Ich stand gerade im Wohnzimmer und habe Spenden in Kisten verteilt, als meine Chefin mich angerufen hat. Meine Küche, mein Flur, meine ganze Wohnung standen voll: mit Holzspielen, Mensch ärgere dich nicht, Spielesammlungen, Playmobil, Puzzles, Tonpapier, Tuschkasten, Filzstifte. Meine Chefin hat mich am Telefon gefragt, ob ich in einem Altersheim aushelfen könne. Auch unser Träger hat in einer Mail geschrieben, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten überall gebraucht werden und dass es jetzt Listen gäbe, in die wir uns eintragen sollten.
Die Kinder, die wir normalerweise betreuen, würden wir gerade ja sowieso nicht sehen können. Wir hätten jetzt ja Zeit.
Ich arbeite als Erzieherin an einer Brennpunktschule. Dort überlege ich mir mit den Lehrern ganz genau, welche Kinder ich in mein Familienprojekt aufnehme: Bei welchen Kindern gibt es Stress in der Familie? Welches Kind hat Schwierigkeiten mit seinem Verhalten? Meine Betreuung kann dann bei jedem Kind anders aussehen, von täglicher Unterrichtsbegleitung bis Hilfe in bestimmten Fächern. Zweimal die Woche müssen die Eltern dann für zwei Stunden in die Schule kommen. Dort können sie sich mit anderen Familien austauschen und vernetzen. So sehe ich, wenn Kinder zuhause vernachlässigt werden und bekomme es – hoffentlich – mit, wenn sie geschlagen werden.
Ganz ehrlich: Die Listen, die mein Träger mir geschickt hat, habe ich mir gar nicht mehr angeguckt. Die können mich mal.
Wir Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen können in der Corona-Krise nicht einfach woanders arbeiten, geschweige denn zuhause bleiben. Wir werden jetzt noch mehr bei den Kindern und Familien gebraucht, die jetzt auf engstem Raum den ganzen Tag aufeinander hocken. Bei denen kann die Situation jederzeit eskalieren. Ich betreue zehn Familien, das sind ungefähr 50 Menschen. Da sind Kinder dabei, deren Eltern psychisch krank sind oder Kinder, die von ihren Eltern geschlagen werden. Die kann ich nicht hängen lassen. Gerade jetzt brauchen sie jede Unterstützung, die sie kriegen können. Denn die Situation wird jede Woche schlimmer.
Wir Erzieherinnen werden jetzt mehr bei den Familien gebraucht als je zuvor
Die Schule ist auch ein Schutzraum, das übersieht man im Alltag so schnell. Ich habe ein zehnjähriges Mädchen in Betreuung, dem es normalerweise sehr gut tut, jeden Tag von 7 bis 16 Uhr in der Schule zu sein. Die wohnt jetzt mit sieben Personen in 2,5 Zimmern auf 48 Quadratmetern. Den ganzen Tag ist sie mit ihrer psychisch kranken Mutter zuhause. Dieses kleine Mädchen muss jetzt dabei helfen, seine drei jüngeren Geschwister zu füttern und zu pflegen. Neben einer Dreijährigen und einem Kindergartenkind ist eines der Geschwister auch noch geistig behindert. Mit dem Mädchen und ihrer Mutter habe ich schon mehrfach telefoniert, seit die Schulen geschlossen sind.
Bei einer anderen Familie hatte ich die Mutter nach wochenlangem Überreden soweit, dass sie sich auf ein Gespräch mit mir und einem Dolmetscher einließ. Sie kommt aus Uganda und spricht Swahili. Und sie war endlich bereit, sich andere Hilfe zu holen. Denn ich kam an meine Grenzen: Die Familie hat Schulden, die Mutter hat regelmäßig neue Zettel vom Gericht rausgekramt. Dabei kann ich nicht mehr helfen, ich bin ja keine Schuldenberaterin. Und dann kam Corona. Das übersetzte Elterngespräch hat nicht mehr stattgefunden, Kontakt zur Familie habe ich jetzt nicht mehr.
Diese Schulpause kommt für mich also zu einem grauenhaften Zeitpunkt. Ich berate die Familien bei wichtigen Schritten. Ich leite sie weiter an Psychologen und Kinderärzte oder kontaktiere das Jugendamt. Das sind Familienberatungen, in denen ich ständig prüfen muss: Ist das Kind hier häuslicher Gewalt ausgesetzt? Bei drei Familien, die ich betreue, musste ich so abrupt abbrechen, dass ich sie jetzt dem Jugendamt melde, weil ich Angst habe, dass es zuhause eskaliert.
Manche Familien verstehen gar nicht, dass sie noch rausgehen dürfen, damit die Kinder sich mal bewegen. Die haben auch keine Tretroller oder Fahrräder. Aber Zehnjährige müssen sich bewegen.
Mein Ziel ist: irgendwie den Kontakt halten. Mein Träger hat uns nicht vorgegeben, dass wir uns weiter um die Kinder kümmern sollen. Im Gegenteil, er geht davon aus, dass wir das nicht mehr machen. Das kommt für mich aber nicht infrage. Solange mir das nicht verboten wird, mache ich weiter. Deshalb telefoniere ich jetzt jeden Tag mit den Kindern, und auch mit den Eltern. Ich schreibe Briefe und stecke frankierte Briefumschläge direkt mit hinein, damit die Kinder antworten können. Ich versuche, die Familien online zu vernetzen und, ja, ich versuche auch weiterhin, die Kinder zu sehen. Das ist sehr mühsam. Die geben mir fünf mal die falsche Handynummer, falsche Mailadressen.
Was ist das für ein Blick? Das ist nackte Angst
Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, die Situation in Familien einzuschätzen. Das ist nicht immer einfach. Ich sehe in der Schule einen Siebenjährigen, der völlig neben sich steht, der nie lacht, der sich an den Nägeln beißt, sich an den Händen beißt, der zusammenzuckt, wenn ich ihn von hinten freundlich auf die Schulter tippe. Ich sehe seinen Vater, der mir auf dem Schulhof fast an die Wäsche geht, weil ich ihn darum bitte, dass sein Junge zur kostenlosen Nachmittagsbetreuung darf. Und dann sehe ich den neunjährigen Bruder des Jungen, der das mit ansieht und mich mit riesengroßen Augen anschaut. Da habe ich mich schon immer gefragt: Warum guckt der eigentlich immer so? Was ist das für ein Blick? Und in dem Moment habe ich verstanden: Der rennt permanent schockgefroren durch die Gegend. Sein Blick: das ist nackte Angst.
Diese Kinder kommen nicht zwangsläufig mit blauen Flecken in die Schule, aber natürlich denke ich: Da stimmt doch was nicht. Deshalb muss ich das ganz genau beobachten. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Diese Kinder werden jetzt nicht mehr gesehen.
Schon vor Corona war das Jugendamt überfordert
Natürlich könnte man sich bei all diesen Kindern fragen: Warum ruft sie, also ich, nicht sofort das Jugendamt? Aber so einfach ist das nicht. Ich baue in meiner Arbeit Vertrauen auf zu den Kindern, aber auch zu den Eltern, die mich in die Familien hineinlassen. Das ist ein großer Schritt für viele. Dieses Vertrauen ist enorm wertvoll. Da muss ich erstmal darauf hinarbeiten. Dieses Daraufhinarbeiten fällt jetzt leider weg. Ich befürchte, dass die Familien große Rückschritte machen werden.
Aber auch das Jugendamt hilft nicht immer. Ende 2019 habe ich eine Familie betreut, in der ich davon ausgehe, dass beide Eltern die Kinder schlagen. Das entwickelte sich immer weiter und Ende Januar habe ich das dem Jugendamt gemeldet. Jetzt, fast zwei Monate später, wollten sie dann mal eine Stellungnahme von mir haben. Auch vor Corona war das Jugendamt schon überfordert mit den vielen Fällen in meiner Stadt – sie kamen nicht hinterher. Und wir haben uns an der Schule gefragt, warum manche Kinder nicht in Obhut genommen werden.
Eine andere Familie hat vor ein paar Wochen angefangen, die Zusammenarbeit mit mir zu verweigern. Auch da habe ich Angst, dass die Kinder geschlagen werden. Eigentlich wollte ich bis zu den Ferien abwarten und der Familie noch eine Chance geben, sich auf unsere Angebote einzulassen. Aber jetzt kam Corona und ich kann überhaupt nicht mehr beobachten, wie es der Familie geht. Mittlerweile haben die Eltern den Kontakt zu mir ganz abgebrochen. Das habe ich vor mehreren Tagen dem Jugendamt gemeldet mit der Bitte um dringenden Rückruf. Bisher ist aber nichts passiert.
Hartz IV sieht keine Ausgaben für Vorräte vor – deshalb verteile ich jetzt Spenden
Zuhause auf engstem Raum leben, das stresst total. Und dazu kommt noch: Hartz IV sieht eine solche Situation nicht vor. Diese Familien können sich keine Vorräte anlegen, die haben jetzt Mehrausgaben, weil sie jeden Tag für die Kinder kochen. Schon unter normalen Umständen reicht das Geld oft nicht bis zum Monatsende. Diese Mehrausgaben machen das noch schlimmer. Hartz IV sieht keine Vorräte vor, Hartz IV sieht auch keine Scheren und Tonpapier vor – diese Familien brauchen jetzt einfach mehr Geld. Den Zeichenblock oder den Klebestift bekommst du gerade nicht beim günstigen Ein-Euro-Laden um die Ecke, der ist geschlossen. Solche Sachen musst du jetzt bei Rewe kaufen, und da ist er nun mal teurer.
Deshalb habe ich eine Rundmail geschickt und auf Social Media verbreitet, mit der Bitte um Spenden. Nach drei Minuten hatten ich schon die ersten Rückmeldungen. Nach einem Tag dachte ich: Okay, das überrennt mich. Die Spender haben die Mütter gleich mitbedacht: mit Ketten, mit Fußbädern, Handcremes, Duschgels, halal Gummibärchen. Das war eine große Freude, die Kisten zu packen.
Ich werde von jemandem mit einem großen Auto abgeholt und verteile die Pakete. Die stelle ich dann zum Teil einfach vor die Tür und klingele. Das werde ich jede Woche machen. Ich plane aber auch Zeit ein, um mit den Kindern zu reden. Heute hatte ich einen Jungen am Telefon, den ich gefragt habe, ob alles okay sei, ob er Probleme oder Ängste habe. Der hat zu mir gesagt: Ja, habe ich. Ich habe ihm gesagt, dass ich morgen kommen werde, um das Paket vorbeizubringen. Und wenn ich an der Tür klingele, kann er runterkommen und mit mir darüber reden. Dieses Vertrauen ist da. Wenn er in den letzten Tagen einen auf die Nase bekommen hat, werde ich das morgen erfahren.
Die Bundesregierung muss Hartz-IV-Empfänger jetzt unterstützen
Ich werde in den nächsten Wochen versuchen, die Kinder an die frische Luft zu bringen, solange das noch möglich ist. Ich werde ihnen sagen: Wir können uns jetzt nicht näher kommen, aber ich passe jetzt mal eine Stunde auf dich auf. Und du kannst dich jetzt eine Stunde austoben – und ausschreien. Ich werde mir den Schlüssel für den Schuppen an der Schule besorgen, in dem die Tretroller stehen. Ich werde da einfach hingehen und mir einen nehmen. Ich glaube, jetzt muss man pragmatisch sein: Roller ausleihen, Kind fahren lassen, desinfizieren – fertig ist der Lack.
Familien, die von Hartz IV leben, müssen jetzt dringend mehr Geld vom Staat bekommen. Die Bundesregierung muss jetzt reagieren und diese Familien unterstützen.
Ich hoffe auch, dass Familien, die genug Geld haben, jetzt was abgeben. Das können Spielsachen sein, das kann aber auch bedeuten, dass man mal beim Einkauf einen Saft mehr mitnimmt, alte Bücher ausleiht, beim Bäcker auch mal Brötchen für die Familie nebenan mitnimmt. Wertschätzend nachfragt: Wie geht es ihnen? Können wir helfen? Den Familien was Gutes tun und vor allem: solidarisch sein.
*Name von der Redaktion geändert
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Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.