Wie Städtern das Leben auf dem Land gelingt

© Jörg Gläscher / Robert Bosch Stiftung

Leben und Lieben

Wie Städtern das Leben auf dem Land gelingt

In Zeiten teurer Mieten denken viele Städter über einen Umzug aufs Land nach. Das kann klappen, wie die Geschichten von Philipp und Nadine zeigen. Aber wer umzieht, muss seine Vorurteile über das Dorf hinter sich lassen.

Profilbild von Hannah Beitzer

Als sie hörten, dass ein Gemeinschaftsprojekt den alten Gutshof übernehmen will, da waren einige Bewohner des Dörfchens Prädikow in Brandenburg sich nicht ganz sicher, mit wem sie es da zu tun haben: Eine Sekte? Eine Kommune? Teilen die alles? Nehmen die Drogen?

„Diese Prädikower waren dann recht erleichtert, dass bei uns jeder seine eigene Wohnung, sein eigenes Bad haben wird“, sagt Philipp Hentschel. Er lacht, ein bisschen zugespitzt ist die Anekdote, doch er erlebt seit einigen Jahren viele Situationen wie diese. Der Projektmanager aus Berlin setzt gerade einen Traum um, den in der vollen Stadt mit den teuren Mieten immer mehr Leute träumen: Er zieht raus aufs Land.

250 Menschen wohnen zur Zeit in etwa in Prädikow, es gibt eine kleine Dorfkirche und eben jenen Gutshof, einen der größten Vierseitenhöfe Brandenburgs, der mit seinem markanten Schornstein die Optik des Dorfes prägt. Bis zur Wende war er das Zentrum des Dorfes in der Märkischen Schweiz, es gab eine Bäckerei, eine Brennerei, eine Schmiede, Ställe und Wohnungen. Doch dann kam die Treuhand, das Gut verfiel. Bis Philipp Hentschel und seine Mitstreiter es mithilfe einer Stiftung erwarben.

Ihr Projekt ist eine Lebensaufgabe, seit 2016 basteln Hentschel und einige Dutzend Mitstreiter an dem Konzept für den alten Hof in Prädikow, der zuvor über Jahre zerfallen war. Es soll dort einen Coworking Space geben, eine Tischlerei und eine Goldschmiede, dazu Platz für Veranstaltungen. Hentschel erzählt davon in seiner alten Heimat, Berlin-Friedrichshain, an einem der letzten warmen Tage des Jahres in einem Café direkt an der Spree, unweit der Oberbaumbrücke, der Blick fällt auf den gegenüberliegenden Club Watergate. So urban wie das Umfeld ist eigentlich auch Philipp Hentschel: 36 Jahre alt, selbstständiger Projektmanager, einer, den man in Coworking Spaces findet.

Wie so viele derjenigen, die heute als typisch urban gelten, ist er aber eigentlich kein Berliner. Er kommt ganz aus der Nähe von Prädikow, östlich von Berlin, wo die S-Bahn-Linie mit der Nummer fünf in Strausberg endet. Und dahin wollte er irgendwann wieder zurück. Da er digital und zudem auch noch freiberuflich arbeitet, ist ein Umzug für ihn kein Problem. Gleichzeitig will er bestimmte Dinge aus der Stadt nicht missen. „Zum Beispiel ein Arbeitsumfeld, das mich inspiriert“, sagt Hentschel. Da liegt es nahe, den Schritt gemeinsam mit anderen zu wagen. „Der Hof in Prädikow hat uns dann quasi gefunden“, sagt er.

Er ist Teil einer aufkeimenden Bewegung, die gerade viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Kürzlich untersuchte die Studie „Urbane Dörfer“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung gemeinsam mit dem Thinktank „Neuland 21“ mehrere Gemeinschaftsprojekte landwärts ziehender Städter in Brandenburg und Sachsen. Das Ergebnis: Digitale Arbeit ermöglicht ganz neue Möglichkeiten für den ländlichen Raum, sofern es schnelles Internet und eine gute Verkehrsanbindung an die nächstgrößere Stadt gibt. Vor allem Freiberufler und Kreative wagten derzeit den Sprung nach draußen, gründeten dort Coworking Spaces, aber auch Cafés, Werkstätten und Veranstaltungsräume.

Die Studie hält das Potenzial für enorm. In Brandenburg zum Beispiel profitiert der Speckgürtel um Berlin schon seit mehreren Jahren von der wachsenden Stadt, so dass auch dort langsam die Wohnungspreise steigen, der Platz knapp wird. Regionen, die weiter weg von Berlin liegen, verlieren hingegen Einwohner. Dazu gehören Städte wie Cottbus, aber auch der Landkreis Uckermark, den viele Berliner bisher allenfalls als Ort für Wochenendausflüge nutzen. Das könnte sich den Autoren der Studie zufolge ändern, wenn auch Unternehmen von der strengen deutschen Präsenzkultur abrücken, die im digitalen Zeitalter ja eigentlich nicht mehr nötig ist.

Doch einige Hindernisse gibt es schon - und die haben weniger mit den Unternehmen zu tun, mit dem Internet oder mit der Verkehrsanbindung. Sondern mit den Leuten, die die Studie als potenzielle Zuzügler ausmacht.

Die falsche Vorstellung vom homogenen Dorf

Wer sich mit auszugswilligen Städtern unterhält, der merkt sehr schnell: Fast mehr noch als die Frage nach schnellem Internet und schnellen Zugverbindungen treiben sie andere Fragen um. Passt das Landleben zu mir? Werde ich Anschluss finden – oder auf Misstrauen stoßen? Diese Fragen zu beantworten, ist nicht ganz leicht. Denn nicht nur die Bilder, die sich Dorfbewohner von den vermeintlichen Sekten-Kommunen machen, entsprechen nicht immer der Realität. Auch die Leute, die die Städte verlassen wollen, haben ihre eigenen Bilder vom Landleben im Kopf, die das tatsächliche Ankommen im Dorf stören.

Das erste Missverständnis ist da schon einmal die Vorstellung von „dem Dorf“, sagt Stephan Beetz. Er ist Professor an der Hochschule Mittweida, einer Kleinstadt im mittelsächsischen Bergland. Er wohnt nicht nur selbst fernab der großen Städte – unter Professoren selten genug – sondern beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Verhältnis von Stadt und Land und dem Alltag in ländlichen Regionen. „Das Dorf war nie eine homogene Gemeinschaft“, sagt er. Es gebe zahlreiche Studien, die zeigten, dass zum Beispiel Kleinbauern und Großbauern früher nichts miteinander zu tun gehabt haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien dann Flüchtlinge und alte Dorfbewohner jeweils unter sich geblieben, und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sei dasselbe mit den Spätaussiedlern passiert. Es sei häufig so, dass soziale Gruppen, die zuziehen, ihren Alltag erst einmal unter sich organisieren.

Das Bild von der eng verwobenen Dorfgemeinschaft sei allerdings nicht nur bei Städtern präsent, auch viele Dorfbewohner trugen es vor sich her. „Häufig wird da auch eine Vergangenheit verklärt, die es so nie gegeben hat“, sagt Beetz. So hört man oft von Dörflern: Früher war der Zusammenhalt besser. Tatsache sei aber, dass sich Dörfer wie Städte veränderten, Leute gingen, andere hinzukämen: „Manchmal bleiben die Gruppen unter sich, manchmal verändern sich aber auch ihre Beziehungen – und manchmal stellen die Zugezogenen plötzlich sogar den Bürgermeister.“

Konservatives Land – moderne Stadt

Ebenso mächtig wie die Erzählung von der alles umspannenden Dorfgemeinschaft ist die vom Dorf als Heimat der Tradition. Oder, je nach persönlicher politischer Ausrichtung, des Stillstands, des Konservativismus, gar der rechten Einstellungen. Anlass dafür geben auch die Wahlergebnisse. Zur Europawahl zum Beispiel triumphierten in den großen Städten die Grünen, auf dem Land überwiegend die CDU. Im Osten Deutschlands ist außerdem die AfD in ländlichen Regionen besonders stark.

„Es ist unheimlich schwer zu sagen, ob das Dorf an sich konservativer ist als die Stadt, denn es kommen da viele Faktoren zusammen“, sagt Stephan Beetz dazu. Zum Beispiel habe die Bevölkerungsstruktur einen Einfluss. „Da Universitäten zum Beispiel in größeren Städten liegen, leben dort mehr Studenten“, sagt er. Diese hätten im Schnitt nicht nur progressivere Einstellungen als Rentner, sondern auch als gleichaltrige junge Erwachsene.

Doch Beetz sieht einen gewissen Konservativismus durchaus auch in der Struktur des Dorfes angelegt. „In Städten tue ich mich leichter, für meine Ideen Gleichgesinnte zu finden – und Räume, in denen ich Leute mit anderen Ideen nicht störe“, sagt er. Im Dorf hingegen müsse man sich in Aushandlungsprozesse hinein begeben, erst einmal eine kritische Masse für eine Idee erreichen. Ein Konzert organisiert sich nicht von allein. „Das führt dazu, dass Neuerungen manchmal etwas länger dauern – oder eben ausgebremst werden.“ Dennoch ist es ihm wichtig zu betonen: „Konservative Milieus gibt es natürlich auch in Städten.“ Und progressive Menschen auch auf dem Dorf.

Beetz stört auch die Vorstellung, dass jemand entweder „Städter“ oder „Dörfler“ sei. „Das wird den Migrationsbewegungen, die zwischen ländlichem Raum und Metropolen schon immer stattfinden, nicht gerecht“, sagt er. Und auch nicht den Lebensläufen vieler Menschen: „Die wachsen vielleicht auf dem Land auf, gehen dann zum Studium in die Stadt, kehren zurück, wenn sie eine Familie gründen und ziehen im Alter wieder in die Stadt“, sagt er.

Offenheit statt Überheblichkeit

So wie Philipp Hentschel. Als Rückkehrer hat er einen besonderen Blick, da ihm die Region um Prädikow nicht fremd ist. „Die Leute beißen nicht“, sagt er und lacht. Aber natürlich gebe es einige Fallstricke, die es zu umgehen gelte. „Wenn Städter aufs Land ziehen, dann schleicht sich da ganz schnell so ein bevormundender Unterton ein.“ Nach der Art: Wir machen jetzt hier mal ein tolles Projekt, damit sich was tut. „Das finde ich problematisch. Denn in Wahrheit gibt es ja oft schon ganz viele Leute, die auf dem Land seit Jahrzehnten etwas bewegen.“ Das reiche von den zahlreichen Rückkehrerinitiativen, die es in Ostdeutschland gebe, über Künstlerkolonien bis hin zu Bildungsprojekten oder ganz klassischen Dorfvereinen. Seiner Meinung nach müssen die Neuankömmlinge da von sich aus die Hand ausstrecken.

Auf dem Hof Prädikow haben sie gleich zu Beginn ein großes Hoffest gefeiert, erzählt Hentschel: „Der Hof war jahrelang für die Dorfbewohner verschlossen, dabei war er einmal das Zentrum des Dorfes.” Ein alter Brennmeister, der sein ganzes Leben in Prädikow verbracht und lange auf dem Hof gelebt und gearbeitet hat, machte Führungen auf dem Gelände. „Er ist einer unserer wichtigsten Fürsprecher“, sagt Hentschel.

Die Dorfscheune, das erste Gebäude auf dem Weg vom Dorf in den Gutshof, gestalten alte und neue Prädikower gerade gemeinsam. Dort soll der Coworking Space sein, aber auch Platz für den Skatabend, den Nähclub. „Das wird sicher noch interessant, wenn die einen arbeiten wollen, während nebenan die Nähmaschinen rattern“, sagt Hentschel.

Denn ja, die Interessen gehen zuweilen auseinander, die Vorstellungen auch. Die milchig-weißen durchscheinenden Wände, die den Neu-Prädikowern für die Dorfscheune vorschwebten, kommentierte ein Alteingesessener mit: „Ich will doch nicht in einem Joghurtbecher sitzen.“ Durchaus freundlich, sagt Hentschel - „Ihm ging es um das Raumklima“ - aber direkt.

Es ist eben ein ständiges Verhandeln, manchmal gibt es Kompromisse, manchmal nicht. „Insgesamt war ich positiv überrascht, wie freundlich uns alle aufgenommen haben“, sagt Hentschel. Er schwärmt davon, wie ein Dorfbewohner ohne große Worte die Veranstaltungstechnik für das Dorffest gewuppt habe, wie ein Nachbar seine Hilfe in handwerklichen Fragen anbot. „Sie haben da ja sehr viel mehr Erfahrung als wir.“

Die Prädikower ertrügen sogar die Medienaufmerksamkeit, die das Projekt auf dem Gutshof nach sich zog. Hentschel selbst erlebt da durchaus einen Zwiespalt. Er freut sich natürlich, dass der Gutshof als Vorbild für ein modernes Landleben gilt. Doch auf der anderen Seite sei es durchaus ein Problem, das Projekte wie die Urbanen Dörfer so viel Aufmerksamkeit kriegen – und die zahlreichen verwurzelten Initiativen nicht.

„Das liegt auch daran, dass wir in unserem Milieu, in unseren Jobs daran gewöhnt sind, unsere Projekte öffentlichkeitswirksam zu präsentieren“, sagt er. So ein Vorgehen sei auf dem Land nicht üblich: „Da hätte man viel zu große Angst vor dem Gesichtsverlust, wenn es nicht klappt.“ Ganz zu schweigen davon, dass oft Zeit und Know-how für scheinbar banale Dinge wie eine moderne Webseite fehlten.

Man müsse da auch aufpassen, sich nicht gegenseitig das Wasser abzugraben. „Zum Beispiel, wenn sich verschiedene Projekte um dieselben Fördergelder bewerben“, sagt Hentschel. Seine Projektgruppe hat öffentliche Fördermittel für die Renovierung der Dorfscheune beantragt.

© Peter Ulrich / Hof Prädikow

Kein Ufo sein

Ähnliche Erfahrungen machte auch Nadine Binias. Die 41 Jahre alte Yogalehrerin und Kommunikationsberaterin arbeitet gerade als Projektentwicklerin für den „Kulturpark Stolpe“. In einem alten Betonwerk soll in dem Dorf in der Uckermark ein Ort für Veranstaltungen, Coworking, Handwerk, Tourismus und neue Wohnformen entstehen. Und zwar ausdrücklich nicht nur für großstadtmüde Hipster, sondern auch für die Leute im Dorf. Das ist gar nicht so einfach, sagt sie. „Das Betonwerk war hier jahrelang der wichtigste Arbeitgeber, auch die einzige Kneipe im Dorf gehörte dazu.“

Deswegen sei es wichtig, die Leute vor Ort gut einzubinden – und sich nicht wie ein Ufo ins Dorf zu setzen. Noch ist das Betonwerk fast im Originalzustand, große Hallen, viel Grau, rauer Industriecharme statt Landidyll. Es liegt am Oderkanal, ringsum einige Dutzend Häuser, auf einem Hügel darüber thront der Stolper Turm, der dickste Bergfried Deutschlands. Nadine Binias aber lässt das Projekt vor den Augen der Besucher entstehen.
Sie zeigt auf die Pläne für den Kulturpark, die im sogenannten Sozialgebäude hängen, wo sie heute kochen, übernachten und wo auch schon ein Café eröffnet hat.

Auf den Plänen liegt neben einem „Makerspace“ zum Beispiel eine „Mehrzweckhalle“, zwei Begriffe aus zwei Welten. „Das war den Einwohnern hier sehr wichtig, dass sie einen Ort für Veranstaltungen haben.“ Einen Fürsprecher haben sie im Bürgermeister von Angermünde, der Kleinstadt, zu der Stolpe gehört. Frederik Bewer hat auch viele Jahre in Berlin gelebt, ist ein Rückkehrer wie Philipp Hentschel und sagt: „Angermünde muss sich bewerben.“ Bei Leuten wie Nadine Binias zum Beispiel, aber auch bei ganz anderen Menschen: Metzgern, Handwerkern, Hoteliers. Bei einem Spaziergang durch die Stadt zeigt er stolz die sanierten Altstadtgebäude - aber auch die Geschäfte, die leer stehen.

Nadine Binias ist selbst erst im Juni in die Gegend gezogen. Ihre Annäherung an das Landleben fand über viele Jahre statt. „Als ich das erste Mal hierher kam, hatte ich gar nicht im Sinn, aufs Land zu ziehen“, sagt Binias. Das war vor sechs Jahren. Sie lebte damals in Berlin, hatte ein Yoga-Retreat auf einem Gutshof in Stolzenhagen gebucht, 15 Autominuten von Stolpe entfernt.

Das Gut Stolzenhagen ist ein Pionierprojekt im Sinne der Urbanen Dörfer. Aus einer verfallenen ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft baute eine Gruppe von Berliner Freunden schon vor 20 Jahren ein Refugium auf, das dem Traum vieler Stadtflüchtiger ziemlich nahe kommt. Verschlungene Wege führen vorbei an Gewächshäusern und bunten Hütten, im Gästehaus residieren den Sommer über Künstler, jedes Wochenende ist dann was los: Veranstaltungen, Workshops, Seminare. Die Stolzenhagener leben in höchst unterschiedlichen Lebensmodellen hier, vom Berlin-Pendler bis zum fest verwurzelten Handwerker.

„Ich war fasziniert von der Schönheit der Natur, mochte die Leute, aber auch die Nähe im Dorf.“ Sie kam wieder, für Projekte, für Partys, gewann Freunde. „Außerdem habe ich mich beruflich mit den Themen Ökologie und Landleben beschäftigt.“

Binias fragte sich immer häufiger: Warum nicht hier leben? Sie hatte das Gefühl, mit ihrem Engagement mehr bewegen zu können als in der Großstadt. Zuerst dachte sie daran, am Wochenende aufs Land zu ziehen und unter der Woche weiter in Berlin zu leben. Doch die Stolzenhagener sagten: Entweder du kommst ganz oder gar nicht. „Erst war ich empört: Die haben mir doch nicht zu sagen, wie ich zu leben und zu arbeiten habe“, sagt Binias. „Aber dann sagten sie mir: Komm bitte einmal im Herbst oder Winter hierher, wenn alle Gäste weg und die Fenster dunkel sind.“

Eine Frage der Wortwahl

Binias lernte ihre erste Lektion: Wer auf dem Land ankommen will, der muss den Leuten auch zeigen, dass er es ernst meint. Es dauerte dann noch eine Weile, bis sie Berlin ganz hinter sich lassen konnte, sie musste sich selbst immer wieder zureden, dass die Stadt ja noch nah sei. „Doch ehrlich gesagt fahre ich immer seltener hin“, sagt sie. Und das gerade einmal vier Monate nach dem Umzug.

Dass ihre Annäherung ans Dorf über viele Jahre hin stattfand, war für sie ein großer Vorteil. „Ich kam da nicht mehr mit unrealistischen Erwartungen rein“, sagt sie. Die ersten Kontakte waren schon da, die ersten Erfahrungen gemacht. 2018 zum Beispiel hat sie in der Region ein Musikfestival mit organisiert, für Alteingesessene, Zugezogene, Besucher. „Da war das größte Kompliment, das ich bekommen habe, nicht: gute Musik. Sondern: Hätte gar nicht gedacht, dass du so anpacken kannst.“

Sie weiß, dass natürlich auch die Dorfbewohner ihre Stereotype im Kopf hatten: „Yoga-Lehrerin und PR-Tante aus Prenzlauer Berg, alles klar.“ Sie lacht. „Ich bin das ja auch alles. Aber eben noch viel mehr.“

Sie verschweigt aber auch nicht die Momente, in denen es nicht auf Anhieb gut lief. Im Sommer organisierte sie gemeinsam mit einem Forschungsteam der Robert Bosch Stiftung im Kulturpark Stolpe das sogenannte „Concrete Transformation Festival“. Berliner und Anwohner sollten hier gemeinsam zwei Wochen lang an der Zukunft des ehemaligen Betonwerks arbeiten. Das reichte von „Was wollt Ihr immer mit Eurem englischen Zeug“ bis hin zu „Warum glaubst Du, uns erzählen zu können, wie hier die Transformation abzulaufen hat?“ Im Osten Deutschlands, so erzählt sie noch, schwingt da schnell der Besserwessi mit: „Kommt hierher und sagt, wie alles zu laufen hat. Und wenn es dann nicht klappt, ist er wieder weg.“ Solche Rückmeldungen muss man auch erst mal wegstecken können - Binias empfindet sie jedoch als wertvoll.

Und natürlich steht gerade noch ein ganz anderes Thema zwischen Berlinern und Brandenburgern, eines, bei dem es nicht nur um Befindlichkeiten geht: Wie hältst du’s mit der AfD? In Brandenburg wurde sie in den Landtagswahlen zweitstärkste Kraft, im Wahlkreis Uckermark I, zu dem auch Stolpe gehört, erreichte sie sogar die meisten Stimmen.

„Für mich war das gerade ein Grund, hierher zu ziehen, mich zu engagieren“, sagt Nadine Binias, die Mitglied bei den Grünen ist. „Wir dürfen denen doch nicht das Feld überlassen.“ Sie könne sich auch gut vorstellen, welcher ihrer neuen Nachbarn AfD wähle. „Wenn wir alle immer nur in unseren Blasen bleiben, dann verändert sich nichts.“

Auch hier ist es letztlich die Frage nach der kritischen Masse. Gibt es in meiner Umgebung genug Gleichgesinnte, dass ich die anderen aushalten kann? „Viele haben natürlich Angst davor, auf dem Land mit ihrer Einstellung plötzlich in der Minderheit zu sein“, sagt auch Philipp Hentschel. „Deswegen wagen sie den Sprung eher im Schutz der Gruppe.“

Viva Körner

Dann nämlich ist es leichter, sich zu sagen: Auch ein Dorf ist keine Zwangsgemeinschaft. Einige Dinge macht man gemeinsam, andere eben nicht. „Ich war früher nicht in der Freiwilligen Feuerwehr und werde das auch heute nicht tun“, sagt Philipp Hentschel, „ich engagiere mich lieber in Projekten, die mir auch wirklich liegen.“ Denn Offenheit bedeutet eben noch lange nicht, sich selbst zu verbiegen.


  • Das Netzwerk Zukunftsorte sammelt interessante Projekte in Brandenburg, ebenso die Webseite Kreativorte Brandenburg.

  • Alle drei Jahre prämiert das Bundeslandwirtschaftsministerium im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ besonders engagierte Gemeinden.

  • In „Landwärts“-Workshops können Städter, die aufs Land wollen, sich austauschen und von anderen lernen.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.