Nischendasein?“
„Ja, auf jeden Fall“, antwortete er. „Wir sind gerade mal zehn Leute in unserem Fanclub.“
2001 gründeten sich die Hertha-Junxx. Seitdem hängt bei jedem Spiel im Olympiastadion neben den Bannern der anderen Fanclubs ein zwölf Meter langes Banner, auf dem zu lesen ist: „Hertha-Fan und schwul? Dit jeht!“ Der Verein empfing sie mit offenen Armen, im Stadion mussten sie sich aber immer wieder Sprüche gefallen lassen. „Mittlerweile haben die anderen sich an uns gewöhnt, wir sitzen ja immer am gleichen Platz“, meint Zühlsdorf. „Aber nein, küssen oder Händchen halten würde ich im Stadion nicht – das ist dann schon fast eine Provokation.“
Es zeigen sich zarte Fortschritte auf verschiedenen Ebenen: Es gibt mittlerweile schwul-lesbische Fanclubs, Vereine wie der BVB haben mit Arbeit gegen Rechtsextremismus begonnen und mittlerweile auch andere Diskriminierungsformen auf dem Schirm und es gibt einen Drei-Stufen-Plan der FIFA. Der gibt Richtlinien für Mitgliedsverbände, Ligen, Klubs und Disziplinarorgane vor, in welchen Fällen Spiele unterbrochen oder komplett abgebrochen werden sollten. Der Plan ist vor allem für rassistische Fangesänge gedacht, soll jedoch auch „alle anderen Formen der Diskriminierung“ mitdenken. Im letzten Jahr wurde dieser Plan ausgeweitet auf „personifizierte Gewaltandrohungen“, wie zum Beispiel gegen Dietmar Hopp Anfang 2020. Wenn der Verein scheitert, Zuschauerfehlverhalten zu unterbinden, muss der Verein Strafe zahlen, erklärt der Deutsche Fußballbund .
Bei allem Fortschritt – der Sportjournalist Ronny Blaschke sagt: „Es gibt eine männlichkeitsbetonte Struktur im Fußball, die das Weibliche als das Schwache darstellt.“ Medien tragen dazu bei, ein bestimmtes Bild von Fußballern zu verbreiten: männlich, stark, kämpferisch. Das hat natürlich einen Einfluss auf kleine Jungs, die so groß und stark werden wollen wie Robert Lewandowski oder Cristiano Ronaldo – mit ihren schicken Autos, großen Häusern und schönen Frauen.
Homofeindlichkeit ist aber nicht nur ein Problem in den oberen Ligen – dort, wo Geld verdient wird, wo die Medien hinschauen und über die neue Freundin von Mats Hummels berichten. Es ist auch ein Problem in den Hobbyligen, in den Dorfvereinen und auf den Bolzplätzen ums Eck – warum?
3. Kapitel: Die Spieler
Zu meiner Umfrage haben mir viele Leser:innen Geschichten geschickt, die sie hinter den Kulissen erlebt haben: in der Kabine, in den Mannschaften, auf dem Platz.
Da ist das Beispiel von Tobias. Tobias ist 28, seitdem er sechs ist, spielt er Fußball. Sprüche wie: „Spiel nicht so schwul“, „Geh mal in den Zweikampf wie ein echter Mann“ oder „Wir brauchen jetzt Männerfußball“, seien auf dem Platz regelmäßig gefallen, berichtet er in der Umfrage.
Ein 39-jähriger Spieler, der bis vor vier Jahren mit Fußball Geld verdiente, schreibt: Schwul wurde mit „weich“ oder „schwach“ gleichgesetzt. Ein „schwuler“ Ball war ein schlecht gespielter oder zu locker gespielter Ball. Schwul hingehen zum Kopfball, bedeutete mit zu wenig Körper zum Kopfballzweikampf gehen. „Schwul“ wurde auch viel unbewusst benutzt, wie „scheiß“ oder „kacke“ oder ähnliches.
Mario ist 39 und hat mit Fußball aufgehört, weil ihn das Männlichkeitsgetue genervt hat. Er schreibt (und es lohnt sich bis zum Ende zu lesen):
„Ich kenne viele Beispiele von Männern, die im Prinzip nichts gegen Homosexualität haben oder sich zum Beispiel zumindest nicht offen gegen die Ehe für Alle aussprechen würden. Ich glaube, das liegt daran, dass es heutzutage als gesellschaftlicher Konsens erscheint, für die Ehe für alle zu sein.
Trotzdem geben sich diese Männer vor allem in Gegenwart von Geschlechtsgenossen große Mühe, anderen und sich selbst ihre Männlichkeit und ihre Heterosexualität bei jeder Gelegenheit zu beweisen und zu unterstreichen. Dazu gehört männlich konnotiertes Verhalten wie Grillen, Bier (mit Alkohol!) trinken und schnell und riskant mit dem Auto zu fahren. Im Gespräch in Männerrunden gehört dazu die positive Bewertung von Frauen und deren Körpern genauso wie die mehr oder weniger subtile Abgrenzung von Männern, die nicht männlich genug sind. In meiner Umgebung wird dabei immerhin seltener explizit über Schwule gesprochen, aber Begriffe wie ‚Pussy‘ oder ‚Weichei‘ meinen dasselbe.“
Nicht Schwulsein ist also das Problem, sondern das Verständnis von Männlichkeit im Fußball. Dieses traditionelle Männlichkeitsbild beruht unter anderem auf der Abgrenzung zu Frauen. Und da schwule Männer oft als weiblich angesehen werden, konsequenterweise auch auf der Ausgrenzung von schwulen Männern. Deswegen müssen Fußballer alles dransetzen, nicht als schwul zu gelten.
Warum das so ist? Fußball ist sehr körperlich: Man schwitzt zusammen, rollt sich beim Jubeln übereinander, duscht gemeinsam. Die Spieler müssen ihre Heterosexualität hier besonders beweisen, müssen die extreme Körperlichkeit von Sexualität abgrenzen. Der Psychologe Rolf Pohl erklärt: „Dahinter steckt die Angst, die eigenen schwulen Anteile doch zu entdecken.“ Und das ist verpönt, weil alles, was als weiblich angesehen wird, verpönt ist – wie zart, weich und empfindsam auf dem Platz zu sein.
So etwas schrieb mir auch Lars auf meine Umfrage. Lars ist 23, heterosexuell, und erzählt davon, wie er sich im Verein als besonders männlich darstellte, um nicht mit „schwulen“ Attributen in Verbindung gebracht zu werden. Er schreibt: „Ich wurde von einem Teamkollegen in der Kabine gefragt, ob ich schwul sei, weil ich mit überschlagenen Beinen gesessen habe. Anschließend wurde mit weiteren Teamkollegen die Diskussion initiiert, ob ‚meine Eier‘ davon nicht wehtun müssten. Natürlich meinten alle Angesprochenen, dass ihre ‚Eier‘ davon schmerzten. Wörter wie ‚Memme‘, ‚Weichei‘ oder ‚Schwuppe‘ über andere haben mich phasenweise dazu animiert, überhart in Zweikämpfe zu gehen oder möglichst laut und männlich zu schreien, obwohl ich zu dem Zeitpunkt einfach biologisch noch nicht so weit entwickelt war.“
4. Kapitel: Frauen, die Fußball spielen
Beim Fußball werden Tugenden verlangt, die als traditionell männlich gelten: laufen, kämpfen, einstecken, hart sein. Diese sozialen Traditionen haben sich auch in den Vereins- und Fanstrukturen niedergeschlagen, weswegen man in Vorständen, Trainerpositionen und in Stadien traditionell wenig Frauen findet – generell wenig Menschen, die nicht dem traditionellen Männlichkeitsbild entsprechen. Im Fußball sei das Bild verbreitet, dass „da die richtigen Männer noch unter sich seien“, erklärt die Soziologin Nina Degele. Degele hat die Studie „Hetero, weiß und männlich? Fußball ist mehr!“ herausgebracht.
Damit erklärt Degele auch, warum lesbische Fußballerinnen ein sehr viel geringeres Tabu darstellen als schwule Fußballer: Frauen im Fußball sind schon der Tabubruch. Sie haben eine Grenze überschritten, dadurch, dass sie in diesen männlichen Raum eingedrungen sind und sind somit eh schon „anders“. Fußballspielende Frauen werden gerne als „Kampflesben“ bezeichnet, was die Männlichkeit dieser Frauen betonen soll – denn kämpfen, das tun nur echte Männer.
Ein wunderbares Beispiel für die negative Darstellung von Weiblichkeit ist ein Zitat des ehemaligen Präsidenten vom FC Bayern, Uli Hoeneß. Nachdem der Schwede Zlatan Ibrahimović den damaligen Trainer der Bayern, Pep Guardiola, beleidigt hatte, sagte Hoeneß: „Ich halte Ibrahimović für eine gekränkte Primadonna, die den Weggang von Barcelona nicht verkraftet hat.“ Primadonna beschreibt die Vorsängerin einer Oper. Hier setzt Hoeneß also gekränkt und weiblich gleich und suggeriert damit, Ibrahomović sei zu empfindlich für die Fußballwelt.
Fußballspielende Frauen müssen also auf dem Platz extrahart beweisen, dass sie nicht weiblich sind – sich selbst und den Zuschauer:innen. Sie dürfen keine Schwäche zeigen, nicht heulen, müssen zeigen, dass sie spielen wie „echte Männer“.
Andererseits haben homosexuelle Spielerinnen es leichter als ihre männlichen Kollegen. Denn im Fußball müssen Frauen keine stereotypen weiblichen Merkmale zeigen. Fußball kann insofern für Frauen sogar ein Freiraum sein, in dem sie nicht dem Standardweiblichkeitsbild entsprechen müssen.
Für Männer gibt es diesen Freiraum im Fußball in den meisten Fällen nicht. Ganz im Gegenteil: Rolf Pohl bezeichnet Fußball als die „Männlichkeitsschule der Nation“. Der Psychologe erklärt: „Fußball hat einen exklusiven, männerbündischen Charakter – das ist eine Arena der Männlichkeit, die auch viel mit der Herstellung von Männlichkeit zu tun hat, nicht nur mit dem Beweis dieser.“
Sport im Allgemeinen lädt jedoch zu einem Denken in heteronormativen Strukturen ein. Insbesondere im Mannschaftssport entsteht eine besondere soziale Situation, die auf Ausschluss und Abgrenzung beruht, und somit ein vereinfachtes Denken von „uns“ und den „anderen“ fördert. Damit ist Fußball nicht alleine – auch im Basketball, Volleyball oder im Hockey sind offen schwule Spieler die Ausnahme und immer einen Artikel wert.
In seiner Doktorarbeit zeigt der Anthropologe und Geschlechterforscher Stefan Heissenberger, dass der Fußballplatz durch starke Heteronormativität homofeindlich wird und das obwohl die einzelnen Spieler vielleicht gar nicht homofeindlich sind. Durch die allgegenwärtige Heteronormativiät wird aber die Möglichkeit undenkbar, selbst schwul zu sein oder einen schwulen Mitspieler zu haben.
Obwohl es vielleicht gar nicht so ein großes Problem wäre.
Wie Heissenberger das zeigt? Er befragte die einzelnen Spieler einer auf den ersten Blick heterosexuellen Männerfußballmannschaft, wie sie reagieren würden, wenn sich ein Mitspieler als schwul outen würde. Alle Spieler antworteten sinngemäß: „Für mich wäre das kein Problem, aber für die anderen, für die wäre es ein Problem.“
Die Spieler klopften also homofeindliche Sprüche, meinten die aber eigentlich gar nicht so. Letztendlich hätten sie gar kein Problem damit, wäre einer ihrer Kollegen schwul. Sie machten den Fußballplatz durch ihre Sprüche aber zu solch einem heteronormativen Raum, dass alle davon ausgehen, die anderen hätten ein Problem mit schwulen Männern. Und was soll erst der potenzielle homosexuelle Mitspieler denken?
Abgesehen von den schwulenfeindlichen Sprüchen wird über Schwulsein nicht gesprochen. Das sieht Heissenberger auch als Erklärung dafür, dass die Spieler der Mannschaft davon ausgehen, dass ihre Kollegen schwulenfeindlich sind, weil der einzige Anhaltspunkt doch die geklopften Sprüche sind. Der Anthropologe bringt es auf den Punkt: „Diese Kultur des Schweigens schränkt nicht nur das Sagbare, sondern auch das Vorstellbare ein.“
Benjamin Näßlers Geschichte verdeutlicht, wie schwer es ist, in solch einem heteronormativen Raum die eigene Homosexualität zu entdecken. Am Telefon erzählt er, wie schwer ihm sein Weg zu seiner Sexualität gefallen sei: Es sei ein jahrelanger Prozess mit Höhen und Tiefen gewesen.
Er überlegt kurz: „Naja, mit wenig Höhen und vielen Tiefen.“
Näßler brauchte eine Weile, um dieses komische Gefühl einzuordnen. Denn es war nicht einfach für ihn, anzuerkennen, dass er schwul war, dass er anders war als die anderen.
Dann musste er entscheiden: Was passiert jetzt mit Fußball? Am Telefon sagt er: „Das war kein Raum, in dem ich mich wohlfühlte.“ Es lag an den Machosprüchen auf dem Platz, in der Kabine und beim Saufen – an Sprüchen wie: „Absetzen, sonst gibt es schwule Kinder!“
„Den Leuten ist gar nicht bewusst, wie sie manche durch solche Sprüche verletzen oder kränken können“, erklärt er. „Die wissen gar nicht, wie sehr das eine Lebensweise einschränken kann“, sagt er noch etwas lauter.
5. Kapitel: Und jetzt?
Bereits im Jugendverein und in der Schule lernt man, dass „schwul“ ein Schimpfwort ist – dass schwul gleichzusetzen sei mit schwach und weich. Versucht man, im Erwachsenenalter gegen diese Prägung zu steuern, ist das viel zu spät. Deswegen müsse man im Jugendfußball ansetzen: in der Trainer:innen- und Schiedsrichter:innenausbildung beispielsweise. Das empfehlen Benjamin Näßler und auch Thomas Hitzlsperger. In dem Alter können Stereotype und Rollenbilder aufgebrochen werden oder sie entstehen erst gar nicht.
Außerdem wäre es gut, Scheinwerfer auf Positivbeispiele zu lenken. Zum Beispiel auf eine Bibiana Steinhaus, die die einzige weibliche Schiedsrichterin in der Ersten Männerbundesliga war. Solche Bilder können das Männlichkeitsbild im Fußball aufweichen.
Genauso muss man die strukturelle Ebene mitdenken. „Momentan hängt es zu sehr von dem Engagement Einzelner ab“, ob Homofeindlichkeit und andere Diskriminierungsformen angegangen werden würden, meint der ehemalige Fußballer Marcus Urban. Marcus Urban hatte die Fußballkarriere noch vor sich, als er in den 90er-Jahren aufhörte, weil er nicht länger verstecken wollte, dass er schwul ist. Heute arbeitet er als Berater für Diversität im Sport. Er kennt sich also aus. „Ist der eine Geschäftsführer weg, der sich einsetzte, ist das Thema oft vom Tisch“, sagt Urban mir am Telefon.
Thomas Hitzlsperger spricht davon, dass im Fußball immer noch zu wenig Diversität in den entscheidenden Positionen herrsche. Zu wenig Frauen in den Vorständen oder als Trainerinnen – wer kann sich schon an einen Schwarzen Cheftrainer in der Bundesliga erinnern?
Benjamin Näßler aka Mr. Gay Germany zeigt Jungs in Dorfvereinen heute, dass das geht: Schwul sein und Fußball spielen. Als ihm der Vereinsvorsitzende seines Jugendvereins zu seiner Wahl zu Mr. Gay Germany gratuliert, schreibt der auch: „Ich habe mit einigen deiner ehemaligen Kollegen über dich gesprochen: Ich denke, zusammengefasst würde ich die Reaktion mit Überraschung und Respekt beschreiben.“
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert