Manchmal, wenn ich auf Social Media unterwegs bin, habe ich das Gefühl, die Welt geht unter. Menschen beschimpfen sich aufs Übelste und jeder noch so kleine Anlass wird zum Anlass für einen Shitstorm. Gerade die Pandemie scheint aus sonst höflichen Menschen geifernde Trolle zu machen. An schlechten Tagen kommt es mir vor, als würde die Welt nur noch aus Beschimpfungen und Hass bestehen. Deshalb konnte ich es kaum glauben, als ich las, dass die Gesellschaft gar nicht gemeiner geworden ist: In einer Doku über das Spätmittelalter erzählte mir die Stimme aus dem Off, wie sehr damals im Alltag geflucht worden sei. Vom Hurensohn bis zum Narrenesel: Höflichkeit war damals nicht im Trend.
Aber Geschichte hin oder her: Ich habe es trotzdem satt, dass die groben Menschen immer lauter zu hören sind, als alle anderen. Daher habe ich einen Vorschlag: Wir höflichen, netten Menschen müssen beleidigender werden.
Ich muss das wohl erklären.
Wer meine Texte liest, weiß vielleicht, dass ich vor ein paar Monaten schon einmal versucht habe, mich zu radikalisieren und Krawall auszuhalten, sogar mehr Streit zu erzeugen. Einfach war das nicht und bei dem Versuch habe ich mehr als nur Haare gelassen. Viele haben mir danach geschrieben, dass es ihnen ähnlich wie mir geht, dass auch sie lieber stumm sind, als die eigenen Gefühle auszudrücken. Ich glaube mittlerweile, dass auf jeden Typen, der auf Social Media rumtobt, ein Dutzend freundliche Menschen kommen, die dabei leise zuhören und den Kopf schütteln.
Wie also wäre es, wenn wir die Beleidigung endlich wieder von denen zurückholen, die ihren Hass in Pöbeleien gegen Frauen, Migrant:innen oder Medien ausdrücken? Vielleicht macht es uns leise Menschen stärker, präsenter im Diskurs. Und nebenbei lernen wir uns gegenseitig und unsere Art zu kommunizieren, besser kennen.
Tarek, werden Einige jetzt sagen, das ist bescheuert. Wer braucht denn mehr Beleidigungen? Dein Vorschlag wird die Welt noch brutaler machen. Das ist ein guter Punkt. Ich habe auch keine Lust auf noch mehr grobes Gepolter. Ich plädiere für etwas anderes: die gepflegte Beleidigung, den kleinen Gefühlsausbruch, die lustige Spitze zwischendrin. Das überzeugt dich nicht? Dann lies weiter. Denn hier kommen sieben Lektionen über die Kunst des Beleidigens.
Lektion 1: Beleidigungen gehören zur Sprache
Als Kinder waren Beleidigungen für uns ein Spiel: Wir fingen an, Dinge auszusprechen, die verboten klangen, wir spielten mit den Tabus und lachten uns darüber krank. Je älter wir wurden, desto mehr verlor die Beleidigung ihre Unschuld, desto derber, verletzender und gewalttätiger wurden die Worte. Vom „Pupsgesicht“ kommen wir irgendwann zu „Fotze“ und vom Sandkasten zur Facebook-Kommentarspalte. Aber ob es uns gefällt oder nicht, Beleidigungen gehören zur Sprache, von Anfang an.
Das habe ich mir von einem Mann bestätigen lassen, der ein Experte für Beleidigungen ist. Gerd Schwerhoff lehrt an der TU Dresden Geschichte der frühen Neuzeit und arbeitet an Projekten mit wie „Das Duell als kulturelle Praktik in der Frühen Neuzeit“. Außerdem ist er Sprecher für einen Sonderforschungsbereich, der sich mit Beleidigungen, Schmähungen und Herabsetzungen beschäftigt. Er sagt: „Wir gehen davon aus, dass so etwas zu unserem kommunikativen Grundgerüst gehört, was sowohl vorgestern, gestern wie auch heute und morgen immer präsent sein wird.“ Beleidigungen ziehen sich also durch die Geschichte, meint der Historiker. Das heißt: Sie sind nicht nur unhöfliches Gepolter, sie haben eine zwischenmenschliche Funktion.
Lektion 2: Beleidigungen sind ein Frühwarnsystem für die Seele
Eigentlich ist recht leicht zu erklären, warum wir überhaupt beleidigen oder fluchen: Wer flucht, baut Aggression verbal ab. Oder zeigt an, dass gerade etwas im Argen ist. Stell dir vor, du fährst mit dem Fahrrad über eine Kreuzung und ein Auto schneidet dir den Weg ab, du musst bremsen, bist kurz geschockt und dann bricht es aus dir heraus: „Du Arschloch, pass doch auf!“ Das tat gut, oder? Vor allem, wenn der andere es nicht hört. Aber was, wenn doch?
Als ich die KR-Community nach ihren Erfahrungen mit Beleidigungen gefragt habe, kam eine der interessantesten Zuschriften von Tanja, die in ihrer Familie gelernt hat, Schimpfen konstruktiv zu nutzen. „Wenn mein Vater mir irgendwas sagte, das mir aufstieß oder mich etwas ärgerte, dann konnte ich einfach sagen ‚Ach, der Unsympath wieder!‘ Dann weiß er gleich, dass seine Äußerung nicht so sehr auf Gegenliebe bei mir stößt, aber wir haben deswegen keinen Streit anfangen müssen.“ Für Tanja und ihre Familie spielen Beleidigungen also eine Rolle im Alltag. Für ihren Vater ist es ein Stopp-Zeichen und für sie ein Überdruckventil. Dem eigenen Vater eine Beleidigung an den Kopf zu werfen, kostet sehr viel Überwindung und kann auch erstmal schiefgehen. Tanja erzählt aber, dass dadurch die Familie besser funktioniere: „Es ist also zur gleichen Zeit ein Ventil gegen zwischenmenschlichen Frust und eine Rückversicherung unserer Beziehungsebene!“ Und dadurch ist dann auch wieder alles gut.
Eine andere KR-Leserin schrieb: „Die Wut kommt mit der Beleidigung raus, danach merke ich, dass es etwas übertrieben war.“ Diese Erkenntnis bringt sie dann dazu, sich auf den andere:n zuzubewegen und das Gespräch zu suchen. Ich kann das verstehen. Sich vor dem eigenen Ausbruch zu erschrecken und dadurch die ernste Situation anzuerkennen, um sie dann zu verändern. Beleidigungen als Frühwarnsystem für die eigene Seele sozusagen.
Lektion 3: Beleidigungen verändern sich mit der Gesellschaft
Als ich vor einiger Zeit die anfangs erwähnte Dokumentation über einen jungen Wundarzt im Mittelalter gesehen habe, fiel der Satz: „Beleidigungen waren damals Alltag.“ Ob früher auch härter beleidigt wurde als heute? Das sei nicht so einfach zu beantworten, meint Schwerhoff. Aber: Die Bedeutung von Beleidigungen haben sich definitiv geändert. „Früher waren Beleidigungen viel totaler und haben Menschen in ihrer gesamten Identität beleidigt. Wenn ich Sie jetzt als miesen Journalisten bezeichne, dann können Sie immer noch nach Hause gehen und trotzdem ein glückliches Leben führen.“ Im Gegensatz dazu, wäre ein „Du Dieb“ im Spätmittelalter ein Grund für eine Prügelei gewesen. Das liegt daran, dass mit dem Wort Dieb die Ehre des Gegenübers angegriffen wurde. „Diebstahl, als die heimliche Wegnahme einer fremden Sache, war unehrenhaft“, erklärt Schwerhoff. Körperliche Gewalt sei hingegen damals ehrenhaft gewesen, jemanden als Mörder zu bezeichnen, nicht so schlimm.
Das hängt sehr stark mit moralischen Werten einer Gesellschaft zusammen. „Ehre“ ist in westlichen Gesellschaften heute kein wichtiger, klar definierter Wert mehr, es ist daher schwierig, sie anzugreifen.
Beleidigungen verändern sich also mit der Gesellschaft. Das Wort „Hure“ wiederum ist für viele Menschen weiterhin eine sehr starke Beleidigung. Das liegt daran, erklärt Schwerhoff, dass die persönliche Integrität bei Frauen bis in die jüngste Vergangenheit eben sehr stark an die sexuelle Integrität gekoppelt war. Sexuelle Freiheiten gibt es für Frauen noch nicht so lange und selbst heute müssen sich viele Frauen für jede:n einzelne:n Sexualpartner:in rechtfertigen.
Doch es gibt Hoffnung: Freiheit und veränderte moralische Werte machen aus Beleidigungshammern irgendwann kleine Nadelstiche. Wenn mir heute jemand „Du Dieb!“ an den Kopf schleudern würde, müsste ich wahrscheinlich einfach lachen.
Lektion 4: Beleidigungen sind (manchmal) Selbstermächtigung
Die höchste Form des Beleidigens ist für mich der Battle-Rap, also das Beleidigungsduell, bei dem sich zwei Menschen abwechselnd beleidigende Reime an den Kopf werfen. Für mich war es ein erlösender Moment als der Rapper Eminem im Film „8-Mile“, der seine Lebensgeschichte erzählt, seinen Erzrivalen mit Worten fertig macht. Du kannst dich wehren, lernte ich daraus, auch wenn du körperlich schwächer bist. Du kannst den übermächtigen Feind fertig machen, ohne den eigenen Pazifismus zu betrügen.
Natürlich sind wir alle eher keine Battle-Rapper und zwischen uns steht auch kein Ringrichter, der eine Prügelei verhindert. Aber vom Battle-Rap können wir die ultimative Kunst des Beleidigens lernen.
Erstens: klare Regeln. In Rap-Battles hat jede:r ein Zeitlimit. Anfassen ist genau wie rassistische Kackscheiße verboten. Früher war auch die Familie der Kontrahenten tabu, aber, naja, deine Mutter halt …
Zweitens: Alle Beteiligten wissen Bescheid. Jede:r, der/die auf die Bühne steigt, weiß, dass die Beleidigungen maßlos übertrieben sind. Ein Beispiel: Fresh Polakke rappt in einem Battle diese Zeile: „Du willst mir drohen? Ich habe in einem Hoden mehr Testosteron als alle Hooligans aus Polen.“ Wer könnte so etwas ernst nehmen? Oder noch ein Beispiel, das Vyrus seinem Gegner an den Kopf geknallt hat: „Das liegt daran, dass zwischen uns Liegen liegen und ich rede nicht von Badeliegen auf den Malediven.“
Und drittens: Was auf der Bühne gesagt wird, bleibt auf der Bühne. Nach dem Battle geben sich die Rapper:innen die Hand, gehen von der Bühne und alles ist vorbei. So wie bei KR-Mitglied Tanja, die ihrem Vater etwas an den Kopf werfen und danach trotzdem ein gemeinsames Abendessen genießen kann. Oder denjenigen von euch, die mit ihren Partner:innen kreative Beleidigungen austauschen und sich am Ende doch lieben.
Lektion 5: Es ist auch eine Kunst, sich richtig beleidigen zu lassen
Diese durchprofessionalisierten Beleidigungen gibt es auch noch woanders: Roasts sind eine beliebte Erwachsenenbespaßung, ein Hit bei vielen Geburtstagsfeiern in den USA. Stell dir vor, du würdest an deinem Geburtstagsplatz sitzen und nacheinander würden deine engsten Freunde auf eine Bühne treten und dich und dein Leben auseinandernehmen. Deine etwas zu große Nase? Ein Lacher für alle. Dass du nie über eine rote Ampel gehen würdest und deine Socken nach Farben ordnest? Dafür kassierst du auf jeden Fall auch. Und wahrscheinlich lachst du mit.
Es gibt sogar im Internet Plattformen, auf denen sich Menschen selbst offenbaren und fordern: „Roast me.“ Mit einem Foto schreibt zum Beispiel eine: „Mein Gehirn ist viel grausamer zu mir, als ihr es je sein könntet. Lasst uns schauen, ob ihr es besser könnt.“ Und unter dem Foto kommentiert Nutzer „BojoMcCrackshot“: „Wenn du den Fotofilter noch weicher einstellst, wird dich Charmin verklagen.“ Und so wird aus dem zugegebenermaßen wirklich sehr stark bearbeiteten Foto und dem Verweis auf die Klopapierfirma auf einmal eine kreative Beleidigung.
Warum Menschen so etwas machen? Wie so vieles im Internet ist ein Antrieb sicher Langeweile und die Suche nach einer Erregung. Wenn das noch lustig ist und mit Regeln vereinbar, wird aus dem Verletzungsgefühl eine Selbstermächtigung. Denn wenn ich mich durch Beleidigungen nicht runterziehen lasse, dann stärkt mich das, vielleicht sogar für den Rest des Lebens. Selbst die gröbste Beleidigung ist dann auf einmal ein Grund zum Grinsen. Und: Irgendwie bringt uns dieses Verhalten zurück in den Sandkasten. An einen Ort, an dem Beleidigungen ein Spiel mit Tabus sind – kein wirklich persönlicher Angriff.
Lektion 6: Beleidigungen machen kreativ
Ein Meister der Schmähung war Martin Luther. Keiner schimpfte in seiner Zeit so hart wie der Reformator. Seine scharfe Zunge war berüchtigt, er schickte seitenlange Beleidigungsbriefe an seine Kontrahenten. Er nannte seine Gegenüber „verfaulter Wanst“, „Furzarsch“ und, den werde ich mir klauen, „Diener der Bäuche“, für besonders verfressene Zeitgenossen.
Natürlich kamen dann auch entsprechende Texte zurück, wodurch er seine Wut wieder neu justieren musste, um überhaupt eine wiederum passende Antwort schreiben zu können. Denn trotz Beleidigungen sind in den Briefen ja Argumente – wenn auch böse formulierte – ausgetauscht worden. Dass dieser Austausch auch öffentlich stattfand, sehen manche sogar als einen wichtigen Bestandteil für die Entwicklung der Menschheit.
„Schmähung ist etwas, das auch im Kopf passiert und nicht nur im Bauch“, erklärt Schwerhoff. Für eine wohldurchdachte Beleidigung müssen wir nachdenken, ansonsten ist es nur stupides Geplapper – und damit nicht besser als die Hasskommentator:innen im Internet. Mit schlauen Tiraden kann man sich radikalisieren, so wie ich es probiert habe, aber auch in Abgrenzung gegenüber seinen Gegner:innen Argumente schärfen. Wer weiß, ob Luther die westliche Welt dermaßen hätte durchrütteln können, wenn er ein höflicher Typ gewesen wäre.
Wer möchte, kann sich auch heute von Luther beleidigen lassen: Die Website Ergofabulous.org/luther/ schleudert Besucher:innen ausgewählte Schmähungen entgegen, Original Luther. Allerdings leider nur auf Englisch.
Lektion 7: Beleidigungen sind Rebellion
Für Luther war die Beleidigung aber nicht nur Selbstzweck und Schärfung der Argumente. Es war seine Rebellion gegen ein seiner Meinung nach ungerechtes und tyrannisches System. Nur mit einer gewalttätigen Sprache konnte er sich dagegen wehren. Und damit steht er nicht alleine. Denn die persönliche Beleidigung gegen unsere Gegenüber ist auch Rebellion. Hofnärr:innen und Satiriker:innen nutzen eine teils heftige Sprache, um sich gegen „die da oben“ aufzulehnen, ohne Gewalt anzuwenden. Denn Sprache lässt sich von Herrschenden schwieriger kontrollieren und zensieren. Einen üblen Witz können wir im Geheimen erzählen oder auf Zettelchen schreiben, ohne, dass das jemand verhindern kann. Deswegen gab es ja selbst in der DDR zahlreiche Witze über Honecker und die SED und überhaupt das Regime. Beispiel gefällig? Bitteschön: „Lieber ohne Glied im Puff als Mitglied in der Partei.“ Und auf einmal ist die Beleidigung ein Zeichen für die eigene Abgrenzung vom Regime.
Aus dieser Abgrenzung kann natürlich ein Gemeinschaftsgefühl entstehen. Wer gemeinsam über den Partei-Witz lacht, fühlt sich zusammengehörig. Und wenn man an das Böhmermann-Gedicht gegen den türkischen Präsidenten Erdogan denkt, dann können Beleidiger auch Staatskrisen auslösen.
Habe ich dich überzeugt? Wenn nicht, sehen wir uns in der Kommentarspalte
Es ist ja so: Wir stehen vor der Wahl, uns einer grundsätzlichen menschlichen Kommunikationsebene zu verweigern oder sie zu nehmen und die Möglichkeiten zu benutzen, um das Gute daraus zu ziehen.
Lass uns also die kleine Revolution starten. Nimm dir doch deine:n beste:n Freund:in und versucht, euch eine Stunde möglichst kreativ zu beleidigen. Setzt euch hin, werft euch den „Döspaddel“ an den Kopf, erinnert euch an die Zeiten im Sandkasten und die Energie, die ihr damals hattet.
Ich weiß, dass viele von euch das anders sehen. Aber ich habe die Hoffnung, dass wir damit denen die Waffen wegnehmen, die sie missbrauchen. Denn am Ende, so sagt auch Schwerhoff, kann die Beleidigung Notwehr sein.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Robert Rausch