KR-Mitglied Sabrina pendelt jeden Tag mit der Regionalbahn von Berlin nach Rathenow zur Arbeit, das ist eine gute Stunde pro Weg. Dabei wird sie Zeugin aller nur denkbaren Rücksichtslosigkeiten von Mitreisenden: „6 Uhr, Berlin-Jungfernheide. Alle schlafen noch. Aber einige sind laut, sie sehen auf dem Handy Serien oder hören Techno“, sagt Sabrina. „Und man denkt: Kopfhörer wären auch nicht schlecht.“
Manchmal gelingt es der 35-Jährigen, das auszublenden, selbst Kopfhörer aufzusetzen oder sich mit Kollegen auszutauschen und dem Störenfried sprechende Blicke zuzuwerfen. Manchmal geht sie auch hin und sagt: „Ja, Entschuldigung, ist ein bisschen laut.“ Die Reaktionen sind erstaunlich, sagt sie: „Die Leute rechnen nicht damit, angesprochen zu werden. Die einen sind betreten, schämen sich, die anderen aber sind richtig pissig.“
Sabrina berichtet mir noch von einer anderen Situation: „Neulich in der vollen Bahn schnauzte ein Opa zwei Jungs an, die zwei Stühle im vollen Zug transportierten. Ich nahm meinen Mut zusammen und sprang den Jungs bei. Der Opa ließ aber nicht ab, sie zu bedrängen. Daraufhin mischte sich ein muskelbepackter Zwei-Meter-Mann ein und machte dem Opa eine deutliche Ansage, schon leicht aggressiv. Der Opa zog sich dann zurück. Das hat mich ein bisschen stolz gemacht, dass ich etwas erreicht habe.“ Aber die Situation wäre fast eskaliert – wäre das auch anders gegangen?
„Courage zeigen oder Duckmaus spielen?“, fragt sich Sabrina und möchte wissen, wie man reagieren kann.
Ich spreche mit Ralf Bongartz, um mir geeignete Strategien gegen Ruhestörer erklären zu lassen und mit einem Zugbegleiter, dessen Stammstrecke an einem Jugendarrest vorbeiführt.
Das sagt der Konflikttrainer
Ralf Bongartz hat 20 Jahre lang bei der Kriminalpolizei gearbeitet, war zuständig für die Aufklärung von Sexualstraftaten, Tötungsdelikten und Rechtsextremismus. Heute trainiert und berät er Busfahrer, Lehrer und Sozialarbeiter darin, Streits zu schlichten und Konflikte zu lösen.
Als ich ihm Sabrinas Geschichte erzähle, reagiert er zurückhaltend. Er sagt: „Das Problem bei Sabrina und dem Opa ist: Wenn man von außen helfen will, sollte man nicht einfach reinplatzen, sondern erst mal zeigen, dass man da ist und fragen ‚Braucht ihr Hilfe?’ Eine solche Frage schafft Präsenz und Öffentlichkeit und stärkt das Opfer. Es geht um Schutz und nicht um Kampf. Konfrontiert man Täter direkt, wird es häufig dadurch noch schlimmer, dass man Kampfsprache benutzt: ‚Hey, lassen Sie den Unsinn; was fällt Ihnen ein!? Hören Sie auf mit dem Mist, sind Sie noch ganz klar im Kopf!?“
Wenn das eigene Verhalten nicht klar ist, verrennt man sich schnell und wählt den falschen Ton. Dann braucht man eine Exit-Strategie. Man muss sich überlegen, wie man sich aus der Situation rausbewegt. Erst neulich hat der Konflikttrainer in der Bahn miterlebt, wie ein Streit um laute Musik eskalierte. Eine Frau sprach den Musikhörer in Zimmerlautstärke an. Sie sagte: „Es tut mir leid, Ihre Musik ist nicht mein Geschmack. Könnten Sie die leiser machen?“ Der Angesprochene ging in die Luft. Die Frau hat nach Ansicht von Bongartz zwei Fehler gemacht: „Sie hat ihr Gegenüber beziehungsweise dessen Musikgeschmack herabgesetzt. Und sie hat so laut gesprochen, dass alle mithören konnten, sodass der andere sein Gesicht verlor.“
Bongartz sagt: „Man muss sich klarmachen, dass man ohne Vertrauen und ohne Beziehung zu der angesprochenen Person bei leichten Störungen immer deeskalativ vorgehen sollte.“ Der Ton macht die Musik. Die Leute sind zum Teil sehr empfindlich, wenn man sie direkt konfrontiert. Daher braucht man, so Bongarzt, sozialen Schmierstoff, Deeskalatoren. Durch die Art, wie man den ersten Kontakt aufbaut, kann man es dem anderen entweder leicht oder schwer machen, zur eigenen Bitte ja zu sagen. Was die Musik angeht, kann man es so versuchen: „Tschuldigung, geile Musik, aber könnten Sie mir den Gefallen tun, die etwas leiser zu stellen … sitze direkt hinter Ihnen und brauche ein paar Minuten Ruhe … danke!“ Und das Ganze im Flüsterton. Der erste Kontakt gelingt also besser, wenn man die folgenden Prinzipien beachtet:
Die fünf wichtigsten Prinzipien einer Ansprache bei leichten Störungen
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Bauchgefühl: Atme durch, spüre den Ärger oder Angst. Überlege dir: Will ich das jetzt oder nicht? Ist es wichtig genug oder bin ich aus anderen Gründen nur genervt? Schaue dir den anderen genau an: Wie sieht er aus, ist er auf Krawall gebürstet? Dann am besten: meiden, ignorieren, woanders hingehen. Oder den Schaffner holen.
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Suche nach dem guten Grund: Frage dich, warum der andere das gerade tut, etwa laut Musik hört. Wir neigen dazu, immer den schlechtesten Grund zu suchen, negative Absichten zu unterstellen. Das ist häufig gar nicht der Fall. Womöglich will der andere gar nicht rumprovozieren, sondern sich ausdrücken, Hardcore eben laut hören, oder er sucht Kontakt. Gehe davon aus, dass der andere nicht gegen dich, sondern für sich handelt. Dann wirst du selbst viel weniger aggressiv auf ihn zugehen.
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Setze Deeskalatoren: Man kann eine positive Absicht unterstellen, man kann Öffentlichkeit meiden und leise sprechen, man kann freundlich sein anstelle von genervt, man kann den anderen freundlich ansehen und eine Bitte aussprechen. Gehe davon aus, dass der andere ein Mensch ist, der dir sehr wichtig ist und den du magst.
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Sei nicht moralisch: Man kann davon ausgehen, dass beide recht haben. Willst du recht haben oder erfolgreich sein? Beides gleichzeitig geht nicht. Wenn man den anderen ins Unrecht stellt, warum sollte er oder sie dann handeln?
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Unternimm höchstens zwei bis drei beharrliche Versuche: Wenn das nichts bringt, tritt den Rückzug an, denn du kannst niemanden zwingen, etwas zu tun. Frage dich: Akzeptiere ich das? Oder hole ich Hilfe (Polizei oder Zugbegleiter)? Und daran anknüpfend: Kündige ich das an oder führe ich das einfach durch?
Bei schweren Verstößen, wenn zum Beispiel jemand angegriffen wird, dann hole auf jeden Fall Hilfe und binde schon vor Ort andere ein. Dann ist eine Deeskalation nicht sinnvoll, sondern eine Konfrontation: „Dann braucht es ein starkes Auftreten, eine klare Stimme. Gestik, Mimik und Blickverhalten müssen eindeutig sein.“ Bongartz rät, dann eine klare Ansage zu machen, etwa: „Stopp! Was ist los, dass Sie so sauer sind?“ (Klärendes Konfrontieren) oder „Stopp, das sind Beleidigungen! Hören Sie auf damit, sonst rufe ich die Polizei.” (Begrenzendes Konfrontieren). In erster Linie geht es dann aber darum, das Opfer aus dem Magnetfeld des Täters heraus zu ziehen (Schutz).
Das sagt der Zugbegleiter
Peter Hohmann ist seit 25 Jahren Zugbegleiter, seine Stammstrecke ist der Regionalzug von Fulda nach Frankfurt am Main, anderthalb Stunden hin, anderthalb zurück. Die meisten Fahrgäste kennt er inzwischen, sie pendeln regelmäßig. Hohmann macht seinen Job gerne, und er ist beliebt: Im vergangenen Jahr wurde er auf Vorschlag seiner Fahrgäste zum beliebtesten Eisenbahner Deutschlands gewählt. Doch auch er hat ständig mit Leuten zu tun, die sich nicht benehmen: „Die Hemmschwelle ist heute geringer als früher“, sagt er. „Fahrgäste machen sich breit auf vier Sitzen, andere müssen stehen. Sie hören laut Musik und schlafen dabei. Sie suchen Streit oder pöbeln.“
Bei seinem Arbeitgeber macht er zwar regelmäßig Deeskalations-Schulungen. Aber der 47-Jährige sagt: „Man braucht Fingerspitzengefühl. Strikt durchs Leben zu gehen, bringt heutzutage nichts. Ich gehe immer locker an die Sache ran, spreche die Fahrgäste mit Humor oder einem Spruch an.“ Sein Erfolgsgeheimnis: „Ich gebe den Leuten das Gefühl von Verbindung, schnappe Stichpunkte auf und komme darauf zurück: ‚Guten Morgen, wie geht’s? Wie war der Urlaub?’, wenn jemand braun gebrannt ist.“
Peter Hohmann hat es sich zum Prinzip gemacht, dass ihn jeder im Zug ein Mal sieht. Er sagt: „Mit Kommunikation kannst du viel machen. Eskalation ist das Schlimmste.“ Wenn jemand Streit sucht, schon ankommt mit Musik ohne Kopfhörer, versucht er den, mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: „Was hast du denn da Gutes? Sing doch mal was für uns. Du bist doch bestimmt so ein Rapper. Hier, du kannst mein Mikro haben.“
Oft nimmt er dem Fahrgast damit den Wind aus den Segeln, aber für Mitreisende bieten sich solche Ansagen natürlich weniger an. Dennoch kann man von Hohmann etwas lernen. Während bei Kollegen in der Woche zweimal Polizeieinsätze sind, musste Peter Hohmann noch nie von seinem Hausrecht Gebrauch machen, obwohl an seiner Strecke der Jugendarrest Gelnhausen liegt und Jungs von dort häufig bei ihm mitfahren. Benimmt sich einer von denen mal daneben, setzt sich Hohmann schon mal dazu und fragt, was los ist. Manche packen dann aus, erzählen von ihren Problemen, Familiengeschichten.
Der Bahner sagt: „Es bringt gar nichts, gleich von 0 auf 180 zu sein. Gucke, was dein Gegenüber für ein Typ ist. Und versuche, seine Sprache zu finden. Versuche offen und mit Humor auf die anderen zuzugehen. Irgendwer schmunzelt oder reagiert immer. Mein Rat: Begib dich niemals wegen Lappalien in Gefahr.“
Das sagen die KR-Leser
Gut 80 KR-Leser:innen haben Ratschläge für Sabrina geschickt. Die Bandbreite der Reaktionen ist groß. Volker rät dazu, locker zu reagieren und selbst mitzumachen. Er sagt: „Das was hier als rücksichtslos definiert wird, ist in anderen Ländern Standard. Das ist maximal akustisches Unwohlsein. Und das kann man aussitzen, wenn man es möchte.“ Christian geht so vor: „Ich warte erstmal ab, checke meine Gedanken und Gefühle, versuche dann einzuordnen, inwiefern ich mich gerade angemessen aufrege oder ob ich vorher eh schon genervt war. Gegebenenfalls etwas durchatmen, aber im Zweifel lieber öfter mal was sagen.“
Sigrid stört Rauchen und lautes Musikhören. Je nach ihrer persönlichen Verfassung sagt sie das der Person direkt. Ihr Rat: „Sich immer fragen, ob sich der Aufwand lohnt, und ob man mit der erwarteten Reaktion umgehen kann.“ Nach Ansicht von Adrian ist es wichtig, das Gegenüber einzuschätzen: „Finde ich einen Zugang zu der Person? Wenn ja, einen empathischen Tonfall finden, und die Person bitten, ob sie nicht die Sache anders machen könnte. Nicht konfrontativ, nicht bloßstellen. ‚Könnt ihr Eure Musik bitte draußen oder mit Kopfhörern hören? Ich habe gerade einen langen Tag hinter mir.‘“ Oft hilft schon ein intensiver Blick, sagt Sonja, die sich besonders über Füße auf Sitzflächen ärgert: „Wichtig: Stelle dir vor, dass viele Menschen in dem Moment einfach nicht daran denken.“
Elisa findet es hilfreich, „sich vorher eine Exit-Strategie zu überlegen, wenn der Angesprochene einen abblitzen lässt – das kommt ja sehr oft vor. Wie kommt man dann mit Würde aus der Situation heraus? Steigt man aus, spricht man den Busfahrer oder andere Fahrgäste an oder lässt man sich auf einen Konflikt ein? Das vorher für sich durchzuspielen, hilft mir.“ Svenja sagt oft nichts, weil sie „nicht dieser typische deutsche Spießer“ sein möchte. „Da man niemals erreichen wird, dass alle das gleiche Level an Rücksicht anwenden, sollte man wohl pragmatisch lernen, sich nicht provozieren zu lassen. Mit (Hör-)Buch, Musik oder ähnlichem fällt es mir leichter, Wegzeiten für mich zu nutzen.“ Auch Daniel sagt: „Versuche die Verantwortung etwas abzustreifen und solche Situationen – wenn es nicht massiv ist – nicht an dich heran zu lassen.“
Aber das gelingt natürlich nicht immer. Entsprechend schildert Mieke folgendes Erlebnis: „Heute stellte sich mir ein älterer Mann in den Weg, als ich mein Fahrrad wie einen Roller auf dem Gehweg nutzte. Mir war bewusst, dass das nicht korrekt ist; ich hatte es eilig. Um niemanden zu gefährden, war ich zur Hälfte abgestiegen und rollte die letzten Meter nur noch aus. Als ich ihm dankte, schrie er: ‚Du alte Sau.’ Ich fragte ihn, ob er kein Benehmen habe. ‚Das hast Du nicht, asoziales Pack’, rief er. Ich grölte hinterher: ‚Das bin ich gerne, wenn mich das von Ihnen unterscheidet.’ Ich denke, ich war recht schlagfertig und dennoch bin ich sehr unglücklich über meine Reaktion. Letztlich habe ich seine Sprache gesprochen; das gefällt mir nicht.“
Das letzte Wort gehört deshalb Claudia, die sagt: „Es stört mich, dass sich viele Menschen darüber beschweren, dass alle immer egoistischer und rücksichtloser werden – und ihre Lösung dafür: genauso reagieren. Ich spüre es besonders beim Radfahren. Viele schauen nicht nach hinten beim Überholen, halten nicht an, wenn eine Straßenbahn hält – beschweren sich aber selber über Rücksichtslosigkeit. Ich denke in erster Linie sollte jeder bei sich anfangen!“
Mit bestem Dank an alle KR-Mitglieder, die sich beteiligt haben: Roland, Christian, Volker, Michael, Mieke, Axel, Christian, Daniel, Käthe, Sebastian, Jeanne, Sigrid, Ilka, Adrian, Martin, Axel, Anne, Eva, Elisa, Julia, Julia, Therese, Svenja, Petra, Rike, Sascha, Nicole, Lena, Markus R., Simone, Verena, Steffie, Johannes, Katalena, Alexander, CB, Katja, Christoph, Silke, Cynthia, Mane, Tina, Barbara, Maik, Siegfried, Denise, Stefanie M., Louis, Claudia, Bernd, Valentin, Clemente, Francesca, Eva, Jens, Thomas, Wendelin, Claudia, Grete, Rika, Richard, Martin, Sabrina, Michael, Rudolf, Marianne, Frank, Thomas, Anja, Tanja, Guenter, Marie-Pascale, Peter Cornelius, Fahrgastverband PRO BAHN, Landesvorsitzender Berlin-Brandenburg, Jule, Günter, Maren, Sonja, Sarah, Daniel, Katharina und an Sabrina für ihre Frage.
Welche Frage soll ich als nächste beantworten? Stimme jetzt ab.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.