Moderne Architektur findet in großen Städten statt, am liebsten in Millionenmetropolen. In der Provinz kann man froh sein, wenn nicht alles in Fertighäusern und tristen Verwaltungskisten untergeht. Oder?
Dies ist der vierte Teil meiner Architekturserie. Ursprünglich hatte ich die Idee, ein paar interessante Neubauten in Berlin vorzustellen, aber dann dachte ich mir: Warum eigentlich immer Berlin?
Viele der interessantesten neuen Gebäude Deutschlands befinden sich in Orten wie Blaibach, Rottweil, Waldkirch oder Ensdorf. Ich habe euch eine kleine Auswahl herausgesucht – alle Bauten haben Preise gewonnen und stehen in Orten mit weniger als 50.000 Einwohnern. Mit dabei: ein in einem Stück gegossener Konzertsaal, ein im Wind schwankender Aufzugtestschacht und der spektakulärste Geräteschuppen der Welt.
Tusche und Glas: das Konzerthaus in Blaibach
Dieser Saal sieht aus, als hätte man ihn mit grobem Werkzeug aus einem massiven Block herausgeschnitzt. An der Oberfläche der Wände sind chaotische Formationen erkennbar, die an Fossilien, Tuschezeichnungen oder Galaxien erinnern, bei denen man sich fragt, wie viel an ihrer Entstehung Zufall war und wie viel Absicht. Aus Spalten dringt mystisches Licht.
Tatsächlich ist diese Höhle eine raffinierte Konstruktion aus Beton, die nur durch den Einsatz computergesteuerter Maschinen beim Bau der Holzschalung möglich war. In die Falten des Betons sind akustische Absorber, Heizung und indirekte Beleuchtung eingelassen, auf der anderen Seite die wenigen Stahlstützen, die die freischwebenden Sitzschalen aus Drahtgeflecht tragen. Das Material selbst ist Beton mit einem großen Anteil an aufgeschäumtem Altglas zur Dämmung. Die „Tusche“ sind Stellen, an denen der Schaum freiliegt, die auch wieder eine akustische Funktion haben.
Das hier ist einer der besten Kammermusiksäle der Welt.
Aber dass dieser 2016 gebaute Raum so fanatisch perfekt gebaut ist, verblasst fast davor, dass er ausgerechnet in Blaibach in der Oberpfalz steht, einem Dorf mit 2.000 Einwohnern. Das Beispiel zeigt vielleicht, warum bestimmte Bauprojekte in der Provinz sogar einfacher umzusetzen sind als in den Metropolen: Hier haben drei Personen ein ganzes Dorf von ihrer Idee überzeugt, und dann haben alle mitgezogen. Den Spezialbeton, der in dieser Qualität weltweit vermutlich zum ersten Mal verbaut wurde, hat eine Firma aus dem nahegelegenen Geiersthal entwickelt, und auch der Glasschaum kommt aus der Gegend.
In der Oberpfalz ist eben eines nicht möglich: Das Elbphilharmonie-Syndrom – nämlich bei der Planung eines einzigartigen Projekts immer noch mehr und noch mehr Ideen hineinzupacken, so dass am Ende alles ins Wanken gerät. Das Ganze hat übrigens 1,6 Millionen Euro gekostet, für so einen Bau also: fast nichts.
30 Meter Industriestahl: das Saarpolygon
Auf einem kahlen Hochplateau steht ein auf den ersten Blick schwer fassbares Gebilde aus Stahl, 30 Meter hoch. Je nachdem, wie man darauf schaut, bildet es ein X mit einem Querbalken, eine quadratisches Tor, ein Dreieck oder andere Figuren. Man kann versuchen, sich klarzumachen, dass es aus zwei schrägen Türmen und einer Querverbindung besteht, die von oben gesehen ein Z bilden, aber das macht es irgendwie nicht einfacher im Kopf. Bauten zu produzieren, die auf besondere Weise mit der Landschaft interagieren, ist in der Moderne immer ein Thema gewesen. Hier sieht man diesen Gedanken in Reinform: Das Gebäude hat keinen anderen Zweck, als von verschiedenen Seiten in der Landschaft interessant auszusehen, und seinerseits interessante Blicke in die Landschaft zu ermöglichen.
Die Außenhaut aus parallelen Stahlprofilen erinnert an Förderkörbe und ganz allgemein an Industrie. Nicht ohne Grund. Das Plateau ist eine 150 Meter hohe Abraumhalde, eine Hinterlassenschaft des saarländischen Kohlebergbaus, und das 2016 erbaute Stahlding ist das Saarpolygon, eine begehbare Skulptur mit Aussichtsplattform und gleichzeitig ein sogenanntes Haldenzeichen: eine monumentale Skulptur auf einer ehemaligen Halde. (Solche Zeichen gibt es übrigens ungefähr zwanzigmal in Deutschland.)
Material für die Ewigkeit: das Tunnelbetriebsgebäude Waldkirch
Vielleicht mein Favorit unter den hier vorgestellten Bauwerken. Im herkömmlichen Sinne scheint dieses kleine Gebilde gar kein Gebäude zu sein. Vom Ort Waldkirch aus gesehen erscheint es wie ein abstraktes Kunstwerk, das aus einer Lärmschutzwand herauswächst. Seine Außenhaut ist aus Corten-Stahl, der häufig für Skulpturen verwendet wird, da er an der Luft eine interessant gefärbte Oxidschicht bildet, dann aber nicht weiter korrodiert – ein Material für die Ewigkeit.
Ähnlich wie in Blaibach kommt es auch hier aus der Nähe, in diesem Falle von einem Spezialblechhersteller aus Efringen-Kirchen, gut 70 Kilometer entfernt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Tendenz kleiner süddeutscher Gemeinden, stolz leicht verschrobene Superspezialfirmen zu beherbergen („Oberquellbach, Heimat des asymmetrischen Spreizdübels“), in beiden Fällen dazu beigetragen hat, diese außergewöhnlichen Projekte zu ermöglichen.
Der Zusammenklang aus Stahl, Beton und Landschaft in Waldkirch ist kein Kunstprojekt, sondern ein völlig prosaisches Bauwerk: Es handelt sich um das Betriebsgebäude für den 1980 erbauten Tunnel, der die Bundesstraße 294 auf ihrem Weg von Freiburg nach Pforzheim an Waldkirch vorbeiführt. Als der Tunnel saniert wurde, machten die gestiegenen Anforderungen ein solches Gebäude notwendig. Es beherbergt hauptsächlich Technik, aber zum Beispiel auch einen Kontrollraum, in dem das Betriebspersonal an einem maßgefertigten Massivholztisch sitzt und durch ein deckenhohes Panoramafenster auf die Straße blickt.
Geplant wurde das Gebäude übrigens nicht von einem renommierten Architektenbüro, sondern (wie eine ganze Reihe anderer interessanter Tunnelbetriebsgebäude in der Gegend) vom Staatlichen Hochbauamt in Freiburg. Die Botschaft ist klar: Wenn ein Amt aus einem banalen Geräteschuppen an einer Umgehungsstraße im Schwarzwald ein so spektakuläres Ding machen kann, gibt es eigentlich keine Entschuldigung für langweilige Architektur.
Wasserspeier aus Beton: das Kunstmuseum in Ravensburg
Mit seiner Außenhaut aus recycelten, belgischen Ziegeln könnte man das Kunstmuseum in Ravensburg von Weitem für eine Ruine aus der Renaissance oder eine sanierte Fabrik aus dem 19. Jahrhundert halten. Wenn man näher kommt, sieht man aber, dass die Wasserspeier aus Beton sind und die Obergeschosse an der Westseite scharf rechtwinklig über die Straße ragen, als hätte man mit dem Skalpell eine Ecke aus dem Bau herausgeschnitten. Verschiedene Elemente aus Kupfer, ein Zaun aus Glaslamellen und spätestens der spektakuläre Empfangstresen aus Sichtbeton zeigen endgültig, dass man hier in einem Bau aus dem Jahr 2012 steht.
Das Museum wurde mit Preisen überschüttet, nicht nur, weil es optisch gelungen ist, sondern weil es auch das weltweit erste Museum ist, das Passivhaus-Standards genügt. Hinter der Klinkerfassade verbirgt sich eine 24 Zentimeter dicke Dämmschicht. Geheizt und gekühlt wird mit der Temperatur des Erdreichs in 100 Metern Tiefe. Sogar die Wärme, die die Besucher abgeben, wird genutzt. Das Gebäude verbraucht zwei Drittel weniger Energie als ein herkömmlicher Museumsbau.
Es steht damit für gleich mehrere Tendenzen in der aktuellen Architektur: Recycling, traditionelles Handwerk, Energieeinsparung und Minimalismus. Vor allem aber zeigt das Kunstmuseum Ravensburg ganz unaufgeregt, dass man ein völlig modernes Gebäude in eine historische Altstadt stellen kann, so dass beide voneinander gewinnen.
Schwankend und schwäbisch: der Testturm von Rottweil
Die höchste öffentlich zugängliche Aussichtsplattform in Deutschland befindet sich nicht auf einem Fernsehturm oder Wolkenkratzer, sondern an einem Gebäude im beschaulichen Rottweil, bei dem sich die Gattungsbezeichnung ziemlich irre anhört: ein Aufzugstestturm. Tatsächlich entwickeln sich Aufzüge, so langweilig sie auch sind, seit Jahrzehnten dynamisch weiter und verschiedene Firmen in der Branche betreiben teilweise eindrucksvolle Türme mit verschiedenen Testschächten. Platzsparende Aufzugstechnik ist der Schlüssel dazu, Hochhäuser wirtschaftlich zu betreiben. Daher wird in diesem Bereich ziemlich viel geforscht. Thyssenkrupp Elevator hat den Turm in Rottweil unter anderem gebaut, um eine Aufzugtechnik auszuprobieren, die ohne Seile auskommt, was bedeutet, dass mehrere Kabinen in einem einzigen Aufzugschacht fahren und sogar seitwärts die Schächte wechseln können.
An dem Testturm ist jedoch nicht nur bemerkenswert, dass er der zweithöchste Aufzugstestturm der Welt ist, sondern auch, dass er eine spiralig gewundene Außenhaut aus einer gespannten Glasfasermembran hat, die eine selbstreinigende Antihaftbeschichtung aus PTFE trägt (bekannt von Bratpfannen unter dem Namen Teflon). Textile Baumaterialien werden seit Längerem immer beliebter, und der Turm in Rottweil ist mal eben das höchste textilverkleidete Gebäude überhaupt. Außerdem kann der Bau durch ein Pendelsystem aktiv ins Schwanken gebracht werden, was weltweit einmalig ist; so lässt sich simulieren, wie sich Aufzüge in Wolkenkratzern bei starken Windböen verhalten.
Im Schwäbischen endet mein kurzer Rundgang durch kleine Städte und Dörfer. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass es nicht immer Berlin oder Hamburg sein muss. Manchmal kann gerade auf dem Land, unterhalb des urbanen Radars etwas entstehen, was aus verschiedenen Gründen in der Stadt nie zu machen wäre – sei es, weil das Budget von vornherein klein ist und man weiß, dass alles sehr genau und sehr gut gemacht werden muss; sei es, weil man die Inspiration durch bestimmte Baumaterialien hat, die an bestimmten Orten hergestellt werden.
Manchmal bringen kleinere Gemeinden auch einfach eine bestimmte Art von Mut hervor, sich weit aus dem Fenster zu lehnen.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel