Ich hätte nicht gedacht, dass mein erstes Konzert nach einem Jahr Pandemie ausgerechnet ein klassisches sein würde. Normalerweise interessieren mich eher elektronische Musik, Rap, manchmal Pop. Aber dieses Konzert ist etwas Besonderes – weil es stattfindet. Trotz steigender Inzidenzzahlen im März 2021, ein Jahr nach Beginn der Pandemie. Ob Klassik oder Techno ist mir nach einem Jahr herzlich egal, Hauptsache Musik. Und das nicht in meinem Wohnzimmer, sondern mit 1000 Menschen in einem Konzertsaal.
Vor einer Woche saß ich also morgens um neun nervös vor meinem Laptop und drückte wieder und wieder auf den „Refresh“-Button. Der Server hing. Das kenne ich sonst nur von beliebten Technofestivals, diesmal geht es aber um Peter Tschaikowskys Romeo und Julia und Sergej Rachmaninows Sinfonie Nr. 2. Mein Herz schlug schneller, auch auf dem Smartphone hatte ich die Verkaufsseite der Berliner Philharmonie geöffnet. Dann plötzlich die Meldung auf meinem Bildschirm: „Sie haben ein Ticket.“ Ich hatte wahnsinniges Glück. Die Tickets waren nach vier Minuten ausverkauft.
Wir sind Versuchskaninchen für die Kultur
Am Tag vor dem Konzert telefoniere ich mit der Intendantin der Berliner Philharmonie. „Ein Experiment“, nennt Andrea Zietzschmann das Event. Es ist Teil des Pilotprojekts „Perspektive Kultur“, das der Berliner Senat ins Leben gerufen hat. Mit 20 Euro sind die Tickets sogar ungewöhnlich günstig für ein solches Konzert. 1000 Menschen in der Berliner Philharmonie spielen am Samstagabend Versuchskaninchen für die Kultur und für den Gesundheitsschutz. Alle mit einem tagesaktuellen negativen Schnelltest. „Die ganze Welt schaut nach Berlin“, sagt Zietzschmann. Sie fragt sich: Wird alles funktionieren? Ich frage mich: Wie wird es sein, mit 1000 Menschen in Saal zu sitzen? Macht ein Konzert mit Maske Spaß? Werden wir hemmungslos weinen, weil wir wieder zusammen etwas erleben dürfen?
Die Philharmonie hat für diesen Samstag auf ihr Hygienekonzept aus dem Herbst aufgebaut: Schachbrettanordnungen im Publikum, das heißt versetzt und immer ein Sitz Abstand zwischen den Zuschauer:innen. Außerdem Masken und gute Lüftungsanlagen. Die neue Herausforderung ist die Organisation der Tests. Es wurde extra eine Seite für die Buchungen der Testslots programmiert. Neue Fragen mussten geklärt werden: Was ist mit Datenschutz? Sind die Testergebnisse und Tickets fälschungssicher? Die Besucher:innen konnten sich in der Philharmonie selbst oder in einem der Partnerzentren testen lassen. Am Eingang müssen alle Konzertkarten, Personalausweis und einen tagesaktuellen negativen Test vorweisen.
„Ja, es ist ein riesengroßer Aufwand“, sagt mir Zietzschmann. „Aber wenn wir das häufiger machen, sind das irgendwann auch Prozesse, die sich einspielen und vielleicht fast alltäglich werden können.“ Seit Monaten spielen die Musiker:innen der Philharmonie nur für die Kameras. Morgen Abend wird es anders sein.
Schicke Menschen in Abendgarderobe und FFP2-Masken
Es ist Samstagabend, kurz vor sieben, ich stehe am Einlass der Philharmonie. Fast wäre ich zu spät gekommen. Wann musste ich das letzte Mal für etwas wirklich pünktlich sein? Eine Mitarbeiterin im dunkelblauen Blazer will mein negatives Testergebnis sehen, meinen Ausweis und mein personalisiertes Ticket, das ich auf dem Smartphone vorzeige. Kaum bin ich drinnen, ertönt der erste Gong. Die Menschen strömen Richtung Konzertsaal. Sie haben sich herausgeputzt für dieses besondere Event: lange Kleider, hohe Schuhe, Anzüge mit Fliegen. Alle tragen Maske, die meisten davon weiße FFP2. Viele ältere Gesichter sind zu sehen, aber ich bin längst nicht die einzige junge Besucherin. Auch ich habe mich schick gemacht und trage Lippenstift, den sieht man nur leider nicht unter der Maske. Mit meinem schwarzen Lackmantel, der dann doch mehr nach Techno als nach Klassik aussieht, fühle ich mich etwas fehl am Platz.
Das Kernpublikum der Philharmonie sei normalerweise um die 70, hatte mir die Intendantin erzählt. Aber Corona senkt hier den Altersdurchschnitt: Etwa 500 Menschen haben sich direkt in der Philharmonie testen lassen, sie waren durchschnittlich 50 Jahre alt. Ich steuere einen Herrn an, der mir wie der Älteste unter den Besucher:innen vorkommt. Zumindest hat er die meisten Falten im Gesicht. Ich frage ihn, wie er das mit den Tickets hinbekommen hat. Er schmunzelt und sagt, er sei der Anwalt des Hauses und habe sich um die Datenschutzfragen gekümmert. Dann müssen wir auf unsere Plätze.
Die Ränge im Saal sind wie in einer Arena angeordnet, die Zuschauer:innen umringen die Bühne, sitzen hinten, vorne und an den Seiten. Die Decken des Saals sind hoch und die Sitzpolster rot und gemütlich. Zwischen mir und meinen Nachbar:innen ist jeweils ein Sitz frei. Der Saal erscheint mir voll, obwohl nur jeder zweite Platz besetzt ist. Als das Orchester die Bühne in der Mitte des Saales betritt, meine ich zu spüren, dass ein freudiges Beben durch das Publikum geht. Vielleicht ist es aber auch meine eigene Aufregung. Ich rücke auf meinem gepolsterten Sitz ein Stück nach vorne, lehne meine Ellenbogen auf die Brüstung. Die 80 Musiker:innen tragen Maske, bevor sie sich auf ihre Plätze setzen, begrüßen sich mit dem Ellenbogen oder einem kurzen Nicken. Einige lassen ihre Blicke durch das Publikum schweifen und lächeln, als stünden sie das erste Mal auf einer so großen Bühne.
Der Chefdirigent Kirill Petrenko trägt schwarz, sein Hemd ist von oben bis unten zugeknöpft. Er verbeugt sich in alle Richtungen, begrüßt den ersten Geiger mit einem Nicken.
Ich frage mich, wie viele Gäste wie ich sich hierher verirrt haben, zwischen diese Abendkleider und eingespielten Abläufe. Wie viele sich fragen: Wieso genau bringt Petrenko dem ersten Geiger eine solche Ehrfurcht entgegen? Ich kenne die „erste Geige spielen“ eigentlich nur aus Redewendungen.
Ein Instrument, das wie ein tiefer Kontrabass klingt, ertönt, dann eine hohe Querflöte. Die Harfe kommt dazu, sie ist golden, genauso wie ich mir eine Harfe vorgestellt hätte. Die Musik wird dramatischer und lauter, für mich klingt sie fast pompös. Ich weiß wirklich nicht viel über klassische Musik, aber das hier gefällt mir. Ein Trommelwirbel ertönt. Ich wundere mich über die drei Musiker, die mir am nächsten sitzen, die ich nur von hinten sehe. Die meiste Zeit scheinen sie zu warten. Sie spielen Becken, eine große Trommel und Pauke.
Bisher bricht niemand in Tränen aus
Der Dirigent führt auf seinem kleinen Podest einen Tanz auf. Sein ganzer Körper ist in Bewegung. Er bewegt sich wie ein Roboter, zackig und kantig. Dann plötzlich ist er verspielt, zieht die Schultern hoch, grinst in die Richtung der Geiger, dann zu den Bläsern. Jeden einzelnen Ton geleitet er mit den Händen in die Höhe oder die Tiefe. Für mich wirkt es, als würde er zärtlich den Rundungen eines Körpers mit seinen Händen nachspüren. Die Musik bekommt eine Körperlichkeit, als wären die Töne fühlbar, als könnte man sie anfassen.
Klaus Lederer, Berlins Kultursenator, hat über dieses Konzert gesagt: „Es geht bei diesem Konzert um den Gesundheitsschutz, nicht um die Kultur.“ Was ich hier spüre, ist aber definitiv Kultur. Wer hätte gedacht, dass ich bei Klassik so fühlen würde? Dass ich Hände sehen würde, die Musik wie Körper erkunden?
Petrenko gibt der Musik einen Kinnhaken. Dann eine Faust nach links, er reißt den Dirigentenstab hoch und lässt ihn niedersausen. Ich muss unwillkürlich an Harry Potter denken, fehlt nur noch, dass der Dirigent „Expelliarmus“ ruft und damit die Musiker:innen ihrer Instrumente entwaffnet. Kurze Stille, ich will zum Klatschen ansetzen, bin aber die Einzige. Woher wissen die denn alle, dass das noch nicht vorbei ist? Ich frage meinen Sitznachbar, er sagt trocken: „Man kennt das Stück.“
Ich lasse meinen Blick durch die Ränge gleiten. Das Publikum sitzt bewegungslos. Ein fülliger Mann mit Glatze nickt ein bisschen im Takt. Es ist schwer, die Gesichtsausdrücke zu deuten, es tragen ja alle Maske. Bisher bricht niemand in Tränen aus. Ich denke: Klassische Musik passt irgendwie zur deutschen Kultur. Es wird leise gelauscht, aber keine Regung gezeigt, auch wenn hinter den Gesichtern vielleicht ganz viel passiert. Über den Saal verteilt sehe ich Pärchen, die Händchen halten, mit Abstand, über den Stuhl hinweg, der zwischen allen leer bleibt.
Der Dirigent stößt die Hand nach vorne, dann verharrt er mit dem ausgestreckten Taktstock und dreht noch einmal nach. Ich muss an den Schnelltest vom Vormittag denken. Der lange dünne Stab wird in die Nase gesteckt, tief rein, und wenn man denkt, es wäre vorbei, wird er nochmal gedreht. Ich frage mich, wie viele der anderen 999 Besucher:innen diese Assoziation haben. Die neue Art des Gemeinschaftserlebnisses.
Dann ist es vorbei. Der letzte Ton ist kaum gespielt, als bereits ein lautes, überschwängliches „Bravo“ aus dem Publikum tönt. Die Musiker:innen legen ihre Instrumente weg, einer dreht sich auf seinem Stuhl einmal um die eigene Achse, schaut in alle Ränge. Ein Lächeln zieht langsam ganz breit über sein Gesicht. Als die Menschen klatschen, klingt es nach mehr als 1000 Menschen im Saal.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Belinda Grasnick; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert.