„Hat mich sehr gefreut, mit mir zu reden“ – die Kunst des Selbstgesprächs

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Leben und Lieben

„Hat mich sehr gefreut, mit mir zu reden“ – die Kunst des Selbstgesprächs

Wer hin und wieder mit sich selbst spricht, ordnet seine Gedanken, kommt sich näher und hat sogar das Zeug zum Genie.

Profilbild von Roland Rödermund

„Oder wollen wir Lasagne machen?“, fragte ich in Zimmerlautstärke, als ich gerade das Gemüse am Eingang unseres Provinz-Supermarktes inspizierte. Für ein paar Wochen hatte ich Hamburg gegen die alte Heimat, ein westfälisches Dorf, getauscht, um meine Eltern in diesen schrägen Zeiten der Corona-Krise zu unterstützen. Zum Einkaufen waren sie allerdings nicht mitgekommen. Ich redete mit mir selbst. „Ach nee, Papa will nichts mit Nudeln“, antwortete ich mir, schnalzte mit der Zunge und schüttelte leicht den Kopf, während eine Mitarbeiterin einen Hubwagen mit Paletten an mir vorbeibugsierte.

Sie zog die Augenbrauen hoch und grinste leicht spöttisch. „Schon wieder so einer!“ und „Nachschub? Spirituosen sind drei Gänge weiter“, schien ihr Gesicht zu sagen. Ich zuckte kurz die Schultern. Und fragte mich zwei Minuten später laut, während ich durch den doch sehr großen Laden spähte: „Wenn ich jetzt Gemüsebrühe wäre …, wo würde ich hier rumstehen?“

Hört, hört: Es ist wohl die Zeit der Selbstgespräche

„Denken ist das Selbstgespräch der Seele“, sagte (sich) schon der griechische Philosoph Platon – und klar, welche Seele hat wohl dank Corona-Krise und sechs Wochen mit den Eltern keinen vermehrten Redebedarf?

Ich weiß, dass es nicht nur mir so geht. Ein Freund berichtete mir kürzlich, dass er einem Spaziergänger auf der Straße gelauscht habe, der intensiv mit sich selbst redete. Zuerst dachte er: „Naja, der spinnt halt.“ Aber bei genauerem Zuhören merkte er, dass der Herr sich selber eine Vorlesung über die philosophischen Grundlagen des Kommunismus hielt. Und zwar so eloquent, dass mein Freund ihm eine Weile fasziniert folgte.

Eine enge Freundin wiederum, die gerade mit Mann und zwei Kindern bei ihren Eltern wohnt, erzählte mir: „Ich komme gerade aus der Waschküche, wo ich mir erstmal einen fünfminütigen Rant über meine Mutter gegönnt habe. Nur für mich allein. Also ich wüsste nicht, was ich machen sollte, wenn ich nicht mal zu mir selbst laut sagen dürfte, was ich denke.“

Eine andere gesteht: „Ich bedanke mich schon immer bei mir selbst fürs Kochen und mache mir dann beim Essen Komplimente, wie gut es schmeckt. Neu ist, dass ich nun auch mit dem Gemüse in meinem Kühlschrank spreche. Gerade heute noch zum Brokkoli: ‚Willst du mit den Erbsen in einen Topf …?“

Es ist offenbar eine große Zeit für Selbstgespräche, und das ist mir sehr recht: Denn jetzt kann ich gestehen, dass ich schon immer heimlich mit mir selbst gesprochen habe. Ich bespreche mit mir Beziehungsprobleme, übe wichtige Gespräche mit Freunden oder Gehaltsverhandlungen im Vorhinein. Ausführlich. Klingt bescheuert, weiß ich. Aber mich beruhigt das. Und am Ende führt die Diskussion mit mir selbst fast immer zu Erkenntnissen.

In der Regel geht es um den inneren Dialog, der nach außen drängt

Bisher habe ich mir allerdings verkniffen, laut mit mir selbst zu reden, wenn ich unter Leuten war. Ich frage mich, ob mein Supermarkt-Selftalk über Nudelgerichte noch „normal“ ist oder ob er durch Isolation und allgemeine Unsicherheit befördert wird. Sollte ich mir Sorgen machen? Und mit mir alle anderen Menschen, die im Frühling 2020 öfter mit sich sprechen als sonst? Ich frage Merle Seemann, sie ist NLP-Coach und Körpertherapeutin. Als Ergotherapeutin arbeitet sie auch viel mit Wahrnehmungsstörungen aus der Geriatrie, Psychiatrie und Neurologie. Dabei vor allem mit Psychotikern, die nicht mit sich selbst sprechen, sondern mit Stimmen in ihrem Kopf. Sie kann also beurteilen, ob ich spinne. „Keine Sorge“, beruhigt sie mich, „bei Selbstgesprächen, wie du sie schilderst, geht es in der Regel darum, dass man einfach ausspricht, was andere nur denken. Diese Gespräche gibt es also im Inneren sowieso, es macht eigentlich keinen Unterschied, dass man sich laut antwortet.“ Eigentlich ist mein Supermarktgespräch also nur die Verlängerung dessen, was ich im Inneren eh schon vorher mit mir verhandelt habe.

Selbstgespräche sind außerdem ein Ventil für Emotionen, die sich angestaut haben und intensiv ihren Weg nach außen suchen: Das eruptive „Verdammte Scheiße!“, wenn man ausgerechnet auf dem Weg zu einem wichtigen Termin die Bahn verpasst. Der „GEI-EL!“-Ausruf, wenn einem kurz vor der Deadline endlich die ersehnte Überschrift für einen Text einfällt. Die wüsten Beleidigungen, die ich meinem Computer entgegenschleudere, wenn wieder die Enter-Taste klemmt: „Du kleiner W*****, ich schmeiß dich aus dem Fenster!“

Menschen, die von sich aus eher strukturiert sind, brauchen Selbstgespräche weniger, sagt Seemann. „Die machen sich vielleicht einfach eine Einkaufsliste und wissen genau, was sie wollen. Ist man dagegen impulshaft oder chaotisch, hilft das laute Aussprechen von Gedanken, um den vielen Reizen der Umwelt zu begegnen und sich zu organisieren. Man vergisst schon mal die Öffentlichkeit, schämt sich dann aber, wenn man ertappt wird.“

Du hörst deine eigenen Sprachnachrichten ab? Nur zu!

Komisch, dass es noch dermaßen verpönt ist, öffentlich mit sich zu sprechen. Wo wir doch daran gewöhnt sind, dass Menschen auf der Straße vermeintlich mit sich reden, während sie über ihre Kopfhörer telefonieren oder minutenlange Sprachnachrichten ins Handy sprechen – und sie sich vielleicht danach sogar selbst anhören. Das tue ich manchmal. Nicht etwa, weil ich mir so gerne zuhöre, sondern weil ich mir dadurch klarmache, wie ich wirke, wie ich rüberkomme oder wie ich bestimmte Dinge gesagt habe.

Vielleicht müsste uns klarer werden, dass nahezu alle Menschen täglich Selbstgespräche führen – nur meistens in ihrem Inneren und nicht laut. Das Aussprechen kann helfen, Gefühle und Gedanken zu regulieren, die Wahrnehmung zu schulen und sich zu fokussieren. Und es befeuert sogar unsere Intelligenz. Das fanden Forscher:innen der walisischen Bangor University heraus. „Statt Anzeichen für eine psychische Erkrankung zu sein, kann sie das Selbstgespräch intellektuell kompetenter machen“, sagt die leitende Neuropsychologin Paloma Mari-Beffa dazu. „Das Klischee des verrückten Wissenschaftlers, der verloren in seiner eigenen inneren Welt mit sich spricht, könnte auch auf ein Genie hindeuten, das alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um seine Gehirnleistung zu steigern.“ Sogar Siege beim Sport werden wahrscheinlicher, wenn man mit sich selbst in der zweiten Person spricht. Auch das fand man in Bangor heraus („Come ooon, Serena! You can do this!!“).

Die meisten lassen ihre Selbstgespräche trotzdem erst laut werden, wenn sie sich ungehört fühlen: in der Pause auf dem Klo, im Auto – oder zuhause, wie Miranda in der gleichnamigen britischen Sitcom, die aus Einsamkeit mit ihren Fruit Friends spricht und singt.

Es macht (fast) keinen Unterschied, ob du leise oder laut zu dir sprichst – es sei denn, du bist schizophren

https://www.youtube.com/watch?v=_yc3iZuLDhA

Psychologen unterscheiden nicht zwischen „kleineren“ Selbstgesprächen in den eigenen vier Wänden und solchen in der Öffentlichkeit. Merle Seemann erklärt, warum meine Selbstgespräche im Supermarkt keine pathologischen Züge haben: „Du antwortest ja nicht auf eine Anweisung von innen, die dir gesagt hat, dass die Verkäuferin ein Alien ist.“ Mir sei also bewusst, dass ich ein Selbstgespräch führe.

Denn klar, anders verhält es sich natürlich mit Dialogen, die Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung führen oder den unterschiedlichen Stimmen, wie sie durch akustische verbale Halluzinationen bei Schizophrenie ausgelöst werden. Ein Sonderfall sind auch die spontanen, unkontrollierten Ausrufe von Obszönitäten, wie sie manchen Tourette-Patienten passieren.

Der US-Psychologe Thomas Brinthaupt von der Middle Tennessee State University, eine Autorität in Sachen Selbstgespräche, hat bereits 2009 mit Kollegen in der so genannten „Self-Talk Scale“ vier Funktionen von Selbstgesprächen festgehalten.

Es gibt vier Gründe, warum Menschen mit sich selbst reden

Erstens dient das Gespräch dem Selbstmanagement („Ich muss später unbedingt noch den Brief zur Post …“). Zweitens hilft es, soziale Situationen einzuschätzen und Impulse zu kontrollieren. Mich erinnert das an meinen Kumpel K., dem ich neulich eigentlich sagen wollte, dass ich seine ständige schlechte Laune zum Kotzen finde und er nicht so viel Selbstmitleid haben soll. Als ich dieses Gespräch vorher zur Probe mit mir selbst führte, merkte ich schnell, dass diese Haltung wiederum von mir ziemlich zum Kotzen war. Im Zoom-Gespräch habe ich ihn dann lieber bei zwei Gin Tonic positiv bestärkt: „Das schaffst du schon.“ Und siehe da: Er jammerte gar nicht.

Drittens gibt uns das Selbstgespräch unverstellte Selbstkritik an die Hand („Roland, Alter, was verzapfst du hier schon wieder für einen grenzenlos banalen Schwachsinn?“). Leider ist diese Kritik – und das wiederholt man jetzt am besten laut dreimal hintereinander – gleichzeitig die größte Falle beim Selbstgespräch. Viele Menschen machen sich da über alle Maßen fertig. Und verleihen negativen Stimmen von Eltern, Lehrern oder Gegnern Ausdruck. Vielleicht brechen sich auch das unzufriedene innere Kind oder das schlechte Gewissen Bahn. Das Fatale: Wenn man diese Stimmen ständig wiederholt, glaubt man irgendwann wirklich, dass man einfach gar nichts kann und sowieso alles schlecht ausgehen wird („hab ich dir doch vorher gesagt“).

Ich habe meinem inneren Kritiker irgendwann sogar einen Klugscheißer-Namen gegeben: Knut-Henning Ahlefeldt Loervig, alias Der innere Zensor (DIZ). Manchmal frage ich ihn (innerlich), wie er eine Textpassage findet, oder sage auch mal laut sowas wie: „Knut-Henning, jetzt mal schön locker durch die Hose atmen!“ Ich habe das Gefühl, dass er inzwischen entspannter ist als früher.

Das bringt uns zum vierten Punkt: Die Selbstbestätigung! „Roland, du schlauer Fuchs. Das hier sind total relevante Gedanken, viele Leute wollen das lesen, bleib dran …“ Wir sagen uns viel zu selten, dass wir im Grunde genommen super sind, und lassen uns stattdessen von unserem inneren Knut-Henning bereitwillig das Gegenteil verklickern.

Mischformen gibt es natürlich auch. Ein Beispiel ist der oft zitierte, eineinhalbminütige und hamletwürdige Monolog von Tommy Haas im Viertelfinale der Australian Open 2007. Er nennt sich Haasi, macht sich runter, „Ich kann es nicht!“ (das ist nicht gut), spricht sich in der zweiten Person an (vorbildlich!), hadert, schimpft, schüttelt den Kopf und pusht sich schließlich: „Du kannst es nicht verlieren! Fighten. Fighten. Kämpf!“ Am Ende gewinnt er das Ding noch.

Selbstgespräche machen das Leben bunter

Ich finde, man könnte der Skala noch einen fünften Punkt hinzufügen: Selbstgespräche können auch schlicht und einfach der Unterhaltung dienen. Dazu ein Berliner Freund: „Manchmal, wenn ich zum Frühstück in die Küche komme, sage ich laut Sätze wie diesen: ‚Guten Tag, mein Name ist Hannelore Strackwitz und ich bin erste Prokuristin der Dr. Schömmler KG. Ich zeige ihnen heute die Produktionsanlagen. Ziehen sie sich bitte diesen weißen Kittel an und folgen sie mir.“ Mich erinnert das an den Titel des Romans „Nur der Pudding hört mein Seufzen“. Die Lebensmittel in der Küche meines Freundes hören allmorgendlich das Seufzen in verteilten Rollen. Weil er einsam ist? Nein, weil er Spaß daran hat.

Das ist doch phänomenal: Wir können die oft graue Wirklichkeit neu erfinden, ihr etwas entgegensetzen oder auch Dinge sagen, die wir niemals jemandem anvertrauen würden – dem heimlichen Schwarm nicht, den ätzenden Kollegen oder Eltern schonmal gar nicht. In meinen Selbstgesprächen war ich schon Abenteurer, schlagfertigster Redner und Bundeskanzler – eine bewusst überzogene Version meiner selbst.

Miteinander reden hilft ja immer. Auch in der jetzigen Krise. Also, wieso nicht auch mit sich selbst?

Ich frage Thomas Brinthaupt, den Selbstgesprächsspezialisten aus Tennessee, nach meiner Vermutung, dass gerade mehr Menschen Selbstgespräche führen. Er holt erst einmal aus: „Die Forschung legt nahe, dass sowohl das innere stumme als auch das private laute Selbstgespräch positive Funktionen haben können“, sagt er. Und wenn wir vor Herausforderungen, Barrieren und Stressoren stehen, wie es bei der aktuellen Pandemie der Fall ist, „dann müssen wir uns auf Selbstregulierung einlassen – und Selbstgespräche sind ein wichtiges Instrument, das uns bei diesem Prozess unterstützt. Es hilft uns, herauszufinden, was wir kurzfristig tun müssen, wie wir die Dinge, die geschehen sind, verstehen und verarbeiten und wie wir uns auf die längerfristige Zukunft vorbereiten können.“ Das Selbstgespräch als Instrument, um mit Corona klarzukommen? Für mich klingt das total logisch.

Brinthaupt geht davon aus, dass zwar sowohl ein längerer Aufenthalt allein oder sozial isolierende Erfahrungen mit vermehrten Selbstgesprächen verbunden sein könnten, ein noch wichtigerer Faktor sei jedoch das Erleben von individuellen Erfahrungen, die kognitiv störend sind. Kommt jetzt, in Zeiten von Covid-19, nicht beides für viele Menschen zusammen oder bedingt sich sogar? Brinthaupt schreibt mir, dass er das nicht bestätigen möchte, solange es nicht durch Versuchsreihen belegt wurde. Er erklärt aber, „dass Stress die Chancen erhöht, dass unsere herkömmlichen Filter, die das laute Selbstgespräch verhindern, weniger wirksam sind.“ Mit anderen Worten: „Ich würde vermuten, dass die Menschen tatsächlich öfter laut mit sich selbst sprechen als in weniger verrückten Zeiten.“

Der innere Affe braucht klare Kommandos

Die Berliner Heilpraktikerin für Psychotherapie Judith Garay glaubt, dass die Corona-Situation eine gute Chance bietet, in den Dialog mit sich selbst zu gehen. „Ob wir das wollen oder nicht. So werden wir ermuntert, uns mit unseren inneren Stimmen auseinanderzusetzen, ihnen zuzuhören, ihnen zu antworten, mit ihnen zu reden.“ Wessen Angst spricht da eigentlich mit mir? Ist es das verlassene Kind, das auf den Arm möchte? Der Verunsicherte, der sein Leben den Bach runtergehen sieht? „Sie alle haben ihre Berechtigung, aber durch den inneren Dialog kann man mit ihnen in die Kommunikation treten und sie miteinander versöhnen.“ Auch sie bricht eine Lanze für das konstruktive Selbstgespräch, egal ob laut oder stumm: „Damit die negative Stimme in uns, die ständig sagt: ‚Du schaffst das nicht!‘, nicht die Oberhand gewinnt.“

Der innere Dialog, „den man natürlich auch laut führen kann“, ist für sie ganz klar ein psychotherapeutisches Werkzeug: „Im Hinduismus heißt es ja, unser Geist sei ein verrückter Affe mit einem Messer in der Hand, der uns keine Ruhe lässt. Manchmal braucht er sehr klare Kommandos.“ Bei mir heißt der Affe Gedankenkarussell. Vielleicht sind meine laut gesprochenen Sätze dann so etwas wie Karussellbremser.

Für Judith Garay ist das Selbstgespräch übrigens gar nicht so anders als die Gespräche mit anderen Menschen: „Auch beim Reden mit Freunden wollen wir ja Feedback zu unseren eigenen Ideen und Konzepten bekommen, uns versichern“, sagt sie. „Letztlich sprechen wir immer in erster Linie zu uns selbst, wenn wir uns anderen mitteilen.“

Wenn mich also nächstes Mal im Supermarkt beim Lasagne-Selbstgespräch jemand schräg anschaut, werde ich hocherhobenen Hauptes weiterschreiten. Wer denkt, dass er nie mit sich selbst redet, hat sich wohl einfach noch nie richtig zugehört. Man kann nicht nicht mit sich selbst kommunizieren. Und manchmal braucht man dabei eben besonders klare und laute Ansagen.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel, Audioversion: Christian Melchert

„Hat mich sehr gefreut, mit mir zu reden“ – die Kunst des Selbstgesprächs

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