Es war die Vision des modernen Wohnens. Ein Hochhaus, aus dem man die ganze Stadt überblicken kann. Zwei lange Brücken, die in die Innenstadt und an die Uni führen. Ein Einkaufszentrum und ein Schwimmbad im unteren Teil des Hauses. Als eine große Versicherung Anfang der 1970er Jahre das Iduna-Zentrum in Göttingen bauen ließ, hätte niemand gedacht, dass es fünfzig Jahre später ein Ort der Hoffnungslosigkeit sein würde.
Denn heute ist das Iduna-Zentrum keine gute Adresse mehr. Die Brücken und das Einkaufszentrum gibt es nicht mehr. Das Schwimmbad ist geschlossen. Wer hier wohnt, kann es sich nicht aussuchen. Die meisten Bewohner:innen bekommen Geld vom Sozialamt. Die meisten Wohnungen sind 34 Quadratmeter klein. Sie sind nicht einmal besonders günstig, denn das Amt zahlt bis zu 453 Euro Bruttokaltmiete für eine Einzelperson – und das wissen die Eigentümer:innen auch.
Ein paar Wochen, nachdem der Fotograf Ingmar Björn Nolting ins Iduna-Zentrum gezogen war, ging ihm das Toilettenpapier aus. Er wollte die ältere Nachbarin am anderen Ende des Flurs danach fragen – aber sie öffnete ihm nicht einmal die Tür. „Es gibt kaum Nachbarschaft“, sagt Nolting. „Man lebt relativ isoliert.“
Wie sehen Altersarmut, Wohnungsnot und Suchtkrankheiten aus? Das wollte der Fotograf wissen – und dafür ist er fünf Monate in das Iduna-Zentrum eingezogen. Um die Bewohner:innen nicht nur zu fotografieren, sondern Tür an Tür mit ihnen zu leben.
Er hat sich schnell an das Leben im Iduna-Zentrum gewöhnt, sagt Nolting. Am Anfang ist ihm der Müll auf den Vordächern noch aufgefallen. Aber irgendwann war es dann normal, dass einige ihren Abfall durch das Fenster entsorgen. Genauso normal wie die Lautstärke, die in dem Haus herrscht. Selbst daran, möglichst ungesehen in den Fahrstuhl zu kommen und in der Wohnung dann in seiner eigenen Welt zu sein, hat er sich gewöhnt.
Die Türen im Iduna-Zentrum sind verschlossen. Wer einfach anklopft, wird nicht reingelassen. Aber weil Nolting fünf Monate blieb, konnte er eine Beziehung zu den Bewohner:innen aufbauen. Sie schrieben sich E-Mails: Willst du zum Kaffeetrinken vorbeikommen? Kann ich meine Wäsche bei dir aufhängen?
So konnte er fast beiläufig Fotos von Menschen machen und gleichzeitig ihren Alltag verstehen. Weil die Bewohner:innen ihn als Nachbarn kannten, nahmen sie irgendwann gar nicht mehr wahr, dass er sie fotografiert. „Das gibt authentische Bilder“, sagt Nolting. Die Fotos wurden ungestellter, persönlicher und ehrlicher. Dennoch wollten die Bewohner:innen des Iduna-Zentrums ihre Namen nicht unter den Fotos lesen. Wir haben sie deshalb geändert.
Kelly und ihre sechs Monate alte Tochter in ihrer Zweizimmerwohnung. Seitdem sie aus Liberia geflüchtet ist, verbringt sie viel Zeit mit ihrem Tablet. Mit Videoanrufen versucht Kelly, mit ihrer Familie und Freund:innen in Kontakt zu bleiben.
Tobias raucht eine Zigarette, wenige Stunden bevor er sich selbst in die geschlossene Psychiatrie einweisen wird. Sechs Wochen später wird er sich selbst entlassen und rückfällig werden. An die darauffolgenden zwei Wochen wird er sich nicht mehr erinnern.
Julia saugt wenige Tage vor ihrem Auszug die Wohnung. Sie hat in Göttingen Kunstwissenschaften studiert. Ihr Verhältnis zum Wohnkomplex beschreibt sie als „Hassliebe“.
Maja und Jan im Fahrstuhl. 2013 spritzte sich Maja Heroin in die Leiste und lag sechs Monate im Krankenhaus. Ihr Bein musste abgenommen werden. Jan verlor seinen Arbeitsplatz als Altenpfleger. Seitdem leben beide von Sozialhilfe und Jan kümmert sich um Maja. Die Gothic-Festivals, die sie regelmäßig besuchen, halten sie am Leben.
Miroslav spritzt sich auf dem Balkon des 18. Stocks MDPV, eine kokainähnliche Substanz, die in Göttingen unter dem Namen „Flex“ sehr verbreitet ist. Um im Dunkeln seine Vene zu treffen, benutzt er sein Handy als Taschenlampe. Miroslav ist an diesem Tag Vater geworden. Die Mutter seines Kindes lebt in der Schweiz. Er träumt davon, zu ihr zu ziehen.
Katja und ihr Ex-Freund nach dem Konsum von MDMA. Zu diesem Zeitpunkt sind sie seit drei Tagen wach.
Katja und ihr neuer Freund küssen sich in ihrem Apartment. Sie wollen zeigen, wie gern sie sich haben. Die beiden bleiben nur kurz zusammen. Danach wird Katja aus dem Iduna-Zentrum wegziehen.
Wolfgang posiert in seiner Einzimmerwohnung, in der er seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt. Als Sohn eines Lehrers an Auslandsschulen wuchs er zwischen Kairo, Tokio und Berlin auf. Nach einem ausgedehnten Lehramtsstudium fand er keinen Arbeitsplatz. Heute lebt er von seiner aufgestockten Rente.
Anton auf dem Balkon seiner Einzimmerwohnung, die ihm sein Vater gekauft hat. Weil er der einzige ist, der das Hochhaus jeden Tag in einem Anzug verlässt, nennen ihn seine Freunde aus der Heimat „Prinz Iduna“. Anton ist aus einem Dorf ins Iduna-Zentrum gezogen, seine Familie gehört zum typischen Mittelstand. Anfangs waren seine Freund:innen skeptisch, aber jetzt kommen sie gern zum Feiern vorbei.
Josef schläft auf seinem ausklappbaren Sofa, nachdem er sich flüssiges Valium gespritzt hat. Er kämpft seit Jahren gegen seine Opiat- und Spielsucht.
Die Fotos druckte Nolting für die Abgebildeten aus. „Sie haben sich sehr gefreut und haben die Bilder in der Wohnung aufgehängt“, sagt er. Nachdem Nolting die Fotos verschenkt hatte, stellte er fest, wie unterschiedlich sie wahrgenommen wurden. Viele der Bewohner:innen fanden sich gut getroffen, während Außenstehende eher meinten, sie sähen traurig aus.
Zwei Tage vor seinem Auszug schmiss Nolting eine Abschiedsparty – und lud alle ein, die er fotografiert hatte. Die Nachbarin aus dem ersten Stock brachte ihr DJ-Equipment mit. „Es war toll zu sehen, wie sich die Menschen bei der Party treffen“, sagt Nolting. „Obwohl sie gemeinsam in dem Haus wohnen, haben viele vorher noch nie miteinander gesprochen.“
Ingmar Björn Nolting, Jahrgang 1995, studierte Fotografie an der Fachhochschule Dortmund. Nolting arbeitet über lange Zeiträume an fotografischen Essays, die Fragen des sozialen und kulturellen Wandels untersuchen. Er ist Mitglied des DOCKS Kollektivs für humanistische Fotografie. Noltings Arbeiten wurden unter anderem mit dem Emerge Visual Journalism Grant, dem BFF Förderpreis und einem VG Bildkunst Stipendium ausgezeichnet.
Dieser Artikel ist in Kooperation mit emerge entstanden. emerge ist ein unabhängiges, mehrfach ausgezeichnetes Onlinemagazin für jungen Fotojournalismus. Mit dem Visual Journalism Grant vergibt emerge zudem eine jährliche Projektförderung für junge Fotograf:innen und bietet in der angeschlossenen Akademie Weiterbildungen im Bereich Bildredaktion an.
Redaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.