Der Moment in welchem Jana aus Kassel vom Ordner die Weste zurückbekommt und verduzt nicht versteht was er macht.

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Leben und Lieben

Jana aus Kassel hat uns den Moment beschert, den wir uns seit Monaten wünschen

Eine Rednerin vergleicht sich auf einer „Querdenken“-Demo mit der NS-Widerstandsheldin Sophie Scholl. Ganz Deutschland lacht sie aus. Zu Recht? Ein Shitstorm-Explainer.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Hast du Hunger? Dann fühlst du dich wahrscheinlich wie Mahatma Gandhi im Hungerstreik. Sklaverei findest du blöd? Dann bist du fast wie Abraham Lincoln. Das Internet hat eine neue Kategorie der Flachwitze entdeckt: absurde Vergleiche, die so absurd sein sollen wie Janas Selbstvergleich mit Sophie Scholl.

Es beginnt am 21. November in Hannover. Ein Video zeigt eine blonde Frau auf einer Bühne, die sagt: „Hallo, ich bin Jana aus Kassel. Und ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde.“ Sie sei 22 Jahre alt, genauso alt wie Sophie Scholl bei ihrer Ermordung durch die Nazis (Sophie Scholl war 21, als sie ermordet wurde).

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In diesem Moment tritt ein Mann vor die Bühne, wirft ihr seine Warnweste hin und ruft: „Für so einen Schwachsinn mache ich doch keinen Ordner mehr! Das ist Verharmlosung vom Holocaust!“ Jana dreht dem Publikum den Rücken zu, sie kämpft offensichtlich mit den Tränen. Dann wirft sie ihr Mikro auf den Boden und stapft von der Bühne.

In den Tagen nach dem Auftritt ergießt sich die Häme des Internets auf Jana aus Kassel. Das Video wird millionenfach angesehen, Außenminister Heiko Maas putzt Jana in einem Tweet herunter und sogar die Tagesschau berichtet.

Ein Shitstorm ist unangenehm, aber nicht tödlich

Dass sich Jana wie Sophie Scholl fühlt, ist – natürlich – absurd. Sophie Scholl lebte in einer Diktatur und kämpfte in der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ unter Einsatz ihres Lebens gegen den Nationalsozialismus. Jana aus Kassel lebt in einer Demokratie und kritisiert Maßnahmen, die die Bevölkerung vor dem Coronavirus schützen sollen. Sophie Scholl konnte keine Versammlungen anmelden und wurde wegen ihres Engagements ermordet. Jana ist Opfer eines Shitstorms. Das ist unangenehm, aber nicht tödlich.

Es ist nichts Neues, dass sich Querdenkerinnen und Coronaverschwörer mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus vergleichen. Im August veranstalteten sie eine Kundgebung in Forchtenberg, dem Geburtsort Sophie Scholls, „zu Ehren der Weißen Rose“. Auch die AfD hat schon länger Sophie Scholl als Protestfigur entdeckt. 2018 zeigten sich in Chemnitz AfD-Politiker mit einer weißen Rose am Revers. Die weiße Rose ist ein Symbol für den Widerstand gegen Hitler. Und vor einer Woche verglich ein AfD-Abgeordneter im Bundestag das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933.

Eine 11-Jährige vergleicht sich mit Anne Frank, weil sie ihren Geburtstag heimlich feierte

Wieso trifft es jetzt Jana aus Kassel so hart? Woher kommt die Schadenfreude, die bei ähnlichen Debatten nicht ansatzweise so stark ist? Mitte November verglich sich eine Elfjährige auf der Bühne einer „Querdenken“-Kundgebung in Karlsruhe mit niemand Geringerem als Anne Frank, weil sie ihren Geburtstag heimlich feiern musste. Das Video des Auftritts lässt einen fassungslos zurück – trotzdem schlug es längst nicht so ein wie Jana aus Kassel.

Wie also bewirkte Janas Video einen Shitstorm?

Eine Erklärung könnte sein: Wir Zuschauer waren Zeuge eines geradezu kathartischen Moments. Des Moments nämlich, als der Ordner Jana seine Weste vor die Füße pfeffert. Die meisten Menschen in Deutschland schränken sich seit Monaten ein, sie sagen Partys ab, sie sehen Freunde und Familie seltener oder gar nicht. Gleichzeitig gehen „Querdenkende“ dicht an dicht gedrängt auf Demonstrationen und weigern sich, ein simples Stück Stoff zu tragen, um Mund und Nase zu bedecken. Das ist frustrierend. Und unfair.

Doch die Debatte findet meistens in getrennten Sphären statt: Wir schimpfen in unserem eigenen Freundeskreis und diskutieren in unserer eigenen Social-Media-Blase. Das Video zeigt einen der seltenen Momente, in dem sich zwei aus verschiedenen Lagern gegenüberstehen. Dieser Ordner hat das getan, was wir uns seit Monaten selbst wünschen: Zur Bühne laufen und Jana ins Gesicht sagen: „Hast du sie eigentlich noch alle?“

Jana hat fast schon religiöse Gefühle verletzt

Wie Jana dann in Tränen ausbricht und trotzig das Mikro auf den Boden wirft – grandios, Schadenfreude pur! Corona-Leugnende zeigen, wie sie wirklich sind: dumm, kindisch, kritikunfähig. So jemanden kann man nicht ernst nehmen.

Eine zweite Erklärung: Jana hat so etwas wie ein nationales Heiligtum entweiht. Die Bundesrepublik ist das, was der Politikwissenschaftler Herfried Münkler eine „postheroische Gesellschaft“ nennt: Eine Gesellschaft, deren Mantra heißt: „Wir haben gelernt.“ So wie früher machen wir das nie wieder. Alles, was Deutsche sein sollen, ist die maximale Abgrenzung zu dem, was vorher war. Diese Gesellschaft hat keine Helden, aber Sophie Scholl ist ein mahnendes Vorbild. Wenn Jana aus Kassel sich mit ihr vergleicht, ist das fast schon eine Verletzung religiöser Gefühle. Noch dazu kommt der Vergleich aus der „Querdenken“-Bewegung, in der Esoteriker an der Seite von Impfgegnerinnen, Reichsbürgern und Neonazis laufen.

Das wirkt zwar völlig skurril, doch Menschen wie sie glauben wirklich, dass wir auf eine Diktatur zusteuern. Das zeigt auch der zweite Teil ihrer Rede (ja, sie ist wirklich noch einmal auf die Bühne gegangen, hat den Vergleich mit Sophie Scholl wiederholt und ihre Rede fortgesetzt). Es sei „schlimm“, die Regierung könne alles mit ihnen machen, was sie wolle. „Ich habe Angst, dass die zu mir nach Hause kommen, weil ich auch sehr gefährlich lebe, weil ich ganz viele Sachen teile im Internet.“

Jana scheint wirklich nicht zu wissen, was Deutschland im Nationalsozialismus von Deutschland im 21. Jahrhundert unterscheidet. Viele fordern deshalb reflexhaft mehr und besseren Geschichtsunterricht. Das ist gut gemeint, würde aber nicht viel bringen. Es ist ein Irrtum, dass Nazis nicht genug Bildung genossen haben und nur aus Unwissenheit rechter Ideologie anheim gefallen sind. Nazis sind nicht dumm. Nazis sind Nazis. Björn Höcke war sogar Geschichtslehrer – trotzdem ist er rechtsextrem. Auch Coronaleugnende gehen einer Arbeit nach, haben studiert und lesen viel. Bei Ideologien geht es nicht um Fakten.

Auch Jana geht es nicht um Fakten. Dieses Video hilft zu verstehen, wie sie tickt. Darin hält sie eine Rede mit dem Titel „Politik ist eine spirituelle Angelegenheit.“ Sie trägt ein Gedicht vor (ja, wirklich) und geht von Menschlichkeit und Liebe nahtlos über zu Politik und vermeintlicher Unterdrückung. Auch in der Fortsetzung ihrer Rede in Hannover empfiehlt sie, Bäume zu umarmen und rät im nächsten Satz davon ab, Masken zu tragen.

Sie ist das ideale Opfer des Internets

Es ist leicht, sich über sie lustig zu machen. Wie soll man sie auch ernst nehmen, eine 22-Jährige, die sich ständig verhaspelt, deren Stimme zittert und die Mantras empfiehlt, um das Immunsystem zu stärken? Sie ist das perfekte Opfer des Internets: leicht aus der Fassung zu bringen und mit einem Hang zur Esoterik.

Inzwischen melden sich vereinzelt Menschen zu Wort, die Mitleid mit Jana haben. Sie hat öffentlich erzählt, dass sie unter Angststörungen und Depressionen gelitten hat, der Shitstorm setzt ihr vermutlich stärker zu als anderen.

Selbst schuld, sagen viele andere. Wer sich auf eine Bühne stellt und sich dabei filmen lässt, muss die Konsequenzen tragen können. Der Autor Hasnain Kazim hat das in einem Twitter-Thread so erklärt: Jana sei erwachsen und müsse sich der Folgen ihrer Worte bewusst sein. Meinungsfreiheit sei kein Recht auf Widerspruchsfreiheit. Entscheidend sei jetzt, dass es nicht beim Spott bleibe und Jana ihren Fehler verstehe.

Ob Jana durch den Shitstorm ihren zweifelhaften Vergleich überdenkt, ist fraglich. Auch deshalb sollte man sich überlegen, ob sie all die Empörung und den Spott wirklich wert ist. Der Moderator Micky Beisenherz twitterte, zu Geschichtssensibilität gehöre auch, „nicht jede zweite seltsame Figur gleich wahllos hochzuhitlern.“


Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele