Zwei hänge, die an den kleinen Fingern eingehakt sind

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Leben und Lieben

Wenn Freundschaften die besseren Liebesbeziehungen sind

Warum zum Teufel dreht sich so viel in unseren Leben um die Liebe? Freundschaft kann die angenehmere Form des Zusammenlebens sein. Ein längst überfälliges Plädoyer dafür, seine Freunde mehr zu feiern – und fester ins eigene Leben zu integrieren.

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

Achtung, es wird jetzt kitschig. Ich will ein Geständnis machen. Es geht an Tanja, Ben, Thomas, Silke, Jochen und Noah*: Ich liebe euch. Und wenn ich könnte, ich würde euch alle heiraten!

Tanja habe ich jüngst auf ihr Sofa gekotzt. Davor hatte sie mich im Buggy ihrer Kinder erst aus einer Tiefgarage in den Fahrstuhl und von dort in ihre Wohnung geschoben, weil ich wegen der Narkosenebenwirkungen einer Operation weder klar denken, noch geradeaus laufen konnte.

Mit Ben habe ich meinen allerersten journalistischen Kommentar geschrieben, noch bevor ich überhaupt wusste, wie sowas geht. Ben ist mein Fels in der Brandung: Wenn ich schwanke, steht er stabil.

Thomas kenne ich seit mehr als 20 Jahren, aus dem Englischunterricht. In einer der Schulpausen hat er mal „Arschloch“ zu mir gesagt. Er bestreitet das bis heute, ich ziehe ihn immer noch damit auf, wenn wir bei einem Bier über Bücher und Politik diskutieren oder über damals lachen.

Mit Silke habe ich so viele Dark&Stormys getrunken, dass ich irgendwann aufgehört habe zu zählen. Sie sagt mir ihre Meinung, gerade dann, wenn ich sie am wenigsten hören will, aber am dringendsten brauche.

Jochen kocht die beste italienische Pasta, schickt mir die lustigsten GIFs, beherrscht die besten Zaubertricks und bringt mich immer zum Lachen. Er ist in vielem anders als ich, genau deswegen mag ich ihn so sehr.

Und Noah? Ach, Noah, was soll ich sagen? Du kennst mich seit zehn Jahren besser als ich mich selbst. Wenn ich versuche, dir etwas vorzumachen: klappt nie. Ich weiß es eigentlich längst.

Tanja, Ben, Thomas, Silke, Jochen und Noah sind das, was man beste Freunde nennt. Meine besten Freunde. Wenn ich an jeden Einzelnen von ihnen denke, muss ich innerlich lächeln. Sie sind Teil meines Universums, auf stillen Ellipsen bilden sie kreisend einen Teil meines Lebens. Man kann sehr glücklich sein über solche Menschen, bin ich auch.

Das Ding ist bloß: Die Sonne in meinem Universum sind sie nicht. Diesen Platz nimmt, wie bei den allermeisten anderen auch, eben nicht die Freundschaft ein. Sondern die Liebe.

Seien wir doch ehrlich: Die meisten von uns rennen ihr nach. Und damit dem Versprechen, das uns von klein auf in Kinderbüchern, Filmen, Popsongs, Romanen und Gedichten als Glücksgarant, Lebensziel, Verheißung und Gradmesser für sozialen Status verkauft wird. Daran hat sich selbst im Jahr 2020 nicht viel geändert, auch wenn die Zahl der Single-Haushalte weiter steigt. Sonst gäbe es Tinder, Bumble, Elitepartner, Parship und OkCupid nicht. All die Frauenmagazine, Ratgeberbücher, den Valentinstag und die Hochzeit als „glücklichsten Tag in deinem Leben“ auch nicht.

Klar, die meisten Menschen brauchen ein Gegenüber. Dass muss aber nicht der Partner sein

Muss das so? Warum schwören wir so sehr auf die partnerschaftliche Beziehung, als würde die Welt ohne sie in ewigem Schatten versinken? Wir machen uns so viel Stress wegen der Liebe. Immer. Wenn sie fehlt, geht es darum, sie zu finden (und sich selbst nicht als Mangelwesen abzustempeln, weil einen gerade niemand ausgewählt hat). Wenn sie endet, darum, sie zu verarbeiten. Und wenn sie da ist, muss ständig die Komplexität von partnerschaftlicher Liebe verhandelt werden. Ich will gar nicht wissen, wie viele Minuten meiner Gespräche mit Freunden – obwohl, mehr mit Freundinnen – sich um Boyfriends, Ehemänner, Bumble-Dates, Ex-Freunde, den neuesten Schwarm oder den letzten Arsch handelten. Es müssen Stunden, wenn nicht Tage gewesen sein.

Schon klar: Die allermeisten Menschen haben ein Bedürfnis nach Nähe. Danach, gesehen und geliebt zu werden. Es war der Religionsphilosoph Martin Buber, der sagte: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Was Buber damit meinte: Im Verhältnis zu unserer Umwelt, in Beziehungen zu anderen können wir uns selbst definieren und erleben. Der Mensch ist ein soziales Wesen; wie sehr, das verdeutlicht gerade die Corona-Krise. Für viele, die jetzt allein leben, wird es mit jeder Woche härter, den Mangel an Gemeinschaft und die Stille in der eigenen Wohnung zu ertragen.

Lauter wird hingegen eine Frage: Wieso wagen wir als gängiges gemeinschaftliches Lebensmodell jenseits der 30 nur das Zusammenleben als Paar? Und investieren so viel unserer Energie in das Leben mit einem Partner?

Sind wir eigentlich bescheuert? Wieso haben wir so wenig Fantasie, wenn es um ein Zusammenleben geht?

Weil die Liebe so schön ist, antwortet der Romantiker. Weil eine stabile Beziehung Sicherheit bietet, die Pragmatikerin. Aber, das wissen wir doch alle: Nicht immer ist das so. Wer einmal zu lange in einer unglücklichen Paarkonstellation verharrt hat, in der die Sprachlosigkeit längst als dritte Partei tagtäglich mit am Tisch saß, wer sich jemals aus einer toxischen Beziehung herauskämpfen musste, wer vielleicht sogar missbräuchliches Verhalten durch den Partner oder die Partnerin erlebt hat, der oder die weiß, wovon ich rede. Die partnerschaftliche Liebe ist bei Weitem nicht immer das große Glück, als das sie angepriesen wurde. Das partnerschaftliche Zusammenleben schon gar nicht.

Und doch, abgespeichert haben wir etwas anderes: Single zu sein ist okay – in einem bestimmten Alter. In einer WG zu wohnen, auch – in einer bestimmten Lebensphase. Wer aber jenseits der 30 noch immer nicht die Einfahrt in eine langfristige Zweierbeziehung gefunden hat, gilt gesellschaftlich als wenig erfolgreich. Vor allem Frauen wird Beziehungslosigkeit häufig als Makel angeheftet. Die Journalistin Marlene Teschner schrieb einmal in einem Text für Die Zeit den sehr pointierten Satz: „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Mann ohne Penis.“

Teschner tippte das nicht etwa 1950 – sondern 2019. In der Idee, wie sich erwachsenes Zusammenleben gestalten lässt, scheint dennoch nicht allzu viel passiert zu sein: Wer Single ist, lebt allein. Wer einen Partner oder eine Partnerin hat, zieht irgendwann mit dem oder der anderen zusammen. Weil man es eben so macht.

Es gibt zwar heute – anders als 1950 – Patchwork als neues Normal, genauso wie unverheiratete Paare, die eine gemeinsame Wohnung teilen oder polyamoröse Partnerschaften. Aber auch in diesen Fällen gestaltet sich gemeinschaftliches Zusammenleben um die partnerschaftliche Liebe als Kern.

Sind wir eigentlich bescheuert? Wenn nicht, sind wir zumindest fantasielos. Als ob es nicht noch andere Möglichkeiten gäbe, um der Einsamkeit zu entrinnen.

Nur, um direkt einem Missverständnis vorzubeugen: Mir geht es nicht darum, die romantische Liebe abschaffen zu wollen. Dafür bin ich selbst zu gern verliebt. Mir geht es darum, breiter zu denken. Ein Gedankenexperiment: Stellt euch vor, Freundschaft hätte in unserem Leben jenen Stellenwert, den gemeinhin romantische Liebe einnimmt. Wir würden Freundschaft endlich den Platz geben, den sie verdient! Stellt euch vor, wir könnten unsere Freunde heiraten! Und würden sie nicht nur als Beiwerk betrachten, sondern als Hauptfang. Freundschaft wäre die Sonne in unserem Universum, um die wir kreisen würden. Liebe nicht mehr als die Monde, die uns begleiten. Wie würde sich unser Leben verändern?

Die Freundschaft wird als Lebensform unterschätzt

Wir wären freier; vorbei wäre es mit dem Druck, endlich den Richtigen oder die Traumfrau finden zu müssen. Wir wären weniger gestresst; vorbei wäre es mit der ständigen Arbeit an der eigenen Beziehung. Wir wären weniger einsam; wer mit Freunden zusammenlebt, ist nicht mehr allein.

Es wäre so viel mehr möglich! Denn die Freundschaft als gemeinschaftliche Lebensform, sie wird unterschätzt. Dabei liegt in ihr so viel Potential. Ist diese Form der zwischenmenschlichen Beziehung doch die großzügigere und genügsamere Variante von Liebe: An meine beste Freundin Tanja habe ich nicht denselben Anspruch wie an einen Partner. Ich kann ihr ihre Eigenheiten besser lassen, Fehler schneller verzeihen, leichter vertrauen. Dazu kommt: Eine über Jahre gewachsene Freundschaft ist im Zweifel beständiger als jede Beziehung. Die Aufregung, das Stürmische, die Enttäuschung, auch die Ambivalenz der partnerschaftlichen Gefühle: All das fehlt in einer tiefen Freundschaft.

Sind das nicht ideale Voraussetzungen, um einen Alltag zu teilen, mit gemeinsamen Pflichten, Vertrauen, Geborgenheit – aber auch gemeinsamem Spaß?

Was man aus einer Kinder-Zeichentrickserie lernen kann

Man müsste es so machen wie der kleine Bär und der kleine Tiger. Jene beiden Tiercharaktere aus der gleichnamigen Zeichentrickserie, die eigentlich auf einem Kinderbuch von Janosch basiert: Der kleine Bär und der kleine Tiger leben zusammen in einem gemütlichen Haus. Mal suchen sie einen Schatz, mal reisen sie nach Panama, mal gehen sie angeln, mal feiern sie eine Riesenparty. Einmal wird der kleine Tiger krank. Ihm tut alles weh, „vorne und hinten und oben und unten“, sagt er. Der kleine Bär ist zur Stelle, er trägt ihn nach Hause, wickelt ihn in einen Ganzkörperverband, kocht ihm Kartoffeln, hält ihn, als er eine Spritze bekommt. Er kümmert sich, bis der kleine Tiger wieder gesund ist.

Ich habe den kleinen Bären und den kleinen Tiger als Kind geliebt. Was mir damals, als Sechsjährige, allerdings noch nicht klar war: Wie revolutionär die Erzählung eigentlich ist. Denn der kleine Bär und der kleine Tiger sind glücklich mit einem Ausnahme-Lebensmodell: Sie leben als Freunde zusammen. Sie sind kein Paar, keine Familie, auch keine Studenten-WG – und teilen doch ihren Alltag, ihr Leben gemeinsam. Die Höhen, die Tiefen. Die aufregenden Zeiten, die schmerzhaften. Die zwei scheinen sich füreinander entschieden zu haben, als Freunde.

Natürlich ist das nur eine Zeichentrickserie, schon klar. Ich finde trotzdem, man kann etwas darin sehen: eine kreative Antwort auf die Frage, wie gemeinschaftliches Leben im Erwachsenenalter aussehen kann, abseits der klassischen Wege.

Die israelische Soziologin Eva Illouz fordert schon lange mehr Kreativität und mehr Mut, wenn es darum geht, erwachsenes Zusammenleben zu denken und zu gestalten. In einem Spiegel-Interview sagte sie einmal etwas, das schon häufiger zitiert wurde, aber das schmälert nicht die Aussicht, die Illouz´ Worte in sich tragen: „Den Frauen möchte ich sagen: Macht euren Kinderwunsch nicht abhängig vom Wunsch nach romantischer Liebe. Wenn ihr Kinder wollt, bekommt sie allein – oder in einer Gemeinschaft mit anderen Frauen, die ebenfalls Kinder wollen. Oder mit Männern, die Kinder wollen, aber nicht eure Partner sind.“

Traut euch mehr! Dann wartet eine neue, eine mutigere Form von Glück

Illouz´ Forderungen mögen radikal klingen, sind es aber nur auf den ersten Blick. Denn was spricht eigentlich dagegen, als Single beispielsweise mit der besten Freundin und deren Tochter zusammenzuleben? Ist das nicht sogar eine Win-Win-Win-Situation? Für den Single, weil durch die beste Freundin und ihre Tochter Lachen und Gemeinschaft einziehen. Für die Freundin, weil sie den Alltag mit Kind nicht mehr allein wuppen muss. Für die Tochter, weil zwei Spielkameraden immer besser sind als einer.

Ich finde es schade, dass wir nicht viel häufiger in solchen Kontexten denken und uns nicht (zu)trauen, in ihnen glücklich zu werden. Dass wir nicht mutiger sind. Es ist eine verschenkte Chance. Und ich wage die These: Wenn wir Freunde mehr und konkret in unsere Lebensplanung einbeziehen würden, gäbe es weniger unglückliche Beziehungen. Paare würden nicht in ihrem Unglück verharren, aus Angst vor alles zerfressender Einsamkeit nach einer Trennung; sie wären freier darin, sich eine alternative Vorstellung davon zu machen, wie Gemeinschaft auch abseits von Paarbeziehung und ohne eigene Kinder aussehen kann.

Deswegen sage ich: Lasst uns mutiger sein! Und unabhängiger werden vom Narrativ der romantischen Liebe. Es könnte heilend sein. Trost schenken. Sehr viel Spaß bedeuten. Und eine neue Form von Glück.


*Die Namen von Esthers Freunden und Freundinnen wurden im Text geändert.

Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele