Jeden Tag erscheinen in Deutschland 200 neue Bücher. Darunter Ladenhüter, aber ebenso weitgehend unbekannte kleine Perlen. Hidden Champions, die schlicht niemand wahrnimmt. Denn wer soll bei jährlich über 70.000 Neuerscheinungen, von denen nur ein Bruchteil in den Buchhandel kommt, den Überblick behalten?
Onno Tasler ist eines unserer treuesten KR-Mitglieder. Er trägt in der Krautreporter-Gruppe für Lösungen regelmäßig Nachrichten zusammen, die Hoffnung und Zuversicht geben und findet dabei nicht nur gute Meldungen. Er entdeckt auch ungewöhnliche und spannende Bücher. Onno liest Bücher, die nicht jeder liest.
In dieser Liste stellt er für Krautreporter sein Best of von wild ausgewählten Titeln vor, Romane und Sachbücher, die in jüngerer Zeit erschienen sind und die kaum in Bestsellerlisten zu finden sind.
1.
Gabriele Kögl: Gipskind (Gesellschaftsroman)
Dies ist ein klassischer Roman, der die Geschichte einer Außenseiterin erzählt, die sich durch eine feindliche Umwelt kämpfen muss. Sie spielt in der “guten alten Zeit”, als die Menschen noch naturverbunden in familiär geführter Landwirtschaft arbeiteten – und wo unter dem täglichen Arbeitspensum jeder unter die Räder kam, der nicht mit voller Kraft mitarbeiten konnte. Ein Buch für alle, die noch einmal erinnert werden wollen, was am Hier und Heute doch eigentlich recht angenehm ist. Zur Leseprobe
2.
Chigozie Obioma: Das Weinen der Vögel (Roman)
Ein Gesellschaftsdrama, gleichzeitig ein Schelmenroman und eine Reise in die westafrikanische Mystik. Obioma erzählt vom jungen Chinonso, der sich gegen sein Schicksal stemmt – und gegen die gesellschaftlichen Barrieren, die seiner Liebe im Weg stehen. Dies ist die Geschichte der großen, verzweifelten Liebe des jungen Hühnerfarmers Chinonso, der für die Frau seines Lebens Ndali alles aufgibt. Er verlässt seine Heimat Nigeria, um als ein anderer wiederzukehren, und durchlebt auf dieser Reise eine wahre Odyssee. Mit unbändigem Willen stemmt er sich gegen sein Schicksal. Und lädt schließlich große Schuld auf sich. „Das Weinen der Vögel“ präsentiert weniger eine klassische Geschichte als eine Folge von Szenen, in denen der Protagonist scheitert. Quasi ein Buch gewordenes Theaterstück aus Nigeria. Zur Leseprobe
3.
Conny Lüscher: Hornissenbrut (Horrorroman)
Sophie flieht mit ihrer achtjährigen Tochter Mia vor ihrem gewalttätigen Exmann in eine heruntergekommene Hochhaussiedlung. Ein Hornissennest, wie ihre schrullige Nachbarin das nennt. Was eine Zuflucht werden sollte, entpuppt sich als Albtraum. Nach einem ungeklärten Todesfall verschwinden zwei Kinder. Kurz danach auch ihre Tochter. Ein Horroroman aus der Sparte Psychothriller, klassisch durchkomponiert. Ein wenig Krimi, ein wenig Serienmörder, viele kauzige Gestalten und natürlich ein realistisch wirkender und gleichzeitig vollkommen überzogener Handlungsort. Zur Leseprobe
4.
Pyun Hye-young: Der Riss (Horrorroman)
Ein Horrorroman um einen Menschen, der nach einem Verkehrsunfall vollkommen gelähmt ist und den Launen seiner Pfleger ausgeliefert. Ogi hat Schuld an dem Unfall, durch den seine Frau getötet wurde. Von seinem Krankenbett aus schrumpft die Welt zusammen und im Inneren halten ihn beunruhigende Gedanken gefangen. Die Symbolik driftet gelegentlich ins Fantastische ab, aber im Großen und Ganzen bleibt der Roman immer in der Realität. Zur Leseprobe
5.
Antonio Ortuño: Die Verschwundenen (Krimi)
Krimis, die in Mexiko spielen, gibt es viele – aber meist werden sie aus amerikanischer Perspektive geschrieben. Dieser Krimi nimmt nun die mexikanische Perspektive ein, entspricht aber ansonsten genau dem, was man von einem guten Krimi im Bereich der Drogenkartelle erwartet: Verrat und Rache. Zur Leseprobe
6.
El Awadalla: Zu viele Putzfrauen. Ein Wiener Krimi
Krimis erzählen davon, was wir gerecht und was wir ungerecht finden, meistens garniert mit einer Leiche und einigen Stereotypen. Auch dieser, aber die Stereotypen werden mit sprachlichem Witz und Sarkasmus gebrochen: Eigentlich geht es gar nicht so um den Mörder, sondern um den Umgang der Polizei mit den nicht so österreichischen Verdächtigen. Am Ende wird natürlich trotzdem alles aufgeklärt, wie es sich gehört. Zur Leseprobe
7.
Sarena Ulibarri (Herausgeberin): Glass and Gardens: Solarpunk Winters (Science-Fiction)
Die Zukunft muss nicht hoffnungslos und düster sein, wie uns der Solarpunk zeigt: Technik kann uns auch erlauben, in einer besseren, nachhaltigeren Gesellschaft zu leben. Dieses Buch sammelt Kurzgeschichten zum Thema “Wie überlebt man mit umweltfreundlicher Technik im Winter” und natürlich auch, welche schwierigen Entscheidungen dieses Überleben trotz allem abnötigt. Zur Leseprobe
8.
Bina Shah: Die Geschichte der schweigenden Frauen (Science-Fiction)
Eine Dystopie, die wie alle guten Dystopien die Probleme heutiger Gesellschaften überzeichnet. In dieser geht es um Geschlechterfragen, Macht (sowie deren Grenzen) und Unterdrückung, aber auch um Zuneigung und Gefühle. Die pakistanische Frauenrechtlerin Bina Shah erzählt von einer modernen Hightech-Metropole, in der Kriege, Krankheiten und vorgeburtliche Geschlechtsauswahl die Zahl der Frauen extrem minimiert haben. Die Frauen werden verpflichtet, mehrere Ehemänner gleichzeitig zu haben und viele Nachkommen zu zeugen, um den Fortbestand der Menschheit sich sichern. Doch es gibt Frauen, die Widerstand leisten, und die sich im Untergrund zu einem Kollektiv zusammengeschlossen haben. In ihren nächtlichen Diensten bieten sie etwas an, das sich niemand erkaufen kann: Intimität ohne Sex.Zur Leseprobe
9.
Fabienne Siegmund u.a.: Herbstlande – Verklingende Farben (Fantasygeschichten)
Die Umschlaggestaltung deutet es mit ihren Pastellfarben schon an, die Herbstlande sind eine etwas unwirkliche Welt, die aber trotzdem in sich stets stimmig bleibt. Doch das freundlich-skurrile Bühnenbild täuscht, denn in den Geschichten geht es um menschliche und gesellschaftliche Probleme. Ein schönes Beispiel, wie man die Fantasy als Fassade nutzen kann, um schwierige Probleme leicht verdaulich zu präsentieren. Zur Verlagsseite
10.
Angélica Gorodischer: Kalpa Imperial – Das größte Imperium, das es nie gegeben hat (Fantasy)
Ein poetisches und phantastisches Buch, in dem das sogenannte Unendliche Reich beschrieben wird. Das ist ein Land, das es natürlich nicht gibt, das gleichzeitig alle Länder darstellt und keines, gesehen aus einer argentinischen Perspektive. Es ist abstrus, es ist lustig, aber es versteckt in dieser Absurdität auch einen neuen Blick auf soziale Probleme. Zur Verlagsseite
11.
Nwando Achebe: Female Monarchs and Merchant Queens in Africa (nur Englisch, Sachbuch)
Vieles von dem, was wir als ewig und allgemeingültig ansehen, ist wandelbar. Dieses Buch zeigt dies anhand der Rolle der Frau (und Geschlechterrollen allgemein) in verschiedenen afrikanischen Kulturen. Von Amma bis zur Göttin Inkosazana, von Sobekneferu bis Nzingha, von Omu Okwei bis zu den Töchtern von Igboland dokumentiert Achabe die Welten und Lebensgeschichten von afrikanischen Elitefrauen, weiblichen Prinzipien und privilegierten Frauen und Männern. Dabei begnügt sich die nigerianisch-amerikanische Historikerin nicht einfach damit, historische Figuren vorzustellen, sondern legt auch die dahinterliegende Weltsicht dar. Sie erforscht die Bedeutung von Namen, Metaphern, Symbolik, Kosmologie, Chroniken, Liedern, Volksmärchen, Sprichwörtern, mündlichen Überlieferungen, Schöpfungstraditionen und mehr. Zur Verlagsseite
12.
Christina Thompson: Sea People - The Puzzle of Polynesia (nur Englisch, Sachbuch)
Im 17. Jahrhundert trafen im Pazifik zwei seefahrende Entdeckerkulturen aufeinander: Europäer und Polynesier. Dieses Buch erzählt, wie schwer es den Europäern fiel, die Polynesier zu verstehen. Es beschreibt ausführlich die Irrtümer, denen die Europäer dabei aufsaßen, aber auch, wo scheinbar fantastische Annahmen später wissenschaftlich nachvollzogen werden konnten. Indem es den Irrtümern folgt, klärt es Vorurteile auf, ohne den Zeigefinger zu erheben – und zeigt gleichzeitig, wie faszinierend Polynesien ist. Zur Verlagsseite
13.
Heidi Rehn: Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben (Biografischer Roman)
Dieser Roman ist Teil einer Reihe biografischer Romane zu Künstlerinnen. Er changiert zwischen wissenschaftlicher Korrektheit und künstlerischer Freiheit. Wer sich für Künstlerinnen oder die Familie Mann um die Schriftstellerbrüder Heinrich und Thomas Mann interessiert, aber noch nicht so richtig viel Ahnung von beiden hat, findet hier einen brauchbaren Einstieg. Zur Verlagsseite
14.
Dimitris Lyacos: Poena Damni. Lyrik-Trilogie (Experimentell)
Das Buch kombiniert verschiedene literarische Gattungen, den gezielten Bruch von Rechtschreibung und Grammatik sowie kanonische europäische Texte. Die Sorte Buch für Leute, die gerne über das Sein an sich spekulieren und versuchen, ihre eigene Verwirrtheit zu überwinden. Zur Verlagsseite
Redaktion und Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele