Wir sehen die Autorin Joanne K. Rowling im Portrait, lächelnd, vor einer dunkelblauen Wand.

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Leben und Lieben

Warum die Autorin von Harry Potter plötzlich Voldemort ist

Seit Monaten wird Joanne K. Rowling als transfeindlich bezeichnet und beschimpft. Womit ging der Streit los? Wie kam es soweit? Und warum regen sich alle so auf? Ein Shitstormexplainer.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Es gibt eine Szene im fünften Buch der Harry-Potter-Reihe, in der Harry im Zaubereiministerium einen „Raum der Gedanken“ betritt. In der Mitte des Raums steht ein Becken mit dunkelgrüner Flüssigkeit, in dem Gehirne schwimmen. Als sein Freund Ron die Gehirne mit Zauberei zu sich ruft, packt ihn eines mit langen Gedankententakeln und wickelt ihn so eng ein, dass er tiefe Wunden bekommt.

So ähnlich muss sich J.K. Rowling, die Autorin der Harry-Potter-Bücher, in den vergangenen Monaten gefühlt haben. Nur ist ihr Raum der Gedanken Twitter und der Spruch, mit dem sie die Gehirne rief, ein vor böser Ironie triefender Tweet im Sommer 2020. Sie kommentierte damit einen Artikel des Entwicklungshilfeportals Devex, in dem anstelle von Frauen von „Menschen, die menstruieren“ die Rede war. Rowling kommentierte das so:

https://twitter.com/jk_rowling/status/1269382518362509313?lang=en

Schwer zu übersetzen, aber auf Deutsch heißt das ungefähr: „Menschen, die menstruieren.‘ Ich bin mir sicher, dass es mal ein Wort für solche Leute gab. Vielleicht hilft mir mal jemand. Frauben? Freuben? Fruumen?“

Wer soll denn sonst noch menstruieren außer Frauen?

Damit entfachte sie einen Shitstorm, gegen den aggressive Gedankententakel harmlos wirken. Die Potter-Fangemeinde stöhnte kollektiv auf, als hätte sich gezeigt, dass sie auf der Hinterseite ihres Kopfes das Gesicht von Voldemort trüge. Wer es sich antun will, kann auf Twitter seitenweise wüste an Rowling gerichtete Beschimpfungen und Drohungen finden, wie: „Bitte stirb doch“, und: „Ich hasse dich, Schlampe.“

Wer sich nicht auskennt, ist vielleicht erstmal auf Rowlings Seite und fragt sich, ob Rowlings Fans und die Schreiber von Devex noch alle Tassen im Schrank haben. Wer soll denn sonst noch menstruieren außer Frauen? Man begreift es erst, wenn man weiß, dass nicht alle Menschen, die mit Gebärmutter und Eierstöcken ausgestattet sind, sich als Frauen sehen. Transmänner und Menschen, die sich weder als Männer noch als Frauen identifizieren, kriegen ihre Tage. Und andererseits gibt es natürlich Frauen, die es nicht tun. Es gibt also tatsächlich gute Gründe, von „Menschen, die menstruieren“ zu reden und nicht pauschal von „Frauen“.

Rowling weiß das, denn sie beschäftigt sich seit Jahren mit Transthemen. Ihr Tweet ist absichtlich bissig. Denn sie hat ein großes Problem mit geschlechtsneutralen Formulierungen für körperliche Aspekte, die für sie eindeutig weiblich oder männlich sind. Und mit den Forderungen von Transaktivist:innen, die sagen, dass jede Person selbst bestimmt, welches Geschlecht sie hat oder nicht hat – unabhängig davon, wie ihr Körper aussieht. Jemand wie Cass Clemmer, auch „The Period Prince“ genannt:

https://twitter.com/periodmovement/status/921484792612442113/photo/1

Cass Clemmer gehört zur Generation von Leser:innen, die mit den Potter-Büchern aufgewachsen sind und für die Geschlecht keine feste, körperlich definierte Kategorie ist. Im Gegenteil: Es gehört zum Selbstverständnis dieser Generation, dass Geschlecht eine Identität ist, keine biologische Tatsache.

Mehr noch: Wie die Autorin Helen Lewis, Jahrgang 1983, in diesem Artikel über den Aufruhr der enttäuschten Rowling-Fans schreibt, ist das Thema „Trans“ eines der wichtigten Projekte ihrer Generation, ihr Kampf für soziale Gerechtigkeit. Für Feminist:innen aus Rowlings Generation wiederum, sie ist Jahrgang 1965, ist die Gleichbehandlung von Männern und Frauen das wichtigste Projekt.

Das ist der Grund dafür, dass sich in den letzten Monaten ein klaffender Graben zwischen Rowling und ihren Fans aufgetan hat. Ein Gespräch zwischen beiden Seiten könnte wertvoll sein – wenn es denn eins gäbe. Bisher gab es vor allem das übliche Twitter-Tosen, dieses „Lasst mich durch, ich habe eine Meinung!“, bei dem die Beteiligten sich in dem bestätigen, was sie sowieso denken. Aber vielleicht – vielleicht – liegt darin trotzdem eine Chance.

Warum Rowling sich mit der Trans-Community anlegt

Viele Harry-Potter-Fans haben sich nach Rowlings Tweet im Juni gewünscht, dass die Autorin von da an einfach die Klappe halten würde. Stattdessen legte sie nach. Als die Twitter-User ihr Transfeindlichkeit vorwarfen, schickte sie ihrem Menstruations-Tweet noch weitere hinterher,wie diesen: „Wenn Geschlecht nicht echt ist, wird die Realität von Frauen weltweit ausgelöscht. Ich kenne und liebe Transmenschen, aber Geschlecht auszulöschen, nimmt vielen die Möglichkeit, auf eine sinnvolle Weise über ihr Leben zu reden. Es ist kein Ausdruck von Hass, die Wahrheit zu sagen.“

Dann veröffentlichte sie auf ihrem persönlichen Blog eine sehr, sehr ausführliche Begründung für ihre Haltung (ein Word-Dokument in Schriftgröße 12 würde etwa zehn Seiten umfassen). Sie erzählt darin, dass sie zwei Jahre zuvor angefangen hat, sich für Transthemen zu interessieren, weil sie zu einer Romanfigur recherchierte. Und beschreibt ihren Konflikt mit der Transcommunity, der schon 2019 anfing (mehr zu dieser Geschichte, wenn du auf das „i“ am Ende dieses Absatz klickst).

Sie berichtet von ihrer eigenen Zeit als Teenager, wie „geschlechtslos“ sie sich im Geiste fühlte, und zitiert die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir („Das andere Geschlecht“), die schreibt, es sei für Frauen natürlich, sich über die Grenzen ihrer Geschlechterrolle zu empören. „Da ich damals in den 1980er Jahren keine realistische Möglichkeit hatte, ein Mann zu werden, mussten Bücher und Musik mir dabei helfen, mit meinen psychischen Problemen fertig zu werden und die sexualisierten Bewertungen und Urteile zu hinterfragen, die so viele Teenager-Mädchen in den Krieg gegen ihren Körper ziehen lässt“, schreibt Rowling.

Auf Twitter ist J.K. Rowling jetzt tot

Wer sich in seinem Leben schon einmal bemüht hat, Transpersonen zu verstehen, wird beim Lesen dieses Textes ein bisschen fassungslos. Transsexualität bedeutet nicht, dass ein Mensch ein bisschen verwirrt ist, was die eigene Rolle betrifft. Man „wird“ auch kein Mann. Vielmehr weiß die Person sicher, dass das Geschlecht, das die Gesellschaft ihr zugewiesen hat, nicht stimmt (wenn du mehr darüber lesen willst: Hier ein Erfahrungsbericht einer Transfrau). Ob Teenager diese Sicherheit schon haben können, lässt sich nicht allgemein, sondern nur von Fall zu Fall beantworten. Aber klar ist: Kein Hausarzt kann Jugendlichen einfach mal so Geschlechtshormone verschreiben wie Hustensaft. Genausowenig lösen ein paar gute Bücher und Songs die realen Konflikte, die transsexuelle Menschen spüren.

J.K. Rowling hat das nicht begriffen, so viel ist klar. Sie kämpft einen Kampf, von dem sie zu wenig versteht. Dass man sie dafür beschimpf und “TERF” nennt, nimmt sie nicht nur in Kauf, es stachelt sie sogar an. TERF ist eine Abkürzung für „Trans-exclusionary Radical Feminist“, im Deutschen spricht man von einem „trans-ausschließenden radikalen Feminismus“. Dahinter steckt der Glaube, dass Transfrauen nicht wirklich Frauen und Transmänner keine echten Männer seien. Rowling schickte ihren Blogpost mit dem Label „TERF-Wars“ ins Internet. Das war eine Kampfansage. Selbst die Hauptdarsteller aus den Harry-Potter-Filmen distanzierten sich danach von den Äußerungen der Autorin.

Aber auch das reichte Rowling noch nicht. Diese Woche hat sie unter ihrem Pseudonym Robert Galbraith einen Krimi veröffentlicht: „Troubled Blood“, zu Deutsch „Böses Blut“. Der Mörder darin: Ein Mann, der Frauenkleider trägt und in gestohlene Damenunterhosen masturbiert. Für ihre Fans auf Twitter ist sie seitdem tot. Wirklich: Am Tag, bevor das Buch herauskam, stand der Hashtag #RIPJKRowling („Ruhe in Frieden, J.K.Rowling“) an der Spitze der Twitter-Charts.

Die Empörung ist berechtigt, aber Rowlings Geschichte ist nicht egal

Es stimmt: Rowlings Roman bedient transphobe Klischees. Wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen keine Transpersonen kennen, sondern sie durch Bücher und Filme erleben, muss man aufpassen, welche Botschaften man seinem Publikum sendet. Erst recht, wenn es, wie bei Rowling, Millionen sind.

Doch in ihrem Blog schreibt Rowling etwas, das ihre Haltung nicht entschuldigt, ihr aber eine tiefere Dimension gibt. Ohne auf Details einzugehen, erzählt sie darin zum ersten Mal öffentlich, dass sie in ihrer ersten Ehe häusliche und sexuelle Gewalt erlebt hat. „Meine ewige Schreckhaftigkeit ist ein Familienwitz – und sogar ich weiß, dass es lustig ist – aber ich bete, dass meine Töchter nie die gleichen Gründe wie ich haben werden, plötzliche laute Geräusche zu hassen oder Leute hinter mir, die ich nicht kommen gehört habe.“ Sie schreibt, dass wegen dieser Erfahrung geschützte Räume für sie wichtig sind, zu denen nur ein Geschlecht Zutritt hat. Für Rowling heißt das: nur eine Art Körper.

Mit diesem Wissen wirkt der Mörder in Frauenklamotten in Rowlings neuem Roman auf einmal anders. Es ist nicht mehr nur eine Figur, die sich eine zutiefst transphobe Autorin ausgedacht hat, sondern die schlimmste Angstvorstellung einer Frau, die Gewalt erlebt hat. Die es tatsächlich bedrohlich findet, wenn ihr Heimatland über eine Reform des Gender Recognition Act diskutiert, die es Transpersonen einfacher machen würde, ihr Geschlecht juristisch zu ändern – also ohne medizinische Diagnose und langwierige Beweisführung, dass sie tatsächlich trans sind.

Vielleicht finden Rowlings Gegner:innen in den sozialen Medien, dass diese Angst realitätsfremd oder nicht wichtig ist im Vergleich zu dem Leiden und den Gefahren, die Transmenschen erleben, weil sie zu wenig geschützte Räume in der Gesellschaft haben. Wie wenig ihnen diese zugestanden werden, sieht man an den dummen Toilettendiskussionen und -witzen wie dem von CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer beim Karneval im Frühjahr 2019. Außerdem ist Rowling natürlich sehr reich und weiß und lebt heute in Sicherheit. Jedenfalls ignorieren Rowlings Gegner:innen die Offenbarung ihrer Vergangenheit ziemlich konsequent. Oder trampeln sogar brutal darauf herum. Ein besonders übler Tweet, der herumging: „J.K.Rowling, ersticke an meiner Penis-Prothese.“ Man kann von Twitter keine nuancierte Debatte erwarten. Das kommt schon mal vor, ist aber allgemein eher so realistisch wie ein Delfin, der Kuchen bäckt. Aber dass Menschen, die Rowlings Äußerungen als Gewalt gegenüber Transpersonen empfinden, nichts Besseres einfällt, als sie mit brutalen Drohungen und Hass zu überziehen, ist selbst für Twitter traurig. Dass es auch anders geht, zeigt die britische Organisation Mermaids in diesem Aufruf zum Gespräch an Rowling.

Harry Potter und der Wunsch nach Einfachheit

Es wird jetzt für einen Moment ein bisschen rührselig werden. Aber da müssen wir durch. Denn jede:r Potter-Fan weiß, dass eine zentrale Botschaft der Bücher lautet, dass Liebe die stärkste Kraft ist, die es gibt. Vielleicht ist die Liebe der Potter-Gemeinde stark genug, um verstehen zu wollen, warum manche Frauen wie Rowling sich von flexiblen Geschlechterkategorien bedroht fühlen. Und dass es nicht dadurch besser wird, dass man sie niederbrüllt. Der Streit um Rowling könnte dann der Anstoß für vielschichtige und komplizierte Gespräche sein. Für die Frage zum Beispiel, welche spezifischen Ängste Menschen mit Gewalterfahrungen in Bezug auf die Transgender-Debatte haben, und wie man ihnen diese Ängste nehmen kann, ohne die Rechte von Transmenschen infrage zu stellen oder zu beschneiden.

Um dieses Gespräch führen zu können, müssten die Fans über ihre Heldin hinauswachsen, wie Kinder über ihre Eltern, die eine neue Zeit nicht verstehen. Aber auch über die große Sehnsucht nach eindeutigen Erklärungen, die, wie Helen Lewis meint, so charakteristisch für ihre Generation ist. „Wenn ein achtes Harry-Potter-Buch herauskäme, würden wir es ‚Harry Potter und der verzweifelte Wunsch nach Einfachheit‘ nennen“, meint sie.

Denn die Wut auf Rowling ist ja nicht nur aus der Sorge um das Wohl von Transpersonen so groß. Sondern weil sie dieses einfache Bild zerstört: Sie ist nicht mehr einfach nur gut, nicht nur die Lichtgestalt, die wunderbare, inspirierende Jugendbücher geschrieben hat. Sondern ein komplizierter Mensch, der Licht und Schatten in sich vereint. Rowling war das perfekte erwachsene Vorbild, das weise Geschichten über Liebe, Freundschaft und Gerechtigkeit erzählt hat. Nun hat sie einige der wichtigsten Werte ihrer Leserschaft verraten und das ist so schmerzhaft, wie herauszufinden, dass die eigene Mutter Verschwörungsmythen auf Facebook teilt.

Das ist traurig – aber so ist das Leben. Man kann nicht vielschichtige Ansichten zu Geschlechtern gut finden und erwarten, dass Menschen ansonsten einfach sind. Rowlings Sündenfall bedeutet, dass ihre Fans, die eigentlich längst erwachsen sind, es nun wirklich werden und verstehen müssen, dass ein guter Mensch zu sein, eine komplizierte Sache ist. Man wird es nicht dadurch, dass man sich auf die Seite des richtigen Hashtags schlägt. Wir sind alle ein bisschen Voldemort. Man kann J.K. Rowling sein, Trump-Gegnerin, Brexit-Gegnerin, Großspenderin, Kinderbuchautorin – und trotzdem transfeindlich. Eigentlich kann man das sogar wunderbar aus Rowlings Büchern lernen. Denn die interessanteste und wichtigste Person darin war nie Harry Potter. Sondern, wie Lewis schreibt, „Severus Snape, der von Harrys Vater gemobbt wurde und es an Harry ausließ, der Harrys Mutter liebte und ihre Freunde verriet, der sich mit einer moralisch abstoßenden Tat rehabilitierte. Ein Tyrann, ein Opfer, ein Schurke und ein Held: ein Mensch.“


Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Robert Rausch