Ich erinnere mich noch. Wie ich mit elf, zwölf Jahren, Anfang der 2000er, mit meinen Freund:innen auf dem Weg zur Schule am Bahnhofskiosk einen kurzen Stopp einlegte. Wie wir mit erhöhtem Puls und Scham im Bauch zur Verkäuferin schielten, während wir Magazine wie Playboy und Penthouse durchblätterten. Natürlich ohne sie zu kaufen. Wäre viel zu teuer gewesen. Und sowieso viel zu peinlich.
Nachts ging mein Abenteuer weiter: Wenn meine Eltern schliefen, schlich ich manchmal ins Wohnzimmer, setzte mich vor den Fernseher und schaltete bei „Sexy Sportclips“ rein, 00.00 Uhr, DSF-Kanal: Frauen, die in Unterwäsche zur Musik tanzten und sich langsam auszogen, beim Minigolfen, Tischtennisspielen oder im Schwimmbad. Was aus heutiger Perspektive harmlos erscheint, war damals unglaublich aufregend und sexy.
Heute bleibt es Teenies erspart, heimlich zum Fernseher oder zur Kiosk-Ecke mit den Erotikmagazinen zu schleichen. 2018 hatten laut der repräsentativen „Kindheit, Internet, Medien“-Studie nahezu alle Haushalte mit Kindern zwischen sechs und 13 Jahren einen Internetzugang, in acht von zehn Haushalten gab es einen Computer oder Laptop. Zwei von fünf Kindern besaßen ein eigenes Smartphone – kein Wunder also, dass 2017 die große Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland ihren ersten Porno über einen Computer, einen Laptop oder ein Smartphone gesehen hat. Und das in immer jüngerem Alter:
Grundschulkinder haben die verrücktesten Fragen zum Thema Sex
Als ich das erste Mal eine Sexszene schaute, passierte das per Zufall. Ich war zehn und mit meinen Eltern im Urlaub in Österreich. Kurz alleine im Hotelzimmer nutzte ich das seltene Glück, fernzusehen und zappte mich durch die Programme, bis eine Szene meine Aufmerksamkeit weckte: Zwei nackte Frauen küssten und streichelten sich am Strand. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an das Kribbeln im Bauch.
Fünfzehn Jahre später, ich war 25, arbeitete ich als Sexualpädagogin an Schulen in und um Wien. Bei den Elternabenden im Vorfeld drehten sich die Gespräche häufig darum, den Eltern Ängste zu nehmen: Nein, wir wecken durch die Workshops keine „schlafenden Hunde“. Nein, Kinder sind von der realen Vielfalt menschlicher Sexualität nicht überfordert und werden auch nicht plötzlich alle queer. Und ja, es ist sehr wahrscheinlich, dass zumindest einige Kinder in der dritten und vierten Grundschulklasse schon Pornos gesehen haben – und sich dazu unglaublich viele Fragen stellen.
Zum Beispiel, warum Frauen beim Sex so laut schreien, ob Frauen gerne Sex mit Pferden haben und ob der Kopf eines Mannes wirklich in die Vagina einer Frau passt. In den Workshops, die ich in der Schule gab, erklärten mir ältere Jugendliche häufig äußerst differenziert, dass Pornos eher wie Action- oder Fantasy-Filme seien und nicht die Realität widerspiegelten, ein Satz wie aus dem sexualpädagogischen Lehrbuch.
Doch in der anonymen Fragerunde zeichnete sich dann oft ein anderes Bild ab: Während die häufigsten Fragen der Mädchen lauteten: „Tut Sex weh?“, „Muss ich mit meinem Freund Analsex haben?“ oder „Wie geht Blasen?“, waren bei den Jungen Analsex, Penisgröße, Porno und Masturbation die Top-Themen. Während sie begeistert riesige Penisse an die Tafel zeichneten, äußerten Mädchen häufig Ekel über ihre Vulva oder Angst um ihr „Jungfernhäutchen“.
Ich konnte beobachten, wie sich bei den Mädchen und Jungs stereotype Vorstellungen über Geschlecht und Sex entwickelten – und manifestierten. Zum Beispiel: Männer brauchen und wollen immer Sex, Frauen sollen ihn als „Liebesdienst“ liefern, Geschlechtsverkehr lässt sich strikt trennen in „Vorspiel“ und „richtigen Sex“. Schon hier bildete sich eine Hierarchie ab in den Köpfen der Schüler:innen: Männer forderten, Frauen bedienten.
Nur wenige LGBTQA-Jugendliche outeten sich überhaupt vor der ganzen Klasse. Ich konnte mir quasi in einer persönlichen Feldstudie anschauen, was auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Jugendliche verstehen kognitiv, dass Pornos „Fake“ sind. Das heißt allerdings nicht, dass die Bilder, die sie sehen, keinen Einfluss auf sie nehmen:
Heute gibt es dank queerer und feministischer Filmemacher:innen alternative Pornos, die – anders als der überwiegende Teil der Mainstream-Pornografie – weibliche und queere Lust ins Zentrum stellen. Es gibt Pornodarsteller:innen, die in fairen und sicheren Produktionsbedingungen arbeiten. Safer Sex ist heute selbstverständlich in alternativen Pornos, Konsens wird vor der Kamera verhandelt. Doch das sind nicht jene Clips, die auf den großen Plattformen wie Pornhub oder xHamster einfach zu finden und kostenlos zugänglich sind. Ist auch logisch, denn wie sollten Pornos, die fair produziert wurden, kostenlos sein?
Nun könnte man annehmen, dass Amateurpornografie im Gegensatz zu professioneller Pornografie realistischere Bilder von Sex zeigt und mit stereotypen Geschlechterdarstellungen und normativen Vorstellungen von Sexualität bricht. Dachte ich auch. Doch 2014 kamen zwei niederländische Wissenschaftler:innen zu einem anderen Ergebnis: Sie werteten die 400 beliebtesten Videos der großen Pornowebseiten aus und stellten fest, dass Amateurpornografie insgesamt mehr geschlechtsspezifische Ungleichheiten zu Lasten von Frauen enthält als professionelle Pornografie:
Auch bei den dargestellten Machtdynamiken beobachteten die Forscher:innen große Geschlechterunterschiede:
Die beiden Wissenschaftler:innen untersuchten außerdem, wie viele der analysierten Pornos insgesamt Gewalthandlungen zeigen – und fanden auch hier ein klares Muster: Gewaltszenen sind sehr viel häufiger gegen Frauen gerichtet als gegen Männer. Eine ältere Studie (die jedoch keine Online-Pornografie, sondern die meist verkauften und geliehenen Filme 2004/2005 untersuchte) kam sogar zu dem Ergebnis, dass fast 90 Prozent der Szenen körperliche Gewalt enthalten – fast immer waren Frauen die Betroffenen. Gewalt wurde in der besagten Studie als eine Handlung definiert, die zu einer Schädigung des Selbst oder eines anderen führt, unabhängig davon, ob diese Handlung einvernehmlich geschah oder nicht.
Aber geht es bei einvernehmlichem Sex nicht genau darum, ob alle Beteiligten etwas als lustvoll empfinden oder nicht? Unbedingt! Die Sache ist bloß: Genau hier liegt der zentrale Unterschied zwischen Sex und Porno: Mainstream-Pornos drehen sich nicht um die Frage, was die Darsteller:innen tatsächlich als lustvoll empfinden, sondern um die Fantasien der Zuschauer:innen. Pornodarsteller:innen können also nicht einfach „Nein“ sagen, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Sie erfüllen ein vorgegebenes Skript.
Welche Botschaft vermitteln demütigende oder gar gewaltvolle Sexclips dann an Zuschauer:innen, wenn die Darsteller:innen in den jeweiligen Filmen auf Demütigung und Gewalt neutral oder gar positiv reagieren? Welche Auswirkungen hat es auf die Fantasien und das sexuelle Verhalten von Frauen, wenn Pornos überwiegend Männer als dominant und Frauen als unterwürfig darstellen?
Machen Pornos Frauen unterwürfig?
Um das herauszufinden, befragten drei US-amerikanische und deutsche Wissenschaftler:innen 2017 knapp 400 heterosexuelle Frauen in Deutschland. Ihr Ergebnis: Frauen, die häufiger Pornos konsumieren, praktizieren häufiger sexuell unterwürfige Verhaltensweisen und haben häufiger unterwürfige Fantasien.
Das sagt nichts darüber aus, ob die Frauen diese Verhaltensweisen als lustvoll oder erniedrigend empfinden. Doch für die Forscher:innen ist das Ergebnis ein klarer Hinweis darauf, dass jene Szenen, die wir in Pornos (und auch anderen Medien) sehen, einen Einfluss auf unsere Fantasien, Wünsche und Verhaltensweisen haben können.
Forschungen wie diese Studie stehen allerdings vor zahlreichen weiteren Fragen: Spiegeln sich in den Ergebnissen nicht vielleicht grundlegende gesellschaftliche Erwartungen an Frauen und Männer? Formt Pornokonsum bestimmte sexuelle Fantasien und Verhaltensweisen? Oder ist es genau andersherum: Schauen Menschen mit bestimmten Fantasien Pornos, die ihren Fantasien entsprechen? Und: Sagen die befragten Personen in solchen Studien bei einem so tabuisierten Thema überhaupt die Wahrheit?
Auch deshalb kommt die Forschung zur Wirkung von Pornografie zu äußerst widersprüchlichen Ergebnissen. Worin sich Expert:innen allerdings einig sind: Jungen im Alter von 14 bis 20 schauen häufiger und regelmäßiger Pornos als Mädchen im selben Alter.
Doch auch wenn Frauen seltener Pornos konsumieren als Männer, heißt das natürlich nicht, dass sie es nie tun: Weltweit sind knapp ein Drittel der Pornhub-Besucher:innen weiblich, in Deutschland etwa ein Viertel. Dazu muss man bedenken: Auch die Frauen, die gar keine Pornos schauen, bleiben – unfreiwilig – mit Pornografie konfrontiert: Weil sie zufällig auf pornografische Inhalte im Internet stoßen, weil ihnen ungefragt pornografische Bilder geschickt werden, oder weil (im Fall von hetero- oder bisexuellen Frauen) ihre männlichen Partner Pornos schauen.
Wenn der Partner Pornos schaut
Als ich als Jugendliche zum ersten Mal mitbekam, dass mein damaliger Freund Pornos konsumierte, löste das eine ganze Reihe unangenehmer Gefühle in mir aus: Ich fühlte mich unter Druck gesetzt von den Körpern der Darstellerinnen, vor allem aber von den Darstellungen, die ich in den Pornos meines Freundes sah.
Was ich dort beobachtete, stimmte so gar nicht überein mit dem, was ich mir sexuell wünschte. Gleichzeitig schämte ich mich für meine negativen Gefühle und suchte den Fehler dafür bei mir: Ich sei zu eifersüchtig, sagte mir mein Kopf, und vor allem: nicht „locker“ genug. Heute weiß ich, dass ich mit den unangenehmen Gefühlen nicht alleine bin: Zwei Psychologinnen fanden 2014 heraus, dass Frauen, die davon wissen, dass ihr Partner Pornos schaut, gesellschaftliche Schönheitsideale stärker verinnerlichen und häufiger an Essstörungen leiden. Und dass sie ihren Selbstwert stärker davon abhängig machen, ob sie ihren Partner sexuell befriedigen können.
Und zwar unabhängig davon, ob die Frauen sich an dem Pornokonsum ihres Ex-Partners störten oder nicht. Was mich, als ich die Studie las, zu der Frage brachte: Gestehen sich Frauen angesichts des gesellschaftlichen Drucks, sexuell befreit, selbstbewusst und unverklemmt zu sein, einfach nicht ein, wenn der Pornokonsum ihrer Partner unangenehme Gefühle auslöst? Aber auch an dieser Stelle muss man aufpassen, nicht selbst in die stereotypische Geschlechterfalle zu tappen; natürlich können Frauen Pornos auch erregend und anziehend finden.
Führen mehr Pornos zu mehr Orgasmen?
Es ist unklar, ob Frauen, die Pornografie nutzen, häufiger Orgasmen haben, weil sie Pornos ansehen oder ob sie umgekehrt Pornos ansehen, weil sie ein größeres Interesse an Sex und mehr Lust darauf haben. Doch ein weiteres Ergebnis einer aktuellen Studie, für die knapp 2.500 Frauen aus den USA und Ungarn befragt wurden, finde ich besonders wichtig: Die Probandinnen, die Pornos beim Masturbieren nutzen, berichteten über signifikant größeren Leidensdruck, wenn sie beim Sex mit dem Partner keinen Orgasmus erleben.
Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Sex in den meisten Mainstream-Pornos auf Penetration reduziert wird, der mit dem männlichen Orgasmus endet. Förderlich für die weibliche Lust ist das sicher nicht. Liegt darin eine mögliche Erklärung, warum heterosexuelle Frauen beim Sex mit ihrem Partner so selten einen Orgasmus erleben? Im Fall meines persönlichen Orgasm Gap war der Konsum von Pornos definitiv weniger hilfreich, als mir über mein Begehren klarzuwerden – und schließlich den Sex zu haben, den ich eigentlich wollte.
Viele Frauen mögen Pornos mit Männern, die Sex mit Männern haben
Weil die Inhalte heterosexueller Mainstream-Pornos für viele Frauen nicht erfüllend und oftmals unangenehm sind, suchen sie nach anderen Inhalten. Die unter weiblichen Pornhub-Nutzerinnen beliebteste Kategorie „Lesbisch“ wird gefolgt von Pornos, die Männer beim Sex mit Männern zeigen. Ja, wirklich! Hätte ich auch nicht gedacht, stimmt aber: 37 Prozent der Pornhub-Nutzer:innen, die diese Pornos ansahen, waren 2017 weiblich.
Warum ist das so, frage ich mich als Lesbe? Die Befragung von 275 Frauen unterschiedlicher sexueller Orientierungen aus 26 unterschiedlichen Ländern liefert diese Antworten:
Was bedeuten diese Ergebnisse? Können Pornos mehr für Frauen sein als erregender Anreiz? Sind sie vielleicht sogar: Selbstermächtigung?
In den 1970ern und 80ern spalteten die Auseinandersetzungen um Pornografie und Sexualität die feministische Bewegung, gingen als „Feminist Sex Wars“ oder „Porn Wars“ in die Geschichte ein. Was für die Vertreter:innen der Anti-Porn-Bewegung per se ein Ausdruck der Unterdrückung von Frauen und deshalb immer antifeministisch war, verstanden sexpositive Feminist:innen als Möglichkeit zur Befreiung weiblicher Lust.
Heute hat sich eher die zweite Variante durchgesetzt: Sexpositive Partys und queerfeministische Pornfilmfestivals zelebrieren weibliche und queere Lust und Körper in all ihrer Vielfalt, auf Onlyfans, einer Social-Media-Plattform für bezahlte erotische und pornografische Inhalte, haben Sexarbeiter:innen die Kontrolle über ihre Körper und ihre Bilder, manche verstehen ihre Arbeit als weibliche Selbstermächtigung. Frauen lassen sich ihre Pos vergrößern oder ihre Schamlippen verkleinern – aber nicht für andere, sondern völlig frei und selbstbestimmt, um sich selbst besser im eigenen Körper zu fühlen, wie manche angeben.
Zu meinem 16. Geburtstag schenkten mir Freundinnen den erschreckenderweise bis heute erfolgreichen Ratgeber „Die perfekte Liebhaberin. Sextechniken, die ihn verrückt machen“, aus dem Jahr 1999. Darin erklärt die Autorin Lou Paget, wie Frauen ihre (selbstverständlich) männlichen Partner sexuell befriedigen können – auch wenn sie dafür die eigenen Bedürfnisse übergehen müssen. Denn glaubt man der Autorin, will jeder Mann immer Sex (wie ja auch schon meine Schüler:innen in Wien mir erklärt hatten). Als Gegenleistung bekommen Frauen dann ab und an ein wenig Zärtlichkeit und Romantik.
Über meine eigene Lust lernte ich in diesem Ratgeber und auch anderswo leider nichts. Dafür lernte ich auf dem Schulhof, dass es als Mädchen vor allem auf mein Aussehen ankommt: Mal war der Po zu dick, mal zu flach, einen besonders wertvollen (und dazu ungefragten) Rat bekam ich von einem Mitschüler: „Bier macht dir größere Brüste!“ (Nur um sicherzugehen, dieser Mythos ist falsch!)
Auch schien für alle klar zu sein, dass ich Mädchen nicht aus eigener Lust, sondern für die Aufmerksamkeit von Jungs küsste. Als mein erster Freund den Wunsch äußerte, gerne mal Sex mit mir und einer anderen Frau zu haben, fragte ich mich innerlich, wie zur Hölle er auf die Idee kommen konnte, dass zwei Frauen Spaß beim Sex mit ihm haben könnten; alles, was bislang zwischen uns stattgefunden hatte, war unbeholfen gewesen. Geschweige denn, dass es jemals ein Gespräch zwischen uns gegeben hätte darüber, was sich gut anfühlt und was nicht.
Eine meiner Schulfreundinnen hatte ihr erstes Mal unter den Augen von Gina Wild und Pamela Anderson. Die Lieblingspornostars ihres damaligen Freundes schmückten seine Zimmerwände. Auch wenn es uns damals schon unangenehm war, dachten wir, dass sei irgendwie normal und gehöre halt dazu. An unseren eigenen Wänden hingen stattdessen Poster von Britney Spears und Christina Aguilera.
All diese Erfahrungen und Erwartungen prägen, welche Vorstellungen von Lust und Sex wir entwickeln. Auch, wenn es unserem Selbstbild als emanzipierte, unabhängige und sexuell befreite Frauen widerspricht und unbequem ist: Die Rede von Selbstermächtigung und individueller Wahl in Bezug auf Pornos verschiebt die Verantwortung auf Einzelne (sie ist einfach nicht selbstbewusst/locker/entspannt genug) und blendet gesellschaftlichen Kontext aus.
Pornos sind nicht die Ursache der Sexualisierung und Objektifizierung von Frauen. Aber ein großer Teil der kostenlosen Mainstream-Pornos hat rein gar nichts mit weiblicher und queerer Lust oder sexueller Emanzipation zu tun. Das festzustellen, ist nicht prüde, verklemmt oder rückschrittlich. Und meint auch keine Lustfeindlichkeit – im Gegenteil.
Illustrationen: Lena Deser; Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke