Inmitten eines grün bewachsenen Felds hält eine Hand an einem roten Luftballon fest. Im Hintergrund ist unscharf der Beginn eines Walds zu erkennen.

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Leben und Lieben

Anleitung zum Loslassen

In keiner anderen Sache bin ich so schlecht, wie darin, Dinge zu beenden und Vorstellungen zu begraben. Wie kann es einfacher werden?

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

Kein deutscher Kanzler saß länger im Sessel als Helmut Kohl. Unfassbare sechzehn Jahre stand er an der Spitze Deutschlands, das sind 832 Wochen, 5.840 Tage, 140.160 Stunden. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 78,9 Jahren für einen Mann in Deutschland entspricht das knapp einem Fünftel an Lebenszeit. Als Kohl 1998 dann gehen musste, nach all dieser Zeit, ging er nicht in Frieden mit sich und der Politik. Es war ein bitterer Abgang: Kohl kam nicht gut klar mit dem eigenen Machtverlust und der damit verbundenen Zäsur in seinem Leben – er konnte nicht loslassen.

Wer könnte es ihm verübeln? Ich jedenfalls nicht. Ich bin unfassbar schlecht in Enden. Das sage ich lieber gleich zu Anfang, denn es ist wahr: Egal, um was es geht, ich kann nicht schlussmachen.

Meine Mutter sagt immer: „Loslassen ist die schwerste Aufgabe im Leben.“ Ich scheitere jedes Mal aufs Neue an ihr. Wenn ich eine Beziehung beenden sollte, weil es einfach nicht mehr funktioniert. Wenn ich ein Abo kündigen müsste, weil ich es nicht mehr nutze. Wenn ich mich von bestimmten Vorstellungen verabschieden sollte, weil sie längst nicht mehr in mein Leben passen (dazu später mehr). Oder wenn ich einen Witz immer noch erzähle, obwohl in meinem Umfeld nie jemand darüber gelacht hat außer ich selbst („Was ist gelb-weiß gestreift, qualmt und fliegt durch die Luft? Ein Flammbienchen!“).

Dabei gehört Loslassen zum Leben wie schlechtes Wetter und fade Montage. Beziehungen, Jobs, Geld, Wohnungen, die eigenen erwachsenen Kinder, Jugend, Schönheit, Gesundheit: Je älter wir werden, desto mehr müssen wir loslassen.

Das Problem ist: Loslassen macht überhaupt keinen Spaß

Dazu kommen Schicksalsschläge oder gesellschaftliche Umbrüche – die Corona-Krise hat das auf besondere Weise gezeigt. Vorstellungen und Regelungen, die für jeden von uns selbstverständlich galten (Kinder gehen in die Schule, Erwachsene ins Büro, der Handschlag ist die universelle Geste der Begrüßung) waren plötzlich nicht mehr gültig. Der Experte für Trauerbewältigung David Kessler sagte es im ersten Pandemiejahr 2020 im Interview mit meiner Kollegin Theresa so: „Vor wenigen Monaten lebten wir in einer anderen Welt. Und wir wissen nicht, wie sie von nun an aussehen wird.“ Wir alle verloren etwas in den Pandemiejahren – wir alle mussten loslassen. Manche ihre Lieben durch den Tod, andere ihren Job, viele ihre Gesundheit, der Großteil von uns ein Stück Sicherheit, alle ihre Gewohnheiten.

Und genau das ist das Problem mit dem Loslassen: Es macht keinen Spaß. Sondern wirft neben Trauer und Angst all die großen Fragen auf, auf die sich so schnell keine Antworten finden lassen. KR-Leserin Carola hat einige von ihnen in einer Mail an mich formuliert: „Was erwarte ich mir vom Loslassen? Ist Festhalten das Gegenteil von Loslassen? Was habe ich davon? Wozu soll loslassen gut sein?“

Damit Veränderung möglich ist, wäre eine Antwort. Weil Festhalten so anstrengend ist, eine weitere. Weil äußere Umstände mich dazu zwingen, eine dritte. „Ich stelle immer wieder fest: Wenn ich aufhöre, mich gegen irgendwas zu wehren, ist es sofort gut, so wie es ist. Die bedingungslose Akzeptanz dessen, was ist, verschafft sofort Ruhe.“ Das schrieb mir KR-Mitglied Markus in einer Mail. Man kann seine Worte als indirekte Antwort auf Carolas Fragen lesen – wenn die Sache mit der Akzeptanz nur nicht so schwer wäre.

Ich halte an einem Bild fest, das nicht mehr meins ist

Seit Jahren will ich etwas loslassen und schaffe es nicht: Die Vorstellung, wie ich als moderne, emanzipierte Frau Mitte 30 zu sein habe. Diejenigen unter euch, die öfter Texte von mir lesen, wissen, dass dies nicht der erste ist, in dem ich mir die Frage nach Geschlechterbildern und Lebensmodellen stelle. Und noch immer beschäftigt mich das Thema. Ich suche meine Rolle.

Als ich noch jünger war, mit Mitte 20, war ich mir sicher, mit Mitte 30 alles eingetütet zu haben: Mann, Job, Familie. Ich stellte mir vor, wie ich mit meinem Partner in unserem Wohnzimmer sitzen würde, ein Baby auf dem einen Arm, meinen Laptop vor mir. Wie ich gleichzeitig Partnerin, Mutter und Journalistin sein würde, erfolgreich natürlich. In meiner Vorstellung hatte alles, ja: eine Ordnung. Erst der Job, dann die Familienplanung. Die Dinge folgten einem Plan, den ich in meinem Kopf festgelegt hatte.

Dann wurde ich älter, reflektierter, kritischer. Zog in die Großstadt, reiste ins Ausland, lernte durch meinen Beruf verschiedene Lebensentwürfe kennen. Und, sagen wir es so: Der vielleicht naiven Vorstellung meines erwachsenen Ichs kam das Leben dazwischen. Mittlerweile bin ich Mitte 30 – und habe im Privaten nichts eingetütet. Die Dinge sind nicht geordnet.

Seit Jahren arbeite ich mich an der Frage ab: Kind ja oder nein? Familie ja oder nein? Wenn ja: wie? Dabei stecke ich als Frau mitten in der Rushhour des Lebens, wie es die Soziologin und Professorin für Geschlechterforschung Sarah Speck kürzlich in einem Interview mit der ZEIT beschrieben hat: „Junge Frauen stehen unter einem unglaublichen Druck: Selbstverwirklichung, Karrierestart, Familiengründung – all das fällt meist in die Jahre zwischen 30 und 40.“ Und es stimmt: Um mich herum werden Babys geboren, Hochzeiten gefeiert, Karriereschritte geplant, alte Jobs verlassen und neue angetreten. Tatsächlich spüre ich den Druck als Frau, den Sarah Speck anspricht, jeden Tag.

Wieso fühlt sich Loslassen nach Scheitern an?

Wie sehr die Frage „Was will ich?“ aber nicht nur rein subjektiv ist, sondern auch mit normativen Vorstellungen zusammenhängt, die wiederum beispielsweise durch meine Herkunft geprägt wurden, habe ich erst vor Kurzem verstanden. Familie beispielsweise: Ich komme aus einem kleinen Dorf in Westdeutschland, so gut wie jede Frau bekommt dort Kinder und heiratet, meistens baut man danach auch noch ein Haus. Mit diesen Bildern um mich herum bin ich aufgewachsen. Deswegen geistert jene Lebensvorstellung wie wild durch meinen Kopf – dabei passt die Idee eines solchen Lebens gar nicht zu meinem jetzigen Ich, zu meinem Leben in Berlin. Ich will kein Haus bauen, ich habe keinen Partner, ein Kind auch nicht. Trotzdem werde ich die Idee nicht los. Sie zerrt an mir. Und zuweilen quält sie mich.

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Weil ich das Gefühl habe, dieser theoretischen Vorstellung meines Ichs nicht gerecht zu werden. Nicht so, wie andere und ich es von mir erwarten – ich messe mich selbst an einem Bild, das nicht für mich gilt.

Wenn das aber so ist, wieso fällt es mir so schwer, dieses Bild loszulassen? Wieso fühlt sich das nach Scheitern an – und nicht nach einem richtigen Schritt, nach einer Zäsur, die nötig ist, um weiterzukommen?

Vielleicht, weil Unsicherheit zunächst einen Leerraum schafft, der sich bedrohlich anfühlt. So hat die Philosophin Natalie Knapp es mir jüngst erklärt, als ich sie für ein Interview anrief. „Deswegen steht man in Phasen der Unsicherheit unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Stress. Das ist ein Kontrollverlust, der sich für viele Menschen sehr unangenehm anfühlt.“

Tatsächlich bin ich ein Kontrollmensch. Knapp hat mir aber einen Tipp mit auf den Weg gegeben, mit dem das Loslassen besser klappen kann: „Man muss sich auch Geschichten des Gelingens erzählen, sich in einen Kontext einfügen, der mir ein Gefühl gibt, dass eine Veränderung möglich ist. Man braucht einen Kontext, in dem man positive Erfahrungen machen kann, die einen stärken, der eigenen Konstitution entsprechend.“

Man braucht Mittel gegen die Angst

Was Knapp meint: Niemand kann loslassen, wenn sie oder er sich nur Angst-Gedanken über die Zukunft ausmalt. Positive Geschichten hingegen und eine Gemeinschaft, die einen trägt, helfen viel eher dabei, Kraft für eine nötige Entscheidung und somit fürs Loslassen zu finden: Der Kollege, der vor lauter Unzufriedenheit gekündigt hat – und jetzt happy ist als Selbstständiger in einer Bürogemeinschaft. Die Freundin, die eine unglückliche Ehe führte, sich endlich hat scheiden lassen – und nun als Single mit ihren Freundinnen eine neue Unbeschwertheit feiert. Die Cousine, die während ihrer Schwangerschaft so viel Angst vor der Mutterrolle hatte – und den neuen Job als Mutter nun rockt, als hätte sie nie etwas anderes getan.

In all diesen Beispielen geht es darum, der Angst vor Veränderung etwas entgegenzusetzen. Sich zu sagen: „Es kann auch klappen. Es können positive Wendungen eintreten, von denen ich niemals annahm, dass sie passieren würden.“

KR-Leserin Katharina hat mir folgende Tipps geschickt, die in diese Richtung gehen:

  1. Hör auf, dir Dinge vorzustellen, um damit schmerzhafte Gefühle künstlich zu erzeugen.
  2. Hör auf, ständig in der Vergangenheit zu verharren, sondern bleib lieber im gegenwärtigen Moment und frag dich, wie du dich fühlst.
  3. Fühle alle Gefühle, die von selbst hochkommen. Deine Heilung geschieht von selbst, wenn du dich hingibst und nichts machst. Denken ist dabei schon ein Tun.
  4. Beende den Widerstand. Akzeptiere dein Schicksal und das des anderen, wie es ist. Du weißt nämlich in Wahrheit nicht, was für dich oder den anderen Menschen am besten ist.
  5. Erlaube dir den Schmerz und die Traurigkeit zu fühlen. Lass es fließen. Nur so kannst du das Kapitel abschließen und somit wieder Freude empfinden.

Es geht aber auch anders: „Radikale Konfrontation“, so beschreibt Samuel Koch seinen persönlichen Ansatz zum Loslassen. Die meisten von euch kennen Koch. Nicht persönlich, dafür umso mehr als tragischen Meilenstein der deutschen Fernsehgeschichte.

Am 4. Dezember 2010 tritt Koch, ein blonder, fitter und sympathischer junger Mann, bei „Wetten, dass…?“ auf. Erst vor zwei Monaten hat er sein Schauspielstudium begonnen, unter anderem, weil er im Studium reiten, fechten, tanzen oder akrobatisch turnen kann. Seit jeher spielt Körperlichkeit für Koch eine große Rolle: Mit 12 Jahren besucht er zum ersten Mal eine Stunt-Schule, lernt Flik-Flaks, Salti oder wie man sich professionell die Treppe hinunterstürzt. Auch die Wette, die er an diesem Abend eingeht, ist eine sportliche: Koch will mit Sprungstiefeln und in Vorwärtssalti über fünf Autos springen, die ihm entgegenfahren. Eine spektakuläre Wette – die er hunderte Mal geprobt hat.

Er hat keine Wahl – er muss loslassen

Und dann, an diesem Abend, passiert das, was niemals hätte passieren dürfen, live vor einem Millionenpublikum: Koch springt bei einem der Autos statt darüber dagegen, stürzt – und bleibt regungslos am Boden liegen. Die Sendung wird daraufhin abgebrochen. Und Koch wird nie mehr der Mann sein, der er bis zu diesem Moment war.

Monate wird er im Krankenhaus verbringen. Mit 23 Jahren erhält er die Diagnose inkomplette Tetraplegie C3-Sub-C4. Querschnittslähmung.

„Ich bin ich mit dem Kopf gegen ein Auto gerannt, habe mir viermal das Genick gebrochen und bin seitdem von selbigem abwärts gelähmt“, so beschreibt Koch den Unfall in seinem Buch „StehaufMensch!“. „Ich kann keinen Finger rühren und bin rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Meine Lebensentwürfe und Wunschvorstellungen waren zerstört. Hätte man mich zu diesem Zeitpunkt gefragt, was mein Plan B ist, hätte meine Antwort etwa so ausgesehen:
A: Ich habe keinen Plan B.
B: Ich halte an A fest.“

Bloß gibt es für Koch Option A nicht mehr. Sein altes Leben löst sich vor seinen Augen auf. Er hat keine Wahl – er muss loslassen.

Wie er das geschafft hat? Unter anderem eben durch „radikale Konfrontation“, wie er es in seinem Buch beschreibt: „Nach der langen Zeit der Reha war es für mich ein ganz entscheidender Schritt, zurück an die Schauspielschule nach Hannover zu gehen, an der ich vor dem Unfall zu studieren begonnen hatte”, schreibt Koch. „In der Reha und danach zu Hause hatte ich mich die ganze Zeit in einer Sondersituation befunden, weit ab von allem, was vorher gewesen war. Meinen Zustand zu akzeptieren war dort schon schwer genug, aber irgendwie machbar. Zurück in Hannover musste ich mich noch einmal ganz neu den Konsequenzen und Veränderungen stellen.“

Das sei schmerzhaft und ekelhaft gewesen, steht es in Kochs Buch, habe ihn aber einen wichtigen Schritt nach vorne gebracht. „Möglicherweise war der totale Zusammenbruch meiner Vorstellungen auch eine Chance. Ich glaube sogar, dass es im wahrsten Sinne des Wortes notwendig war. (…) Aus dem scheinbaren Nichts, das mir an Möglichkeiten noch geblieben war, fing etwas Neues an zu wachsen.“

Wenn der Mut fehlt, muss man Anlauf nehmen

Vielleicht geht es vor allem darum: Wer alte Bilder von sich oder der Welt loslässt, braucht neue. Wer etwas anderes sein muss, weil das Leben einen zwingt oder weil man es sich wünscht, muss Raum schaffen – und manchmal loslassen, ohne zu wissen, was danach kommt. Den Wechsel wagen, trotz der Angst.

Es gibt zwei Personen in meiner Familie, die ich loslassen musste, obwohl ich nicht wollte. Aber wenn jemand stirbt, ist man machtlos. Es gibt keinen größeren Kontrollverlust als den Tod. Ausgerechnet eine dieser beiden Personen war es, die mir einen Satz mit auf den Weg gegeben hat, an den ich immer wieder denke: „Dem Mutigen gehört die Welt.“

Manche mögen diese Worte für Kitsch halten. Ich glaube aber, es steckt viel Wahrheit und Weisheit darin; wer nicht mutig ist, wird niemals loslassen.

Aber nicht immer schafft man es, mutig zu sein. Dann muss man Anlauf nehmen. Denn wenn man es schafft und sich traut, kann das herauskommen, was KR-Mitglied Ute mir von sich erzählte:

„Wird das was mit uns beiden? Ein verheirateter Mann, 600 km Entfernung? Schlechte Vorzeichen. Warten auf das Telefonklingeln. Ich wollte das nicht. In der Zeit habe ich das Vertrauen entdeckt. Vertrauen heißt ja, nicht wissen. Aber ich konnte auf mich vertrauen. Das Schlimmste, was passieren konnte – ok, übel. Aber ich würde das durchstehen. Das war ein sehr tiefes Gefühl im Bauch, das es mir ermöglicht hat, loszulassen.

Nächstes Jahr feiern wir 30 Jahre.“


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Belinda Grasnick; Bildredaktion: Verena Meyer.