KR-Mitglied Stefan ist vor gut 30 Jahren aus Bayern in die Türkei gezogen und lebt seither mit seiner Frau Meryem in der Ägäis, wo er früher Bootstouren anbot und heute Bücher schreibt. Seit Präsident Erdoğan an der Macht ist, fragt sich der 81-Jährige, ob er sein Gastland verlassen oder bleiben soll. Früher besuchten ihn regelmäßig Freunde und Bekannte aus der alten Heimat, doch seit ein paar Jahren bleiben viele weg.
Während die einen kommen, um ihre Unterstützung zu signalisieren, weigern sich die anderen aus Protest gegen die türkische Politik. Fehlende Touristen aus Deutschland wurden teilweise durch Urlauber aus Russland, Israel und anderen Ländern ersetzt – aber nicht in vergleichbarem Umfang. „Für viele Einheimische in den Touristenhochburgen sind das harte Zeiten“, sagt Stefan.
Stefan schrieb mir: „Manchmal denke ich, alleine wäre ich längst weggezogen aus der Türkei. Aber darf ich meine Frau zu meinem Lieblingsort an der Ostsee entführen und sie dann irgendwann alleine dort zurücklassen? Frauen leben länger, Männer gehen früher. Fragen, die mich bewegen.“
Und er fragt sich, ob man in Diktaturen Urlaub machen darf. Er schreibt: „Als Franco in Spanien sein Unwesen trieb und die Obristen in Griechenland, waren die Meinungen der potenziellen Besucher dieser Länder total gegensätzlich. Die einen sagten, keinesfalls darf man das, denn damit unterstützt man das Schreckenssystem. Die anderen sagten, genau deshalb muss man hinfahren, weil die Bevölkerung leidet. Wir dürfen sie nicht alleine lassen, sondern müssen uns solidarisieren.“
Ich habe der KR-Community Stefans Frage weitergegeben. Ich bekam rund 50 Antworten. Ute zum Beispiel ist ein großer Türkei-Fan und sie hat bei ihren letzten Reisen immer wieder überlegt, ob sie fahren soll. Ihr Reisebüro hat sie gebeten, das auch weiter zu tun, weil sie viel im Land herumgereist ist und so die einheimische Wirtschaft unterstützt hat. Aber mittlerweile hat sie beschlossen, dass sie das nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren kann. Stefanie war vor einigen Jahren mit einer Reisegruppe in China unterwegs. Sie sagt: „Ich weiß nicht, ob ich heute nochmal so eine Reise machen würde und wäre für einen Rat ebenfalls dankbar.“
Das sind die Fakten
Die Deutschen lieben das Mittelmeer. Die Türkei zählt neben Spanien und Griechenland zu den beliebtesten Reisezielen. In guten Jahren zog es mehr als fünf Millionen deutsche Urlauber dorthin, die damit die größte Gruppe von Reisenden stellten. Deutschland war der wichtigste touristische Herkunftsmarkt der Türkei. In den vergangenen Jahren sind die Zahlen eingebrochen. Vor allem wegen der Terroranschläge seit 2015, bei denen auch Touristen in Istanbul starben und wegen des Putschversuchs des türkischen Militärs 2016. Bis zu zwei Millionen weniger Deutsche zog es in die Türkei.
Das Auswärtige Amt warnt in seinen Reisehinweisen: „Seit Anfang 2017 werden vermehrt deutsche Staatsangehörige willkürlich festgenommen, mit einer Ausreisesperre belegt oder ihnen wird die Einreise in die Türkei verweigert. Daraus, dass bei Ein- und Ausreisen in die Türkei in jüngerer Zeit keine Festnahme erfolgt ist, kann nicht geschlossen werden, dass keine solche Strafverfolgung droht.“ Häufig geschah dies in Zusammenhang mit regierungskritischen Äußerungen in den sozialen Medien. Auch die Gefahr von Terroranschlägen bestehe nach wie vor.
Seitdem ist die türkische Tourismusbranche in der Krise. Die Einnahmen gingen um fast ein Drittel zurück. Und Präsident Erdoğan rief die fünf Millionen Auslandstürken dazu auf, mindestens eine Woche ihres Urlaubs in der Heimat zu verbringen – und gleich ihre Freunde und Nachbarn mitzubringen. Die türkischen Hoteliers bräuchten sie.
Mittlerweile reisen wieder so viele Deutsche in die Türkei wie früher – im Jahr 2019 geschätzt sechs Millionen. Das liegt auch an den niedrigen Preisen. Dabei ist die Sicherheitslage nach wie vor kritisch, auch für Pauschalurlauber. Zuletzt verschärfte das Auswärtige Amt seine Sicherheitshinweise wieder, nachdem türkische Sicherheitskräfte seit Anfang Oktober 14 kurdischstämmige Deutsche festgenommen haben.
Das sagt die Historikerin
Die Debatte, ob man in Diktaturen reisen darf, ist nicht neu. In den Sechzigern und Siebzigern erlebte der Massentourismus in Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien eine Hochzeit. Die Historikerin Patricia Hertel von der Universität Basel hat dazu geforscht. Ich habe mit ihr telefoniert.
Sie sagt: „Nie vorher konnten so viele Menschen Urlaub machen wie in diesen Jahren des Wohlstands nach dem Krieg. Reisen wurde ein neues Konsumgut, auch für breitere Schichten.“ Politiker und Diplomaten schlossen Abkommen, Reiseveranstalter boten All-inclusive-Pakete an, Werbeexperten dachten sich Kampagnen aus.
Doch Spanien, Portugal und Griechenland waren Militärdiktaturen. Viele stellten die Frage „Hinfahren oder nicht?“ So fragte die Zeit 1970: „Griechenland wirbt mit einem Idyll aus der Vogelperspektive. Touristenboykott – ja oder nein?“
„Die Argumente waren die gleichen wie jetzt“, sagt Patricia Hertel: „Einerseits: Nein, ich unterstütze das Regime nicht durch meine Anwesenheit und mein Geld. Und andererseits: Besser wir fahren dorthin, denn es trifft sonst die kleinen Leute, wie die Zimmermädchen.“
Aber wie soll ein einzelner Urlauber die Verflechtungen der Branche über Ländergrenzen hinweg überblicken? Patricia Hertel sagt: „Woher soll man wissen, ob der Flug in den Urlaub mit der ausländischen Airline, die zu einem globalen Konzern gehört, nicht mit einer deutschen Maschine geflogen wird? Oder ob ein deutsches Unternehmen in das Hotel vor Ort investiert hat? Man kann schwer sagen, wem genau man schadet, wenn man ein Land boykottiert.“
Was Boykottaufrufe im Tourismus betrifft, ist Patricia Hertel deshalb skeptisch. Sie sagt: „Sie waren noch nie erfolgreich darin, eine Regierung dauerhaft zu schwächen. Und selbst, wenn sehr viele Menschen den Aufrufen folgen, ist zweifelhaft, ob eine Regierung ihre Politik ändern würde.“ Auch dass man mit Reisen ins Land zu einer Öffnung oder Liberalisierung des Landes beiträgt, ist ein Irrtum. „Nur weil Touristinnen in manchen autoritär regierten arabischen Ländern im Bikini am Strand baden können, heißt das nicht, dass sich die Länder auch politisch öffnen.“
Patricia Hertels Schluss ist deswegen: Es geht bei der Frage „Reisen oder nicht?“ weniger um die politische Schwächung einer Regierung als um den Ausdruck des eigenen Wertesystems durch Konsumentscheidungen: „Wie und wohin man aus welchem Grund reist, ist ein Mittel für die persönliche ethische Selbstvergewisserung, ähnlich wie die Frage, ob man bio isst oder ein Auto besitzt. Über das Reisen drückt man auch aus, welche Werte einem wichtig sind und wie man diese leben möchte.“
Das sagt die Leiterin von Tourism Watch
Antje Monshausen leitet die Fachstelle Tourism Watch der evangelischen Hilfsorganisation „Brot für die Welt“. Tourism Watch setzt sich für einen sozialen und umweltverträglichen Tourismus im globalen Süden ein. Monshausen sagt am Telefon: „Die Staaten, in die man reist, profitieren finanziell, aber vor allem durch das gute Image, das die Urlauber in die Welt vermitteln. Wenn Reisende auf Instagram Selfies vom türkischen Strand veröffentlichen mit der Botschaft: ‚Seht mal, hier ist alles okay’, profitiert die Politik natürlich davon.“
Darüber hinaus instrumentalisieren autokratische Herrscher den Tourismus auch für den eigenen Personenkult: Ihre Paläste werden zu Tourismusattraktionen, und die Museen erzählen die Geschichte oft mit der Absicht, das eigene Land zu verherrlichen.
„Dennoch ist ein genereller Boykott nicht sinnvoll“, sagt Antje Monshausen. Ihre Argumentation: Viele Türken stehen nicht hinter dem Kurs ihres Präsidenten. Ein Boykott würde große Teile der Bevölkerung treffen und nicht die, die man treffen möchte.
Monshausen rät, die Frage anders zu formulieren. Nicht: Wohin reise ich? Sondern: Wie reise ich? Sie sagt: „Wenn schon der Staat über die allgemeinen Steuereinnahmen aus dem Tourismus profitiert, sollte man darauf achten, dass die Ausgaben insgesamt mehr Menschen zugutekommen. Also lieber ins familiengeführte kleine Hotel reisen, die reinen Touristikzonen verlassen, im Restaurant zu Abend essen und so tatsächlich Geld im Land lassen. Hinter die touristischen Kulissen schauen und mit den Menschen vor Ort ins Gespräch kommen.“
Wichtig ist, verantwortungsvoll zu reisen, und das heißt auch, sich schon vorab zu informieren. „Man kann sich schon zu Hause mit den hier lebenden Türken und Kurden austauschen, deren Tipps und Einschätzungen in der eigenen Reiseplanung berücksichtigen.“
Monshausen leistet diese Arbeit auf politischer Ebene. Sie spricht mit Politikern und Unternehmen über Menschenrechte im Tourismus – ein Wirtschaftsfaktor, über den sich bisher nur wenige Vorreiter-Unternehmen Gedanken machen, wie sie sagt. Immer mehr Kunden fragen zwar danach, aber bis sich tatsächlich alle Veranstalter ihrer humanitären Verantwortung gerecht werden, ist es noch ein weiter Weg.
Das sagt der Tourismusmanager
Harald Zeiss war Nachhaltigkeitsbeauftragter beim Reiseveranstalter TUI Deutschland. Jetzt lehrt er Tourismusmanagement an der Hochschule Harz in Wernigerode. Auch er hält ein Reiseboykott für Diktaturen für keine gute Idee. Am Telefon sagt er: „Touristen – insbesondere die, die Land und Leute kennen lernen wollen – können helfen, ein anderes Bild in das Land zu tragen. Und dort, wo es Touristen gibt, schaut die Weltöffentlichkeit genauer hin. Dort, wo keine Touristen sind, sind die Menschenrechtsverletzungen vielfach noch größer.“
Für Urlauber, die sich Gedanken über die ethischen Konsequenzen ihrer Reise machen, hat Zeiss einen Rat: die eigene Erwartungshaltung zu klären. Jede Reise hat andere Ziele. Manche wollen sich nur an den Strand legen. Andere wollen das Land kennenlernen.
Er rät, sich einen Überblick über die Nachrichten zu verschaffen, damit man nicht überrascht wird. Und dabei entscheiden, ob man das Land dann immer noch besuchen möchte. „Aber pauschal zu sagen, keiner soll dorthin reisen, würde sehr viele Familienunternehmen treffen, die die aktuelle Regierung überhaupt nicht unterstützen“, sagt Zeiss.
Das sagt die KR-Community
Auch die KR-Mitglieder finden Argumente für und wider Urlaub in Diktaturen. Die Gegner argumentieren meist damit, ein politisches Zeichen setzen zu wollen, wie Dennis, der sagt: „Auch wenn die einfachen Menschen vor Ort nichts dafür können, zeigt man auch mit der Wahl des Urlaubslandes seine Unterstützung für das vorherrschende System.“ Oder Monika, die meint: „Es gibt immer noch genug Erdoğan-Fans. Die müssen wissen, dass wir das nicht unterstützen.“
Bei anderen, wie bei Eva, spielt auch Angst vor Verfolgung eine Rolle: „Ich habe früher bei einem Kulturprojekt mitgearbeitet, das große Wellen schlug. Jetzt sitzt unser Projektpartner aus der Türkei seit zwei Jahren im Gefängnis. Ob ich auf irgendwelchen Listen stehe oder nicht, werde ich wohl nie rausfinden, aber ich möchte es nicht drauf ankommen lassen.“ Lu würde nicht in die Türkei reisen, weil es ihr zu unsicher ist, aber „eine Frage der Moral draus zu machen, bringt gar nichts: Die Diktatur bleibt oder geht ganz unabhängig von den Touristen.“
Paula hingegen reist nicht mehr in die Türkei, weil sie als alleinreisende Frau schlechte Erfahrungen gemacht hat. Sie sagt: „Ich wurde ab dem Flughafen von Männern, inklusive der Reiseleitung, um ein Date bedrängt, trotz Ehering und hohem Alter von 42 Jahren. Hilfe vom Hotel? Keine. Diese Erfahrung vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation vor Ort, hat mir wieder einmal gezeigt, dass sich Systeme bis in die kleinsten Verästelungen ausdrücken, und dass das Private politisch wird.“
Knut spricht sich nicht generell gegen Reisen in autokratisch regierte Länder aus. Er rät: „Den inneren Zweck der Reise betrachten: Weshalb will oder muss ich da hin? Kenne ich dort Leute? Will ich’s einfach schön und billig haben? Ist mir bewusst, was mit wem dort passiert?“
Emmanuel war in Belarus und China, weil „die Zivilgesellschaft relativ frei ist und man sich eben frei bewegen kann, was in Nordkorea zum Beispiel nicht geht.“ Er sagt: „Durch Reisen in diese Länder unterstützt man durchaus die Wirtschaft und kann ein positives Bild der (freien) Welt zeigen.“ Und auch Nancy, die in China war, rät: „Hinfahren und versuchen, mit den Menschen zu reden. Aber ohne die Leute vor den Kopf zu stoßen oder in Gefahr zu bringen.”
Darf man in Diktaturen Urlaub machen? Wie so häufig gibt es keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage. Natürlich haben Konsumenten eine Macht durch die Kaufentscheidungen, die sie treffen. Ein politisches System aber werden sie damit wohl kaum umstürzen.
Mit bestem Dank an alle KR-Leser, die sich beteiligt haben: Alexandra, Reiner, Annette, Patricia, Liliane, Andrea, Sam, Volker, Christophe, Eva, Paula, David, Emmanuel, I. Mirk, Hans, Monika, Nancy, Knut, Sascha, Dennis, Jonas, Stefanie, Käthe, Sina, Anna, Melanie, Paul, Caroline, Ute, Marion, Sabmaass, Elga, Ellen, Peter, Alfons, Wolfram, Gitte, Herbert, Anton, Andrea, Barbara, Sebastian, Lu und an Stephan für seine Frage.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.