Sitzung des Bundestages, Mitte Oktober: Der CSU-Politiker Sepp Müller spricht von der „Ideologie der Verbote“ und meint damit die Grünen. Gottfried Curio (AfD) von der „ideologischen Politik“ der Bundesregierung. Und Lars Castellucci von der SPD wirft der AfD wiederum vor, „ideologisch verblendet“ zu sein. Drei unterschiedliche Parteien, drei unterschiedliche Politiker: Dreimal ein Wort, oder genauer ein Vorwurf: „Ideologie“.
Besonders häufig allerdings machen Konservative im Moment diesen Vorwurf – in der Klimadebatte. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak zum Beispiel:
„Greta Thunberg findet deutschen Kohlekompromiss ‚absurd‘ – Oh, man … kein Wort von Arbeitsplätzen, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit. Nur pure Ideologie 🙈 Arme Greta!“ twitterte er in diesem Februar, nachdem Thunberg das späte Kohleausstiegsdatum 2038 kritisiert hatte. Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union griff Ziemiak dann die Grünen an: „Die Grünen sind im Mantel der Bürgerlichkeit unterwegs. Sie wollen einen anderen Staat schaffen mit viel Ideologie und Doppelmoral.“
Der dtv-Atlas Politik – in meinem Politikwissenschaftsstudium ein Standardwerk für alle Studierenden – definiert Ideologien als „Weltdeutungen mit umfassendem Wahrheitsanspruch, die in der Regel in enger Verbindung mit bestimmten politischen Bewegungen (Parteien) stehen“. Neben dem Liberalismus und dem Sozialismus wird dort auch der Konservatismus aufgeführt. Demnach ist also jede Politik ideologisch.
Warum aber werfen Politiker:innen dann anderen Politiker:innen vor, ideologisch zu sein? Ich habe mit dem CDU-Abgeordneten Kai Whittaker gesprochen, mit der Chefin der Linkspartei, Katja Kipping, und mit Robin Celikates, einem Sozialwissenschaftler, der zu Ideologie forscht. Eines wurde dabei deutlich: Wenn Politiker:innen sich gegenseitig vorwerfen, ideologisch zu sein, dann ist das ein bisschen so, als würde ein Fisch dem anderen vorwerfen, das Wasser zu sehr zu lieben.
Anruf bei Robin Celikates, er ist Professor für praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er sagt: „Wissenschaftlich betrachtet, kann der Begriff ‚Ideologie‘ auf drei Arten verwendet werden: Erstens, die negative Verwendung, etwa bei der kritischen Theorie seit Karl Marx. Zweitens, die wertneutrale Verwendung, bei der der Begriff rein beschreibend als anderes Wort für Kultur, Identität, Weltanschauung verwendet wird und schließlich in einem positiven Sinne, Ideologie als etwas, das Menschen mobilisiert.“
Die meisten Menschen, so sieht es Celikates, verwenden den Begriff heute in seinem negativen Sinne. Steht CDU-Generalsekretär Ziemiak mit seiner Ideologie-Kritik an Greta Thunberg also in einer Reihe mit Karl Marx und anderen Vordenkern der Kritischen Theorie, wie dem Frankfurter Theodor W. Adorno?
Eher nicht. Denn im Alltag wird Ideologie anders benutzt als in der Wissenschaft: „Ideologie ist da ein Kampfbegriff, um die gegnerische Position herabzusetzen”, sagt Celikates. Der ideologischen Sichtweise der Gegner:innen wird dann die angeblich objektive, unparteiische, wissenschaftlich-fundierte eigene Position gegenübergestellt. Celikates: „In diesem Sinne ist Ideologie wie Mundgeruch. So hat es der marxistische Theoretiker Terry Eagleton mal ausgedrückt: immer das, was die anderen haben.“
Celikates ist Anhänger der Kritischen Theorie. Der Gegenstand dieser Theorierichtung ist die ideologiekritische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Also die Frage, wie Menschen in unserer Gesellschaft durch das vorherrschende Wirtschaftssystem unterdrückt werden – und was dagegen getan werden kann. Er argumentiert deswegen mit dem negativen, kritischen Ideologie-Begriff und versteht ihn so: „Von Ideologie spricht man nur dann, wenn die Weltanschauung zur Aufrechterhaltung einer Herrschaftsordnung im weiten Sinn beiträgt.“
Celikates illustriert das anhand eines Beispiels: „Wenn ich glaube, dass das Spaghetti-Monster existiert, dann ist das zwar eine verzerrte Vorstellung der Welt, aber keine Ideologie. Erst wenn diese Vorstellung massenwirksam wird und zur Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse beiträgt, wird die Vorstellung zur Ideologie.“
Der CDU-Pragmatiker
Wie sieht die CDU das? Die Pressestelle vermittelt den Bundestagsabgeordneten Kai Whittaker für ein Gespräch. Der 34-Jährige hat für die Ehe für alle gestimmt, fordert einen höheren CO2-Preis und ist Unterstützer der „Union der Mitte“, einer Gruppierung des linken Flügels der CDU. Man könnte sagen: ein Pragmatiker in seiner Partei.
Die konservativen Überzeugungen, auf die sich seine Partei beruft, will Whittaker nicht als Ideologie bezeichnen. Vielmehr zeichne sich der Konservatismus durch eine nicht-ideologische Einstellung aus. Der Konservatismus, so sieht es Whittaker, sei eine Haltung, deren Ziel es ist, auf die Fragen der Gesellschaft, unterschiedliche Antworten zu geben – ohne Weltanschauung.
Zur Illustration wählt Whittaker das Thema Wehrpflicht: „Wir sind eine Partei, die für den wehrhaften Staat steht“, sagt er. Allerdings hätten sich die Anforderungen an die Bundeswehr seit dem Kalten Krieg geändert. Früher habe man eine große Armee benötigt, die im Zweifelsfall gegen die Sowjetunion standgehalten hätte. „Heute brauchen wir eine Spezialistenarmee, damit wir mit hochprofessionellem Personal schnell in internationalen Krisengebieten einsatzbereit sind.“ Das spreche gegen die Wehrpflicht – der Wert dahinter (der wehrhafte Staat) habe sich allerdings nicht geändert.
„Für mich heißt Ideologie, eine politische Forderung so absolut zu setzen, dass sie über den Werten steht, auf denen sich unsere Gesellschaft geeinigt hat, wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit“, sagt Whittaker. „Wenn sich etwas da unterordnen muss, dann ist es für mich Ideologie.“ Die Haltung der Linken zur Bundeswehr – um beim Beispiel zu bleiben –, hält er deswegen für ideologisch. „Die finden alles, was mit Armee und Waffen zu tun hat, aus Prinzip böse.“ Könnte man das nicht auch als pazifistische Grundwerte bezeichnen? „Nein. Der Wert wäre, Frieden zu erhalten. Aber Pazifismus heißt, ich wende unter keinen Umständen Waffengewalt an. Das ist etwas anderes“, sagt Whittaker.
Die Chefin der Linkspartei
Nachgefragt bei der Linken-Chefin Katja Kipping: Hat die Linkspartei eine Ideologie, Frau Kipping?
„Ja, natürlich. Unsere Weltanschauung ist die des demokratischen Sozialismus.“
Kipping versteht unter dem Begriff mehr als nur einen Kanon von Werten – wie Whittaker von der CDU. „Es geht da nicht nur um die Meinung in einer Fachfrage, sondern um ein Menschen- und Gesellschaftsbild. Und der Versuch, über bestehende Zusammenhänge aufzuklären.“ Den Vorwurf der CDU, dass die Linke die Wirklichkeit nur durch die ideologische Brille sehe, hält sie für einen „alten Hut“.
„Die CDU folgt der vorherrschenden neoliberalen Ideologie – auch wenn sie das nicht zugibt. Für mich ist die Frage: Macht man transparent, welche Weltanschauung hinter den eigenen Handlungen stehen oder macht man das nicht?“ Kipping lobt deswegen sogar die FDP: Die sei zwar von einer Ideologie geprägt, die nicht die ihre sei – „aber die machen es wenigstens meistens transparent“, sagt sie. Die CDU suggeriere ein pragmatisches Vorgehen, setze am Ende aber darauf, dass der Markt es regle.
Der Philosophie-Professor
Philosophie-Professor Celikates hält eine ideologiefreie Politik ebenfalls für äußerst unwahrscheinlich. Denn die Annahmen, auf deren Grundlage die Politiker:innen ihre Politik betreiben, sind oft unterbewusst – und stabilisieren doch das vorherrschende System. Zum Beispiel die Überzeugung, dass das Erhalten oder Schaffen von Arbeitsplätzen die wichtigste Maßgabe für gute Politik sei – eine Überzeugung, die fest an den Wachstums-Gedanken unseres Wirtschaftssystems gebunden ist.
Aber auch, wenn es kaum möglich ist, komplett ideologiefrei zu sein: „Ich glaub schon, dass man eine Unterscheidung machen kann, wie stark jemand mit den herrschenden Interessen zusammenspielt.“
CDU-Generalsekretär Ziemiak etwa sei viel stärker in die Interessen von Industrie und Automobilbranche eingebunden als die „natürlich trotzdem in irgendeiner Weise ideologisch argumentierenden Klimaschutzaktivisten“, sagt Celikates.
Warum legt die CDU denn so großen Wert darauf, keiner Ideologie zu folgen? „Für Ideologie ist es wichtig, sich selbst nicht als Ideologie zu präsentieren.” Denn ist ein ideologisches System einmal als solches identifiziert worden, kann es ja durchaus auch geändert werden, etwa durch eine andere Ideologie. Schwerer ist das natürlich mit einem System, das so natürlich erscheint, dass es gar nicht hinterfragt wird – und so nicht als Ideologie erkannt wird.
„Dabei ist es eine sehr ideologische Vorstellung, sich selbst als ideologie-frei zu bezeichnen“, sagt Celikates. Er sieht den Vorwurf von Ziemiak deswegen als Versuch, die Verhältnisse umzudrehen: „Thunberg hat die Wissenschaft auf ihrer Seite, an der kommt die CDU nicht vorbei.“ In der Auseinandersetzung repräsentiere der CDU-Generalsekretär so eigentlich die Ideologie des Wachstums – „Ziemiak sagt: Wir müssen an die Arbeitsplätze denken und verteidigt so die bestehenden Verhältnisse.“
Ideologie spielt eine wichtige Rolle
In dieselbe Richtung geht Linken-Parteichefin Kippings Argumentation: „Diejenigen, die behaupten, ideologiefrei zu sein, stärken am Ende vor allem den Status quo.“ Als herrschende Ideologie bezeichnet Kipping die Dominanz des Neoliberalismus. Whittaker will das nicht so sehen: „Ideologien haben Menschen eher ins Verderben geführt als ins Paradies“, begründet er seine Ablehnung aller Ideologie.
Whittaker selbst stellt nicht die ganze „Fridays-for-Future“-Bewegung unter Ideologie-Verdacht. „Deren Forderung lautet ja: Politik, bitte sorgt dafür, dass alles getan wird, dass die Ziele von Paris eingehalten werden.” Ideologisch werden die Klima-Aktivist:innen seiner Meinung nach woanders: „Wenn man den demokratisch legitimierten, politischen Prozesse als nicht ausreichend darstellt, dann erleben wir eine ideologische Radikalisierung“, sagt der CDU-Abgeordnete.
Wenn der Begriff so verschieden und polemisch benutzt wird – wäre es da nicht besser, einen anderen zu finden? Philosoph Celikates glaubt, dass der Begriff abseits des alltäglichen, vorwurfsvollen Gebrauchs etwas wichtiges leisten kann: „Bei Ideologien geht es immer um größere Zusammenhänge und größere Strukturen, die erklären, warum Menschen etwas tun, auch wenn es letztendlich nicht in ihrem Interesse oder dem Interesse der Gesellschaft ist. Warum leben wir in einem System, das die Grundlagen unseres eigenen Lebens untergräbt – wie wir es gerade bei der Klimakatastrophe erleben? Warum tut dagegen fast niemand was? Das ist das Rätsel. Und hier spielt Ideologie eine wichtige Rolle – aber nicht so, wie Paul Ziemiak das glaubt.“
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.