Soziale Arbeit: „Ich merke, dass ich gerade kaputt gehe“

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Leben und Lieben

Soziale Arbeit: „Ich merke, dass ich gerade kaputt gehe“

Maria ist kurz davor, ihren Job als Sozialarbeiterin hinzuwerfen. Hier erzählt sie, welche Fehler sie wegen des Personalmangels macht und warum sie in ihrer Arbeit einen Generationenkonflikt sieht.

Profilbild von Protokoll von Bent Freiwald

Vor ein paar Monaten habe ich einen Fehler gemacht und gedacht: Scheiße, wenn dem Kind etwas passiert ist, verzeihe ich mir das nicht.

Ich bin seit fünf Jahren Sozialarbeiterin. Ich habe in Schulen gearbeitet und in Flüchtlingsheimen. Für das Deutsche Rote Kreuz, für die Diakonie, für die AWO und für kleinere Vereine. Seit letztem Jahr betreue ich in einer Nachmittagseinrichtung in einer Großstadt Kinder aus verschiedenen Kulturen, zum Beispiel, weil ihre Eltern arbeiten müssen. Bei uns essen die Kinder Mittag, spielen Fußball, toben herum, malen, basteln oder bekommen Hilfe bei ihren Hausaufgaben.

Auch wenn das erstmal nicht so klingt, die Arbeit dort ist wahrscheinlich die komplexeste, die ich bisher gemacht habe. Und ich bin ehrlich: Manchmal ist es zu viel.

So wie an diesem Tag: Meine Chefin hatte gesagt, wenn ich alleine bin, dürfe ich nicht mehr als 20 Kinder gleichzeitig betreuen, irgendwo müsse da einfach die Grenze sein, ich könne nicht unendlich viele Kinder aufnehmen. Und weg war sie. Als schon 20 Kinder da waren, kam noch eine Gruppe von sieben Kindern durch die Tür. Ich habe den Kids gesagt: Sorry, aber ich darf euch nicht reinlassen, hier sind schon zu viele Kinder, ihr müsst leider nach Hause gehen.

Unter den Kindern war auch auch ein kleiner Junge aus der zweiten Klasse. Den habe ich nur aus dem Augenwinkel gesehen, das wurde mir später klar. Im Nachhinein dachte ich: Scheiße, warum habe ich den bloß abgelehnt? Ich hätte ihn zumindest zum Telefonieren reinlassen müssen, damit er seinen Eltern sagen kann, dass er heute Nachmittag nicht bei uns betreut werden kann. Aber ich habe ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Später am Tag kam dann eine Mutter und hat gefragt, wo ihr Sohn ist.

Während sie auf Arbeit war, sollte er bei uns betreut werden. Er war nicht bei uns, ich hatte ihn an der Tür nach Hause geschickt. Die Mutter hat mich angeschrien: „Wenn meinem Kind irgendwas passiert ist, dann bist du schuld!“ Es gab ein riesiges Drama. Und ich verstehe das: Wenn man als Mutter nicht weiß, wo der eigene Sohn ist, dreht man wahrscheinlich durch.

Als die Kinder kamen, hatte ich mich aber um die eigene Achse gedreht, jeder wollte etwas von mir. Ich soll Mittagessen ausgeben, die Arbeit der Ehrenamtlichen organisieren und nebenbei noch über 20 Kinder betreuen, die unterschiedlich alt sind und aus ganz unterschiedlichen Familien kommen. Das Telefon klingelt permanent, weil Eltern ihre Kinder anrufen.

Außerdem hatte ich damals erst seit ein paar Wochen in der Betreuung gearbeitet, ich kannte die Abläufe noch nicht wirklich. So etwas wie mit dem Jungen hätte ja schon lange mal passieren können. Das ist eine richtige Scheißsituation. Zum Glück ist dem Jungen nichts passiert. Die Mutter hat ihn gefunden, er war ziemlich verheult.

Wenn wir genug Personal hätten, wäre das gar nicht passiert

Natürlich mache ich mir selbst Vorwürfe, dass ich den Zweitklässler weggeschickt habe. Aber ich weiß auch: Wenn wir genug Personal hätten, wäre das gar nicht passiert.

Einen Tag später lag ich direkt krank im Bett. Sowas geht einfach an die Nerven. Niemand hat meinen Rücken gestärkt. Ich habe mich richtig verloren gefühlt. Und wenn man dann krank wird, fehlt noch mehr Personal. Das ist ein Teufelskreis.

In der Arbeit mit Kindern braucht man aber Unterstützung. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein. Neulich ist ein Kind hingefallen und hatte ein Loch im Kopf. Da habe ich mich um das Kind gekümmert und meine Kollegin hat die anderen Kinder betreut. Aber was machst du, wenn du ganz alleine bist – so wie ich es teilweise bin?

Meine Chefin meinte zu mir, ich soll mich da nicht so anstellen. Alleine auf die Kinder aufzupassen, sei doch nicht so schwer. Wenn das Telefon klingelt, soll ich halt nicht rangehen. Dann habe ich ihr gesagt, dass wir Mitarbeiter:innen auf Dauer krank werden, wenn wir ständig so unter Stress sind. Da wurde sie richtig wütend und hat fast geschrien: „Ich mache die Leute krank!?“

Diese Art von Dialog habe ich in der Sozialarbeit immer wieder.

Gerade Sozialarbeiter:innen fühlen sich bei Kritik schnell persönlich angegriffen

Ich muss zugeben, dass ich oft mit meinen Chefs aneinandergerate. Wenn mir die Arbeitsumstände nicht gefallen, wechsele ich den Job. Die Frage ist nur: Wie oft muss ich noch wechseln? Mittlerweile glaube ich nicht, dass ich einfach nur Pech hatte. Und es liegt auch nicht daran, dass ich meine Arbeit schlecht mache. Ich glaube eher, es gibt einen Generationenkonflikt in der Sozialarbeit.

Tatsächlich sind es vor allem ältere Frauen, die sich durch mich jüngere Sozialarbeiterin angegriffen fühlen. Ich habe soziale Arbeit studiert und habe eine hohen Anspruch an meine Arbeit. Ich weiß nicht genau, warum die älteren Frauen uns jüngere Kolleg:innen als Konkurrenz sehen. Vielleicht gab es vor 20 Jahren noch eine Art Kaffeeklatschpädagogik, nach dem Motto: Mit Kindern und Jugendlichen arbeiten kann doch jeder. Aber das reicht heute nicht mehr.

Als ich in der Nachmittagsbetreuung angefangen habe, habe ich direkt gesehen, dass es an bestimmten Stellen hakt, dass die Abläufen unstrukturiert sind. Wir hatten eigentlich klar zugeteilte Aufgaben, mussten aber ständig mehr machen, weil wir zu wenig Personal hatten. Um klarzukommen, hat einfach jeder irgendwas gemacht. Als ich mal mit meiner Chefin allein war, ist es dann eskaliert: Sie sagte, ich solle mal aufhören, mich ständig zu beschweren. Und sie sei nicht die Einzige, die ein Problem mit mir habe. Meine Kolleg:innen hätten sich bei ihr darüber beschwert, dass ich nach so kurzer Zeit bereits so viel zu kritisieren habe.

Da dachte ich: Sind wir im Kindergarten? Warum sagen die Kolleg:innen nicht, wenn sie ein Problem mit meiner Kritik haben? Nach dem Gespräch mit meiner Chefin hat mich niemand mehr darauf angesprochen. Auch meine Chefin hat das nicht nochmal zum Thema gemacht. Also habe ich mich bei jedem Einzelnen entschuldigt, dafür, dass ich so reingeplatzt bin.

Wir sollen Kindern beibringen, sich sozial zu verhalten, aber scheitern selbst daran

Zum schlechten Klima bei der Arbeit trägt der seltsame Umstand bei, dass ich in einem sozialen Beruf arbeite, wir untereinander aber gar nicht sozial miteinander umgehen. Die Frage „Wie geht es euch?“ wird in den meisten Teams leider gar nicht gestellt. Empathie von der Chefetage für die Mitarbeiter:innen habe ich bis jetzt fast noch gar nicht gesehen. Ausgerechnet wir Sozialarbeiter:innen sind untereinander viel zu unsozial. Bei meiner letzten Teambesprechung habe ich das sogar angesprochen. Ich habe gesagt: Ich wünsche mir, dass wir alle ein bisschen mehr aufeinander achten.

Das ist doch absurd: Wir sollen Kindern beibringen, sich sozial zu verhalten, aber scheitern selbst daran.

Die Arbeit in einem Flüchtlingsheim habe ich mal beendet, weil die Chefin regelmäßig meine Arbeit schlecht gemacht hat, ohne zu sagen, warum. Ich habe dort eine Kinderbetreuung aufgebaut. Ich wollte mit den Kindern, so viel es geht, raus an die frische Luft, Neues sehen. Ich war mit den Kindern am See, auf dem Spielplatz. Da hat sie irgendwann gesagt: Das geht nicht! Als ich gefragt habe, warum das nicht geht, hat sie gesagt: Das geht halt nicht. Nach dem Motto: Sie sei die Chefin, sie habe das Sagen, ich solle die Klappe halten.

Immer wieder geht es um Hierarchie. Das Ringen um die Frage, wer was zu sagen hat – und wer überhaupt etwas sagen darf.

Ich übernehme Aufgaben, für die ich eigentlich viel zu gut ausgebildet bin

Damit komme ich gar nicht klar. So schlecht war meine Arbeit im Flüchtlingsheim nicht: Als meine Chefin eine Zeit lang nicht da war, hat mich ihre Vertretung ständig gelobt. Sie hat gesagt: „Dass diese Kinder alle auf dich hören, obwohl sie nicht mal deine Sprache sprechen, das ist klasse.“ Da habe ich mich bedankt. Endlich mal jemand, der sieht, was ich mache. Die Vertretung war allerdings auch so alt wie ich.

Dass es in der sozialen Arbeit an Wertschätzung mangelt, ist wahrscheinlich nur logisch. Das ganze Feld ist unterbesetzt und die Bezahlung ist sehr schlecht. Es herrscht komplette Überforderung. Wir sind eigentlich immer nur am Feuer löschen. Es ist gar nicht möglich, pädagogisch ordentlich zu arbeiten, weil wir immer nur irgendwelche Lücken füllen.

Deswegen übernehme ich Tätigkeiten, für dich ich eigentlich überqualifiziert bin. Ich stehe regelmäßig in der Küche und gebe Essen aus. Dafür bin ich mir nicht zu schade, aber ich finde auch, dass das eigentlich keine Aufgabe für eine Sozialarbeiterin mit Masterabschluss ist. Ich mache es trotzdem, weil es gar kein anderes Personal gibt, dass das machen könnte.

Wenn wir mal Zeit haben, können wir viel erreichen

Wie wertvoll unsere Arbeit ist, sehe ich, wenn ich wirklich mal Zeit mit den Kindern verbringe. Beim Mittagessen in einer Grundschule habe ich oft mitbekommen, was die Kinder beschäftigt – da stand ich aber auch nicht hinter der Theke, sondern saß mit am Tisch und konnte mit den Kindern reden und ihnen zuhören.

Einmal habe ich einem Jungen aus der ersten Klasse vorgeschlagen, mit einem Viertklässler Fußball zu spielen. Da hat er gesagt: „Nein, mit dem spiele ich nicht, das ist mein Feind.“

Ich habe ihn gefragt, ob er aus Eritrea kommt, denn der Viertklässler kam aus Äthiopien. Dass ich von dem Konflikt zwischen diesen beiden Ländern wusste, hat den Jungen ziemlich überrascht. Ich habe ihm dann gesagt: Ich verstehe, dass deine Eltern sagen, dass du nicht mit deinem Feind spielen darfst. Aber wir sind hier in Deutschland. Und der Konflikt und der Krieg, den ihr habt, der ist in Afrika. Der ist nicht hier bei uns an der Schule. Du kannst hier ruhig mit dem Jungen Fußball spielen.

Das hat er dann auch gemacht, die sind seitdem miteinander befreundet. Das war für mich ein großes Erfolgserlebnis, weil ich gesehen habe: Wir haben einen positiven Einfluss auf die Kids – wenn wir genug Zeit haben.

Von den Konflikten, die geflüchtete Kinder mit nach Deutschland bringen, wissen die meisten gar nichts. In einer anderen Schule hat ein türkischer Junge mal einen Kurden mit einer Schere angegriffen. Da ist nur nichts passiert, weil ich es rechtzeitig gesehen habe und dazwischen gegangen bin. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich so etwas übersehe, ist viel höher, wenn ich ganz alleine eine große Gruppe von Kindern betreuen muss.

Ich merke, dass ich gerade an diesem System kaputt gehe

Natürlich habe ich schon öfter darüber nachgedacht, selbst eine Führungsrolle zu übernehmen, es besser zu machen. Aber ich bin ein sehr sensibler Mensch. Ich weiß nicht, ob ich es aushalten würde, einerseits der Geschäftsführung gegenüber Rechenschaft schuldig zu sein und andererseits kaum die Möglichkeit zu haben, meine Mitarbeiter:innen so zu behandeln, wie sie es verdient hätten. Die große Problematik als Chef ist: Du bist der Arsch für alles, und alle beschweren sich bei dir.

Deshalb tendiere ich gerade eher in die andere Richtung: Ich überlege, ob ich überhaupt weiter in der sozialen Arbeit bleiben möchte. Ich merke, dass ich gerade an diesem System kaputt gehe. Weil es überhaupt nicht so läuft, wie ich mir die Arbeit mit Kindern vorgestellt habe, ich kaum etwas von dem umsetzen kann, was ich im Studium gelernt habe. Ich renne in der sozialen Arbeit immer wieder gegen die gleichen Wände.


In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel; Audioversion: Iris Hochberger.

Soziale Arbeit: „Ich merke, dass ich gerade kaputt gehe“

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