Ein Tagesausflug nach Paris ist wie eine Rundfahrt mit einem U-Boot – man fährt mit der Metro irgendwo hin, kommt an die Oberfläche, schaut sich etwas Berühmtes an und taucht dann wieder ab. Man muss schon gut mit U-Bahn-Plänen sein, um hinterher eine Vorstellung vom zurückgelegten Weg zu haben. Ich habe in meiner Jugend mehrere solcher Ausflüge gemacht und muss sagen: Wirklich „Paris gesehen“ habe ich nicht, nur ein paar Gebäude, Straßen und Plätze und gigantische Supermärkte mit einem beeindruckenden Angebot an mittelgutem Dosenbier.
Das kann einem natürlich überall passieren, nicht nur in Paris. Was kann man aber tun, um eine Stadt als Stadt zu sehen und nicht bloß Ausschnitte von ihr? Verliert man sich, wenn man keine Sehenswürdigkeiten anschaut, nicht doch bloß in Flanierklischees, und schaut sich am Ende vor allem schön gekleidete Menschen oder Bäckereiauslagen mit interessanten Broten an?
Ich komme aus einem winzigen Dorf in der Pfalz und erinnere mich heute noch an meine ersten Besuche in Köln oder Berlin, als sei es gestern gewesen. Die kindliche Faszination für Architektur hat mich nie verlassen, und ich verbringe bis heute viel Zeit damit, mir in Städten Dinge anzuschauen, die andere für langweilig halten. Inzwischen beschäftige ich mich als Philosoph wissenschaftlich mit Architektur, mir hören jetzt sogar manchmal Leute zu, die Städtebau und solche Dinge studieren.
Ich habe ein paar Vorschläge dafür, wie du von einer Stadt mehr mitbekommen kannst – ganz egal, ob du nach Paris fährst oder nach Reutlingen. In dieser Anleitung nehme ich dich mit und zeige dir, wie man Umwege geht, warum man nicht nur in New York, sondern auch in Halle ab und zu den Kopf in den Nacken legen sollte, und welche Pflastersteine radioaktiv sind.
1. Fußwege gehen
Das vielleicht Wichtigste zuerst: Geh Wege, die sich nur zu Fuß gehen lassen; und wenn möglich, auch durch Gebäude hindurch. Das klingt simpel und ist es auch, man muss es aber auch machen. Wir haben die Tendenz, uns selbst in fremden Städten schnell feste Wege anzugewöhnen. Ab dem zweiten Urlaubstag pendeln wir auf derselben Route zwischen Innenstadt und Hotel; und solche Wege fallen häufig mit Hauptstraßen zusammen.
Wenn man sich darauf einlässt, nur zu Fuß zugängliche Wege zu gehen, bekommt man dadurch unter anderem interessante Rückseiten von Bauwerken zu sehen. Man entdeckt außerdem verdeckte Gebäude oder Nachverdichtungen. In Berlin kommt man, wenn man Abkürzungen über Fußwege nimmt, durch ganze neugebaute Wohnanlagen, die man sonst höchstens aus dem Augenwinkel durch eine Lücke hindurch sieht (zum Beispiel in Friedrichshain zwischen Boxhagener- und Wühlischstraße).
In Halle gibt es in der Fußgängerzone, die den Hauptbahnhof mit der Innenstadt verbindet, eine vielversprechende Lücke, die mal eine Bombenlücke war. Jetzt führt ein Pfad hindurch – man muss ihm nur folgen. Guck dir das Video an, ich mache manchmal Architekturführungen auf Facebook:
Nicht bloß irgendwelche Umwege zu gehen, sondern auch noch durch Gebäude hindurch, erfordert möglicherweise etwas Überwindung, lohnt sich aber. Ich empfehle insbesondere Hochschulgebäude – dort fällt man nicht auf und sie sind häufig architektonisch interessant. Wieder ein Beispiel aus Berlin: Vom Gendarmenmarkt Richtung Spree kann man auch durch das Hauptgebäude der Humboldt-Universität gehen; und vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor über den Campus der Charité, einen der schönsten Orte der Stadt (zumindest, wenn man gesund ist).
Im Zeitalter des Smartphones ist es einfacher denn je, sich schmale Wege durch Städte zu suchen, weil man mit dem Satellitenmodus gängiger Karten-Apps meistens einen ganz guten Überblick darüber bekommen kann, wohin ein bestimmter Durchgang führt, den man von der Straße schlecht überschaut. Klar riskiert man, auch einmal vor einem Zaun oder einer Hecke zu stehen, aber wenn man sich eine Stadt anschaut und nicht bloß von A nach B möchte, sollte man Zeit haben, um einen anderen Weg auszuprobieren.
2. Nach oben schauen
In engen Gassen scheint es eine Selbstverständlichkeit, dass man ab und zu einmal aufschaut, um mehr von den Fassaden mitzubekommen als nur die Schaufenster und Kneipen im Erdgeschoss. Man muss sich aber dennoch dazu zwingen. Das weiß ich unter anderem aus über 15 Jahren Erfahrung mit der Marburger Altstadt. Selbst in Straßen, die ich tausendmal entlanggegangen bin, fallen mir immer wieder Verzierungen auf, die ich noch nie gesehen habe – oder passiv-aggressive Fassadeninschriften („Gehe hin und schweige still, es baut ein jeder wie er will“).
Ähnliches gilt für Hochhausviertel. Natürlich steht man wie ein staunendes Landei im Weg herum, wenn man im Frankfurter Bankenviertel oder in Manhattan den Kopf in den Nacken legt und Wolkenkratzer bewundert, aber davon sollte man sich nicht beirren lassen und hochgucken. (Wenn man den Blick nicht hebt, sieht Midtown Manhattan, Höhe 34. Straße, mit seinen Bäckereien, Schuhläden und Arztpraxen auch bloß aus wie die Venloer Straße in Köln-Ehrenfeld. Wenn man hochschaut, sieht man das Empire State Building.)
Auch außerhalb von Altstadtgassen und Hochhausvierteln lohnt es sich, an den Häusern hochzuschauen. Wie viele Stockwerke haben die Gebäude? Sind sie alle gleich hoch, gibt es Abweichungen, sieht alles nach Kraut und Rüben aus? Mancherorts scheint es historisch keine Regeln für die Höhe der Bebauung gegeben zu haben, und kleine Häuschen stehen zwischen stattlichen Stadthäusern. Das sieht oft erstaunlich niedlich aus, manchmal aber auch unfreiwillig komisch.
Anderswo sind die Höhen auffällig einförmig – zum Beispiel in Berlin innerhalb des Rings, wo seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Höhe von 22 Meter bis zur Dachtraufe eingehalten wird. Ursprünglich war dies eine Brandschutzmaßnahme – eine umkippende Fassade sollte kein Haus auf der anderen Straßenseite in Brand stecken können. 1880 versuchte man, den Wildwuchs der Geschäftshäuser Unter den Linden dadurch in den Griff zu bekommen, dass man auch dort das 22-Meter-Gardemaß anlegte. Seitdem hat sich die „Berliner Traufhöhe“ zu einem Identitätsmerkmal entwickelt, auch wenn alle paar Jahre Diskussionen darüber geführt werden, ob es denn nicht endlich einmal gut sein sollte mit der preußischen Gleichförmigkeit.
Auch bemerkenswert niedrig kann eine Stadt sein, zum Beispiel in Münster oder Erlangen, wo es große Gebiete mit nur zweistöckiger Bebauung gibt, die einen ganz eigenen Charme haben, vor allem bei Sonnenschein, von dem man naturgemäß dort dann mehr mitbekommt. In Städten, die stark zerstört wurden (wie Gießen, Darmstadt oder Köln) findet man selbst 75 Jahre nach dem Krieg noch viele niedrige, barackenartige Gebäude (oft Waschsalons oder Imbisse) mitten in Zeilen aus höheren Bauten. Sie markieren Bombenlücken.
Im folgenden Video kann man jedoch sehen, dass auch in einer weitgehend unzerstörten Stadt wie Halle die Höhen und die Abschlüsse der Häuser nach oben ganz unterschiedlich sein können:
Abgesehen von den Gebäudehöhen zeigt der Blick nach oben auch, ob Häuser mit dem Giebel oder mit der Längsseite zur Straße stehen. Das ist, genauso wie die traditionellen Dachformen, oft regionaltypisch; in manchen Städten mischt es sich. Dächer haben dabei mehr Wirkung auf den Gesamteindruck einer Stadt, als man meint. Bauten des 19. Jahrhunderts in Paris haben die typischen gewölbten Zinkdächer mit Mansarden; in Berlin hingegen haben Gründerzeithäuser eine fast flache Dachkonstruktion mit angedeuteten Schrägen. Die Stadt wirkt im Vergleich zu Paris von der Straße aus quasi dachlos, und von oben gesehen machen die traditionell mit Teerpappe, Sand und Unkraut bedeckten Dachflächen auch vergleichsweise wenig her.
3. Darauf gucken, woraus Häuser gemacht sind
Material spielt natürlich nicht nur bei Dächern eine Rolle. Woraus Häuser gebaut wurden, ist in manchen Gegenden bekannter Teil des Lokalkolorits – norddeutsche Altstädte sind aus Klinker und süddeutsche tendenziell aus Fachwerk. Dort in der Pfalz, wo ich herkomme, gibt es Dörfer, die komplett aus unverputztem, roh behauenem Sandstein gebaut sind. In Südengland gibt es sogar Kirchen aus Feuerstein, der eigentlich wegen seiner Knollenform ein eher schlecht geeignetes Baumaterial ist.
Heutzutage ist man über Klinker, Natursteine und Putz in ihren verschiedenen Aggregatzuständen weit hinaus. Es gibt eine unübersehbare und sich ständig weiter vermehrende Vielfalt von Fassadenmaterialien und -bauweisen. Einmal ist Sichtbeton dazugekommen, den es in zahlreichen Variationen gibt – durchgefärbt in so ziemlich allen Farben, geschliffen, mit dem Meißel nachbearbeitet, chemisch behandelt. Es gibt inzwischen sogar „transluzenten Beton“ mit eingelagerten Glasfasern, der Licht schwach durchscheinen lässt. Aber es gibt natürlich auch Holz, Fliesen, Faserzementplatten (die oft für Keramik oder Kunststoff gehalten werden) und so weiter.
Glas gibt es nicht nur als Fenster, sondern auch in undurchsichtig als pflegeleichtes Verkleidungsmaterial. Insbesondere bei Hochhäusern sind in den letzten Jahren Fassaden aus Metall im Kommen. Ein prominentes Beispiel ist das „Upper West“ am Berliner Breitscheidplatz, dessen Fassade trotz ihrer mehrfach gewölbt und geknickten Form aus lauter gleichen, umgekehrt L-förmigen Metallelementen besteht.
Eines der großen Alleinstellungsmerkmale gegenwärtiger Architektur besteht in dieser Materialvielfalt und dass damit gespielt wird. Die allermeisten neueren Gebäude sind eben gerade keine Betonklötze. Häufig versuchen sie, durch eine bestimmte Materialwahl eine Verbindung zur Tradition und zu Altbauten in der Nähe zu schaffen.
In Halle etwa ist traditionell ein hellgelber Klinker verbreitet, der entweder gemischt oder zeilenweise mit dunkleren Steinen versetzt ist. Daran versucht man gerne anzuknüpfen und durch bestimmte Bauteile irgendwie „historisch“ oder „wertig“ anzumuten. Guck dir dieses Video an. Darin siehst du ein Hotel aus den 90ern, das genau das versucht. Es hat kleine Vordächer aus grünlichem Kupfer (oder zumindest etwas, was so aussieht) und schnörkelige Brüstungen. Die einen mögen so etwas, die anderen finden es furchtbar kitschig.
4. Nach unten schauen
Genauso wie der Blick nach oben rentiert sich auch der Blick nach unten. Um zu wissen, dass man durch eine Straße in Berlin geht, braucht man nicht einmal den Kopf zu heben. Die Bürgersteige haben dort eine unverwechselbare „Corporate Identity“: in der Mitte schräg verlegte quadratische Betonplatten, links und rechts Streifen aus winzigen Pflastersteinen. In älteren Gegenden liegen statt dem Beton große, massive Natursteinplatten („Schweinebäuche“), die quasi ewig halten, über die man aber auch hervorragend stolpern kann, wenn sie sich gegeneinander verschieben. Die Schweinebäuche gibt es allerdings nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen ostdeutschen Städten wie Leipzig, Halle oder Dresden.
Ein reines Relikt der DDR ist quadratisches, poröses Pflaster aus Kupferschlacke – das Material wird zwar inzwischen gar nicht mehr hergestellt, hält sich aber hartnäckig. Die Steine sind so gut wie unzerstörbar und werden auch für neu gebaute Straßen recycelt. Leider sind sie leicht radioaktiv. (Ein Freund von mir aus Mecklenburg meinte dazu, in der DDR sei irgendwie alles leicht radioaktiv gewesen. Als Wessi kann ich das nicht beurteilen.) Im Video sehen wir nicht nur strahlendes Pflaster und eine Menge anderer Bodenbeläge, sondern auch noch etwas anderes sehr Stadttypisches: nämlich schräge Lampen.
Städte haben oft Regelwerke für die Gestaltung von Straßen und Plätzen, die sehr detailliert sein können. Das Handbuch für Jena unterscheidet elf verschiedene „Raumtypen“, für die unterschiedliche Bodengestaltungen vorgeschlagen werden, aber auch sogenannte Freiraumelemente. Dazu gehören Straßenlampen, aber auch andere sogenannte Stadtmöbel wie Bänke und Papierkörbe. Es gibt Städte, in denen Stadtmöbel äußerst charakteristisch sind und eine starke Identität transportieren.
Paris sieht überall aus wie Paris – aber das liegt nicht nur daran, dass alle Gebäude ungefähr gleich hoch sind, helle Fassaden und Zinkdächer haben, sondern auch an den berühmten U-Bahn-Eingängen, den Parkbänken, Zaungittern, Mülleimern und Hydranten und nicht zuletzt an den Trinkbrunnen. Das am weitesten verbreitete Modell von 1872 sieht wie ein kleiner gusseiserner Tempel aus, dessen Dach von vier Frauenfiguren getragen wird, die Tugenden verkörpern (darunter die Nüchternheit).
Stadtmöbel wie Lampen, Bänke und Bushaltestellen sind gerade in Deutschland verschrien als häufiges Opfer von Geschmacksverirrungen, unter anderem, weil es für Kommunalpolitik und Verwaltung recht simpel ist, Einfluss auf sie zu nehmen: Man sucht sie einfach aus Katalogen aus. Manche Stadtmöblierung ist auch wirklich in hohem Maße kopfkratzwürdig – das stilprägende Element der neugestalteten Fußgängerzone in Bayreuth ist zum Beispiel, dass immer eine Sitzbank und ein riesiger Streugutbehälter aus Kunststoff auf einem Betonsockel Rücken an Rücken aufgestellt sind.
Stilsicheres Einrichten ist bei einer Straße mindestens genauso schwierig wie bei einer Wohnung. Städte in Deutschland sind deutlich weniger von markanten, traditionellen Einrichtungsgegenständen geprägt als Paris – die gelben Telefonzellen sind verschwunden und Litfaßsäulen und Eisenpoller gibt es überall. Zumindest in Berlin gibt es aber gute Chancen, dass sich die neuen kugelförmigen Großmülleimer aus Edelstahl (Marke „Bubble 360“) als typisches Designelement etablieren.
Wenn ich heute durch Paris gehe, dann bleibe ich an der Oberfläche und laufe mir die Füße wund, schaue in Hinterhöfe, ich nehme neuen und aufregenden Krempel im Straßenbild zur Kenntnis (Leihfahrrad-Stationen und Ladesäulen zum Beispiel), frage mich hier und da, wer auf die Idee mit diesem Pflaster gekommen ist und bewundere elegante Übergänge zwischen unterschiedlich hohen Gebäuden. Für mich sind Städte ganz konkrete, handfeste Sachen, und ich meine: Diese Perspektive einzunehmen, lohnt sich.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.