Eine Schülerin wird gemobbt, vergewaltigt und begeht Selbstmord. All das sieht man in „Tote Mädchen lügen nicht“, einer erfolgreichen Serie auf Netflix. Seit einiger Zeit wird nun zu Beginn einer Staffel ein Video eingeblendet, in dem die Stars der Serie davon sprechen, dass die Inhalte Menschen verstören könnten, die Derartiges selbst erleben oder erlebt haben. Sie raten Betroffenen deshalb, die Serie nicht zu schauen oder es zumindest nicht alleine zu tun.
„Wir haben heute verstörende Bilder in den sozialen Netzwerken gesehen. Leichen, die auf den Straßen liegen, in Blutlachen, viele mit Kopfschüssen“, das berichtet der Südostasien-Korrespondent des Deutschlandfunks Anfang März aus Myanmar. Vor seinen Worten hat die Moderatorin folgenden Hinweis eingesprochen: „Wir sprechen zu Beginn über die brutale Gewalt gegen die Demonstrierenden. Wer das nicht hören möchte, schaltet jetzt ab.“
Mittlerweile tauchen solche Warnungen immer häufiger vor Fotos oder Tweets auf Instagram und Twitter auf, genauso wie am Beginn von Romanen oder journalistischen Texten. Diese Warnungen lesen sich dann ungefähr so: „Im Text tauchen Inhalte zum Thema transfeindliche Gewalt auf, die auf Leser:innen traumatisierend oder retraumatisierend wirken können.“ Oder: In diesem Text werden „rassistische Fremdbezeichnungen thematisiert, die retraumatisierend und verletzend sein können.“
Man kennt Warnhinweise normalerweise von Zigarettenpackungen. Dort warnen sie vor einer Raucherlunge, Krebs oder dem Verlust der Fruchtbarkeit. Bei den Warnhinweisen vor Serien, Fotos oder Tweets geht es um etwas anderes: darum, vor möglichen Triggern gewarnt zu werden.
Trigger ist das englische Wort für „Auslöser“. In der Psychologie spricht man von Triggern, um Reize zu beschreiben, die dazu führen, dass ein Trauma wieder durchlebt wird. Getriggert zu werden, bedeutet für traumatisierte Menschen Kontrollverlust. Warnhinweise sollen Traumatisierten also helfen, Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Die Leser:innen können selbst entscheiden, ob sie sich den Inhalt angucken wollen oder nicht.
Aber vor welchen Inhalten sollen Warnhinweise, im Neudeutschen auch Triggerwarnungen oder Content Notes (CNs) genannt, platziert werden? Traumatisierte können von verschiedenen Dingen getriggert werden. Thomas Weber, Psychologe und Geschäftsführer des Trauma- und Konfliktszentrums in Köln, nennt zwei Beispiele, die zeigen, dass schon kleine, scheinbar ungefährliche Dinge triggern können. Wer im Krieg traumatisiert wurde, den kann eine Uniform triggern. Wer von einem glatzköpfigen Menschen überfallen wurde, kann von einer Glatze getriggert werden.
Soll man vor einzelnen Worten warnen? Vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit? Vor rassistischer Sprache? Es stellt sich eine simple Frage: Wo zieht man die Grenze? Diese harmlose Frage ist ein Sprungbrett in eine größere Debatte. Der australische Psychologe Nick Haslam bringt diese Debatte auf den Punkt: „Wo Befürworter:innen von Triggerwarnungen Schutz sehen, sehen Gegner:innen Verhätschelung. Wo Befürworter:innen Sensibilisierung sehen, sehen Gegner:innen Zensur und eine Gefahr für angstfreie Pädagogik.“
Ist das Sensibilisierung oder Verhätschelung?
Dieser Diskurs ist mittlerweile in Deutschland angekommen, auch bei Krautreporter. Vor ein paar Wochen hatte in den sozialen Netzwerken ein Leser darauf hingewiesen, dass eine Passage des Artikels „Kann ich sterben, wenn ich zu lange niemanden berühre?“ meines Kollegen Bent Freiwald ziemlich explizit sei – und gefragt, ob da nicht ein Hinweis angebracht sei. Wir schrieben einen Hinweis darüber, aber wir waren uns nicht einig, auch hier wieder die Konfliktlinie: Übersensibilisierung versus Fürsorge.
Stellen wir uns die Debatte um Triggerwarnungen als Foto vor, das mit einem Bildbearbeitungsprogramm in warme Brauntöne gehüllt und weichgezeichnet wurde. Ein paar Menschen werden die sanften Kanten, die Sepia-Farben, als warm und empathisch wahrnehmen. Für andere ist das Bild verwischt und unklar.
Wie in vielen Fällen sind die Fronten, Meinungen und Gefühle stärker als die harten Fakten. Die Journalistin Olga Khazan schreibt dazu: „Das Problem mit der Politisierung von Triggerwarnungen ist, dass es wichtiger erscheint, wie Menschen sich ‚fühlen‘, als den Effekt von Triggerwarnungen sauber wissenschaftlich zu analysieren.“ Die Diskussion lenkt also von der eigentlichen Frage ab. Alle Unbeteiligten sollten sich zurücklehnen, tief durchatmen und den Blick der Frage zuwenden, um die es gehen sollte:
Helfen Triggerwarnungen den Betroffenen?
Mit „Betroffenen“ meine ich in diesem Fall Menschen mit Traumafolgestörungen und nicht Menschen, die sich von etwas getriggert fühlen. Triggern wird oft gleichbedeutend verwendet mit: „einen wunden Punkt treffen.“ Und das ist etwas anderes als ein Trauma, welches durch bestimmte Trigger ausgelöst und nochmals durchlebt wird.
Menschen können eine traumatische Situation erlebt haben, infolgedessen aber keine Traumafolgestörung entwickeln. Nur diejenigen mit Traumafolgestörung sind für Trigger anfällig. In Deutschland leiden dem Ärzteblatt zufolge ein bis drei Prozent der Bevölkerung an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), was eine Unterkategorie von Traumafolgestörungen ist.
Um die Frage zu beantworten, ob Triggerwarnungen nun hilfreich sind oder nicht, muss man erst einmal verstehen, wie Trigger im Gehirn funktionieren. Und klären, ob Trigger nun wirklich so schlimm sind. Deswegen habe ich mit Thomas Weber vom Zentrum für Trauma- und Konfliktforschung gesprochen. Außerdem habe ich mir ein paar Studien zu der Wirkung von Triggerwarnungen angeschaut.
Wie funktioniert ein Trauma?
Beim Erleben einer traumatischen Situation regelt das Gehirn die bedrohliche Situation nicht mit dem Verstand, sondern mit einem Notfallprogramm, erklärt Weber. Er sagt: „Alles ist in dem Moment auf das bloße Überleben ausgerichtet. Durch das Zurückgreifen auf dieses Notfallprogramm wird das Erlebte nicht richtig verarbeitet und es wird in einem Bereich des Gehirns abgespeichert, auf den die Kognition nur bedingt Zugriff hat.“
Genauer gesagt: Unter Stress funktioniert nur die Amygdala, der Gehirnbereich, der für Emotionen und die Analyse von Gefahrensituationen verantwortlich ist. In dieser Stresssituation kann im Kopf kein zeitlicher und räumlicher Rahmen geschaffen werden, um die Erinnerung richtig mithilfe des Hippocampus abzuspeichern. Der Hippocampus ist der Teil des Gehirns, der unter anderem dafür zuständig ist, Erinnerungen zu verarbeiten.
Thomas Weber sagt: „Das, was dich in einer schwierigen Situation schützt, wird hinterher oftmals zum Nachteil: Wenn das nicht Verarbeitete nach dem traumatischen Ereignis getriggert wird, kommt es zu einer Überflutung des Gehirns und des gesamten Körpers.“ In der Psychologie wird diese Überflutung auch Flashback oder Intrusion genannt. Ein Flashback ist dabei nicht nur die Erinnerung an das Ereignis, es fühlt sich so an, als würde es gerade wieder passieren.
Was also ist die Idee hinter Triggerwarnungen?
Die Idee dahinter ist relativ simpel: Traumatisierten Kontrolle zurückgeben und verhindern, dass die Person einen Flashback erleiden muss. Thomas Weber sagt, mithilfe von Hinweisen würde traumatisierten Menschen eine selbstständige Entscheidung ermöglicht werden: „Wann will ich mich diesem Thema aussetzen und wann nicht?“
Allen Triggern im Leben aus dem Weg zu gehen, sei nicht die Lösung und auch nicht das Ziel von Traumatherapien, erklärt Weber. Stattdessen gehe es darum zu lernen, mit Triggern zu leben. Denn Kontrolle ist genau das, was man in der traumatischen Situation verloren hat. Es geht also um eine ständige Pendelbewegung zwischen Zulassung und Vermeidung, erklärt Weber. Wichtig dabei ist, dass die betroffene Person selbstständig entscheiden kann: Möchte ich mich jetzt mit dem Trigger konfrontieren oder es heute lieber vermeiden?
Das klingt erstmal schön und gut; so gut, als spreche nichts gegen kleine Hinweise vor potenziell problematischen Inhalten. Zwei Fragen sind aber noch unbeantwortet. Die erste lautet:
Wo ist die Grenze zu ziehen?
Wenn es darum gehen soll, vor drastischen Beschreibungen oder Bildern zu warnen, die im traumatischen Sinne triggern, ist es wohl ratsam, dies nicht zu inflationär zu tun. Denn das gießt Wasser auf die Mühlen der Kritiker:innen und verwässert die Warnung. Steht vor Inhalten, in denen die Beschreibung gar nicht so explizit wird, „Warnung vor Gewalt“, gewöhnt man sich an diese Art von Hinweisen, überliest sie quasi und ist dann möglicherweise von der genauen Gewaltdarstellung in einem Podcast oder in einem Video überrascht. Das heißt: Zu viel Warnung verwässert die Warnung. Das heißt auch: Wenn in einer Überschrift schon deutlich wird, worum es im Text geht oder was im Film oder auf dem Bild gezeigt wird, ist eine zusätzliche Warnung überflüssig.
Ob man sich einen Film anschaut oder einen Text liest, mache einen Unterschied, sagt Thomas Weber. Das eine würde passiv erlebt werden und lasse eine Bilderwirklichkeit entstehen, während das andere Fantasie erfordere und man somit eine gewisse Kontrolle darüber habe, wie explizit man sich das Beschriebene vorstellt. Deswegen, sagt Weber, triggern Bilder und Filme sehr viel eher als Texte. „Natürlich kann auch bei einem Roman eine Bilderwirklichkeit entstehen, das ist ja auch das Ziel der Sache, aber nicht in dem Maße wie bei einem Film.“
Der Begriff Triggerwarnung ist Teil einer zugespitzten Debatte, ein Wort, das selbst schon triggert (im nicht-psychologischen Sinn). Deswegen wird immer häufiger auf Begriffe wie Warnhinweis, Content Note (CN) oder Content Warning zurückgegriffen. Diese Begriffe sind unaufgeregter und suggerieren nicht im Vorhinein, dass die dargestellten Szenen Trigger seien. Gleichzeitig kann ein neutraler Begriff wie Content Note die Tür noch weiter für eine inflationäre Nutzung der Warnungen öffnen und den Begriff damit weiter verwässern. Es bleibt kompliziert.
Verstärken Triggerwarnungen sogar Traumata?
Und es wird noch komplizierter: Drei aktuelle Studien aus den Vereinigten Staaten liefern Hinweise darauf, dass Triggerwarnungen wenig helfen und teilweise sogar schaden.
In der ersten Studie aus dem Jahr 2018 wurden die Teilnehmenden in zwei Gruppen eingeteilt: Beide Gruppen bekamen einen Text vorgelegt, eine davon sah zuvor eine Triggerwarnung, die andere nicht. Das Ergebnis: In der Triggerwarnungsgruppe gaben mehr Menschen an, nach dem Lesen Angst zu verspüren als in der Gruppe ohne Triggerwarnung. Diese Wirkung zeigte sich aber nur bei den Teilnehmenden, die der Überzeugung waren, dass Worte Schaden anrichten können.
Die zweite Studie von 2019 fand heraus, dass Triggerwarnungen weder einen positiven noch einen negativen Effekt hätten.
Die aktuellste Studie von 2020 kam sogar zu dem Schluss, dass das Lesen einer Triggerwarnung die Bedeutung des Traumas für den Betroffenen verstärken würde. Anders als in den anderen beiden Studien wurden hier explizit traumatisierte Menschen getestet. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Triggerwarnungen dazu führten, dass traumatisierte Personen das Trauma zu einem zentralen Teil ihrer Identität machten. Alles in allem seien Triggerwarnungen „nicht hilfreich“.
Thomas Weber widerspricht diesem Fazit. Er argumentiert, dass sich in der therapeutischen Praxis gezeigt habe, dass eine Auseinandersetzung mit dem Trauma nie kontraproduktiv sei, sofern denn dem Betroffenen die Kontrolle gegeben wird, sich zu entscheiden.
Die Ergebnisse der Studie zeigen aber, dass Warnungen nicht zu suggestiv und möglichst neutral formuliert sein sollten. Ebenso sprechen sie dafür, von der Nutzung des Begriffes Triggerwarnung abzusehen.
Betroffene berichten derweil in den sozialen Netzwerken erfreut von den kleinen Notizen, die sie kurz innehalten lassen und sie vor die Frage stellen: Möchte ich mir das jetzt antun oder nicht? Nicht-Betroffene können die kleine Notiz ja eigentlich auch geflissentlich ignorieren. Und, egal, ob Kritiker:innen es als zu weich und realitätsverwischend wahrnehmen, um diese Wahrnehmung geht es hier nicht. Es geht allein um die Wirkung von kleinen Notizen vor möglicherweise wirklich verstörenden Inhalten.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger.